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Erlebnis und Gesellschaft

Anfang der 1990er Jahre deklarierte Gerhard Schulze als eine Folge des Übergangs zur Überflussgesellschaft die Erlebnisgesellschaft. Es wird vielfach (vgl. u.a Bachleitner, 2004; Heinemann, 2007, S. 325; Köck, 2005, S. 6.) davon ausgegangen, dass in dieser Gesellschaftsform verschiedene und individualisierte Formen des psychischen und physischen Genusses das soziale Leben dominieren. Mögliche hedonistische Lebensweisen, in denen das Leben im Hier und Jetzt generell wichtig ist, nehmen in den Gedanken von Schulze zur Erlebnisgesellschaft einen wichtigen Platz ein. Dabei wird in der wissen-schaftlichen Literatur (s. Kap. 6) die Meinung vertreten, dass der Sport mit seinen vielfältigen Möglichkeiten des Erlebens, der Selbstverwirklichung und damit der Vermittlung eines „unmittelbaren Lebensgefühls“ eine strukturgebende Bedeutung haben kann. Im Folgenden wird die Schere der theoretischen Erklärungsansätze weiter geöffnet. Es gilt die Rolle der erlebnisorientierten postmodernen Gesell-schaft für das Phänomen Public Viewing auszuloten.

Schulze (1997, S. 15) bezeichnet sein theoretisches Modell als „ein graduelles Prädikat, das die im historischen und interkulturellen Vergleich relativ große Bedeutung von Erlebnissen für den Aufbau der Sozialwe lt“ hervorhebt. Vielerorts wird darauf hingewiesen (vgl. Opaschowski, 2000, S. 11-31, 2001; Pfaff, 2002a, S.

28; Scheurer, 2003, S. 50-53 [u.a.]), dass die gesellschaftlichen Rahmen-bedingungen der westlichen Industrienationen den Hang zur Erlebnisorientierung verstärken. Neben der gestiegenen Lebenserwartung wird bspw. die damit einhergehende prozentual geringere Lebenszeit genannt, die mit Arbeit verbracht wird. Deutlich ersichtlich ist auch die Verschiebung des Stellenwertes der Arbeit.

Die ehemals hohe Wertschätzung der Arbeit scheint –so wird betont- zu Gunsten von Freizeit und Konsum in den Hintergrund zu rücken. Die traditionellen Milieus lösen sich auf, deshalb sucht man nach neuen Orientierungspunkten. Schulze (2007, S. 310) geht von der Leitthese a us, dass die Gesellschaft in „kollektiven Lernschritten auf einem Pfad der Subjektorientierung“ vorangeht. Die Subjektorientierung rühre von der seit den fünfziger Jahren anhaltenden Steigerung der Möglichkeiten her, die sich einem jeden von uns bieten. Der Lebensmittelpunkt der Menschen sei weniger von äußeren (über-)lebenswichtigen Handlungen bestimmt. Dies lasse die Aufmerksamkeit immer weiter von außen

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nach innen wandern, so Schulze. Das Individuum orientiere sich also nach innen, ziehe die eigenen Wünsche und Bedürfnisse zur Befriedigung heran (vgl. auch Weiermair, 2006, S. 14).72 Bachleitner (2004, S. 16) sieht die Erlebnisorientierung als Folge des Individualisierungsprozesses der postmodernen Gesellschaft.

Erlebnisse würden dem Einzelnen als emotionale Qualitäten in Aussicht gestellt, die letztlich eine Anwort auf das Massendasein der Postmoderne darste lle.

Können nun aber emotionale Erlebnisse dem Einzelnen einen Ersatz für ehemals äußere Wegweiser wie Schichtmitgliedschaft, Beruf, Familie oder regionale Zugehörigkeit bieten? Können emotionale Erlebnisse sozialstrukturelle Orientierungshilfen bieten?

Schulze (1997, S. 54) definiert die Erlebnisgesellschaft als

„Gesellschaft, die (im historischen und interkulturellen Vergleich) relativ stark durch innenorientierte Lebensauffassungen geprägt ist. Die Untersuc hung der Erlebnisgesellschaft zielt auf Gemeinsamkeiten ab, die sich unter dem Einfluss innenorientierter Lebensauffassung entwickeln.”

„Erlebnisgemeinschaften“, so schreiben Müller und Scheurer (2004, S. 3), die sich etwa für den Besuch eines