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Postmoderne Gesellschaft: Wertewandel, Individualisierungs - und

6.1 Postmoderne Gesellschaft: Wertewandel, Individualisierungs- und Pluralisierungstendenzen

Public Viewing wird in dieser Ausarbeitung als eine Erscheinung betrachtet, die ihren Ursprung z.T. in der sich wandelnden Gesellschaft hat . Ziel dieses Abschnittes ist es, die sozialen Voraussetzungen für die Entwicklung des Phänomens zu diskutieren. In diesem Sinne werden im Folgenden die Diskurse des Wertewandels, der Individualisierung und Pluralisierung eruiert und in ihrer Bedeutung für die Beliebheit des gemeinsamen Fernsehens erörtert.

Bei einem Blick in die wissenschaftliche Literatur erhält man den Eindruck, dass Individuen in westlichen hoch entwickelten Gesellschaften in einer Varianz von Sozialsystemen zu leben scheinen. Bezeichnungen wie Leistungsgesellschaft, Wohlstandsgesellschaft, Risikogesellschaft, Mediengesellschaft, Erlebnis-gesellschaft oder eben postmoderne Gesellschaft sind nur einige der anzutreffenden Schlüsselbegriffe. Sie beziehen sich jeweils auf verschiedene Schwerpunkte und Blickwinkel, haben aber den gleichen Aussagekern (vgl.

Göring, 2006, S. 168; Heinemann, 2007, S. 317f.). Diese „Gesellschafts-diagnosen“ (Göring, 2006, S. 156) versuchen die Wandlungsprozesse unserer Gesellschaft zu beschreiben.24 Die Vertreter der Postmoderne versuchen diesen Entwicklungen gerecht zu werden und gehen z.B. davon aus, dass es nicht eine rationale Theorie zur Erklärung der Verhältnisse gibt, sondern dass eine Vielfalt nebeneinander existierender Perspektiven besteht. Das heißt, dass die Wirklichkeit nur annäherungsweise erfasst und interpretiert werden kann (vgl.

Ritzer, 1997, p. 3). So bieten postmoderne Theorien keine rationalen Lösungen für gesellschaftliche Probleme an, wie es bspw. Theoretiker der Moderne versuchen (vgl. ebd., p. 6). Sie gehen vielmehr davon aus, dass durch die Individualisierungstendenzen häufiger Emergenz auftritt. Sawyer (2005, p. 193) schlägt deshalb vor, dass Erforschen von sozialer Emergenz immer auf auf drei gleichberechtigten Ebenen stattfinden sollte: Individ uen, die Kommunikation zwischen diesen und makrosoziologischen Gruppendynamiken.

24 Grundlegende Literat ur zum Wertewandel, seinen Bedingungen und der Ent wicklung find et sich neben den Klassikern von Inglehart (1977) und Klages (1984) u.a. bei Horx und Opaschowski (2006; 2008). Der Umschwung der US -amerikanischen Gesellschaft wird z.B. von Godbey (1993) erörtert. Weiterführende Informationen zu soziologischen G egenwartsmodellen finden sich u.a. in Beck (1997), Göring (2006) und Schulze (1997).

Zentrales Element und gemeinsamer Nenner der zahlreichen gesellschaftlichen Modernisierungsmodelle ist der schrittweise Umschwung von traditionellen Handlungsweisen, Mustern und Strukturen hin zu teilweise völlig neuen Sinnzusammenhängen. Die sozialen Werte wandeln sich. Traditionell vorhandene Orientierungswerte wie Klassen, Schichten und soziale Gruppen mit ihren vorgegebenen Rollenstrukturen und Verhaltensnormen verblassen. Ein jedes Individuum steht für sich allein, es muß sich seine eigenen, individuellen Strukturen schaffen. Pluralisierungstendenzen beschreiben die Auflockerung der historisch gewachsenen Gla ubens- und Sozialstrukturzwänge und die damit einhergehende Auflockerung des Zusammenlebens und des Gemeinschaftshandelns (vgl. Vester, Oertzen, Geiling, Hermann und Müller, 1993, S. 38f.).25 Das heißt allerdings nicht, dass die alteingebürgerten Gesetzmäßigkeiten gänzlich ihren Wert verlieren, es erfolgt vielmehr eine Bedeutungsübertragung. Vielfach, z.B. von Gebauer (2002, S. 166), Heinemann (2007, S. 321), Keupp (1995, S. 50) oder Schulze (1997, S. 17) wird postuliert, dass das soziale Miteinander keine verbindenden Werte mehr hat und keine besonderen Körpereigenschaften. Die Orientierungsmöglichkeiten an sozialen Gruppen wie Alter, Geschlecht oder die Zugehörigkeit zu einem bestim mten Beruf schwinden, und Instanzen wie Tradition, Familie und Beruf verlieren allmählich ihre sinnstiftende Funktion.

Der Einzelne ist also, als Individuum gezwungen, sich eigene Strukturen zu suchen bzw. zu schaffen:

„Die Individualisierungstheorie beschreibt und analysiert den tiefgreifenden Strukturwandel moderner Gesellschaften als einen, der sich in der Auflösung traditioneller Klassen- und Sozialbindungen zeigt und dabei dem Individuum weit mehr Freiheiten und Aufgaben als früher zumutet“ (Beck, 1997, S. 261).

Es wird vielerorts die Auffassung vertreten, dass der Einzelne im Rahmen der Individualisierung die Möglichkeit verliert, sich selbst auf der Grundlage von allgemein gültigen Modellen sinnstiftender Wirklichkeitskonstruktionen zu definieren (vgl. Bette, 1993, S. 36). Verhaltensweisen, ebenso wie Werte und Einstellungen von Einzelpersonen scheinen in zunehmendem Ausmaß auf

25 Eine interessante Weiterentwicklung wäre an dieser Stelle der Diskurs der Pluralisierung von Lebensstilen, der u.a. von B ordieu und Vester geprägt wurde (vgl. Spellerberg, 1996, S. 54). Um eine stringete A rgument ation nicht zu gefährden, soll es an dies er Stelle aber lediglich bei dieser Anmerkung bleiben.

6.1 Postmoderne Gesellschaft: Wertewandel, Individualisierungs - und Pluralisierungstendenzen

autonomen Entscheidungen der Individuen zu basieren (vgl. Friedrichs, 1998, S.

13). Diese Entwicklung führt dazu, dass das Individuum in starkem Maße selbst für seine eigene Identitätsstiftung sorgen muss. Für diesen Zweck können nun entweder alte Sinnzusammenhänge, wie die Religiosität (vgl. Opaschowski, 2008, S. 572) eine neue Wertigkeit erfahren oder sich neue Wertvorstellungen als identitätsstiftend erweisen, wie z.B. die eigene Selbstverwirklichung (vgl. Keupp, 1995, S. 50).

Da liegt es nahe, Orientierung in einem Sozialsystem zu suchen, in dem es noch wahrnehmbare Kategorien und Strukturen gibt (vgl. Guttmann, 1986, S. 177;

Beck, 1997, S. 140; Digel & Burk, 2001, S. 23). Der Sport, als eine „Eigenwelt“

(Güldenpfennig, 1996, S. 39), aber auch wiederum als ein Spiegel der Gesellschaft, ist bereits im antiken Griechenland immer auch soziale Darstellung gewesen. Es wird vielfach betont, dass bereits damals sportliche Wettkämpfe ebenso wie Theateraufführungen soziale Darstellungen, in denen Gemeinsamkeit gebildet und in regelmäßiger Wiederholung bekräftigt wurde, waren. Nach Gebauer (2002, S. 158-166) sind die Olympischen Spiele somit nicht nur ein Teil der griechischen Kultur, sondern auch ein wichtige Quelle der sozialen und nationalen Repräsentation.26 Die sich regelmäßig wiederholenden sportlichen Wettkämpfe sind ein wichtiges Mittel, um Gemeinschaft fühlbar und sichtbar zu machen.

Marsh und Morris (1989, p. 113) sprechen dem Sport, insbesondere dem sportlichen Spektakel, auch heute noch einen rituellen Status zu. In diesem Sinne kann Sport sogar als religiöser Ersatz gesehen werden. Sie berufen sich auf die Anthropologin Cheska, die in den modernen sportlichen Ritualen ähnliche Komponenten wie in alten Stammeskulturen erkennt. Genannt werden können hier die regelmäßige Wiederkehr, die Regelförmigkeit, die Dramatik und Symbolik der sportlichen Rituale. Sie strukturieren, sie stereotypisieren, und sie wiederholen. Der moderne Sport selbst ist ein großes Ritual, dem der Einzelne in sozial unsicheren Situationen gerne folgt (vgl. Krüger, 1990, S. 141).

“The dream lived within the rituals and ceremonies of football fandom c annot be anything other than an illusion, a self-collusive infatuation, of disassociated individuals living in late modern society“ (Manzenreiter & Horne, 2007, p. 575).

Erinnern wir uns an das schwarz-rot-goldene Farbenmeer während des

26 Zumindest für all jene, die ein minimales Interesse am Sport besitzen (vgl. ebd., S. 162).

Sommers 2006. Haben wir nicht alle durch das Tragen eines Trikots, durch das Schwenken einer Fahne oder Ähnlichem einen kleinen Beitrag zum postulierten

„gesunden Patriotismus‟ geleistet? Oder darf dieses „Nach-außen-Tragen‟ der Gefühle gar nicht ausschließlich in diesen rituellen Rahmen gepresst werden?

Zeigt sich nicht vielmehr die in der Postmoderne so typische Multikausalität?

Vielleicht präsentiert sich hier an dieser Stelle vielmehr der anfangs bereits angedeutete Wertewandel: Die Fußball-Weltmeisterschaft 2006 als riesiges Straßenfest, ein Spaß für jedermann?

Abb. 5: Tradit ionelle Arbeitswerte und neue Freize itwerte ( in Anlehnung an Becker, 2000, S. 12)

Die grundlegende Aussage, der eher plastisch gehaltenen Abb. 5 ist kaum von der Hand zu weisen: Der Stellenwert der Arbeit mit den dazugehörigen Werten geht zugunsten der Freizeit zurück. Allgemein gesagt: Die Person, das Individuum an sich rückt mehr in den Vordergrund, während die Gemeinschaft in den Hintergrund gerät (vgl. Schlicht & Strauss, 2003, S. 122). Godbey (1993, p. 52) sieht in diesem Prozess die Grundlage für die Identitätssuche, welche sich im Streben nach Erlebnissen und Erfahrungen ausdrückt. Beck (1997, S. 18) fasst diese Begriffe zusammen in „immaterielle Gesichtspunkte der Lebensqualität“, zu denen auch der Spaß und das Zusammensein-mit-Freunden gehört.27

Den Gedanken der verschiedenen Gesellschaftsmodelle wieder aufne hmend, kann der Blick auf den Sport und seine Phä nomene nur aus der jeweiligen

27 Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass Abb.8 bewusst eine Vereinfachung der gesellschaftlichen Tendenzen darstellt. Der E ventisierung kont räre Entwicklungen, wie sie bspw.

Opaschowski (2008, S. 566 -615; 640-650) beschreibt und grafisch zusammenfasst (2008, S. 589) sind durchaus auch geläufig. In diesen Sozialentwürfen bilden gerade die verlorengeglaubten und –gegangenen Strukturen wie Familie und Tradition, genauso wie die Werte von Zufriedenheit, Glück, Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit etc. das Ziel.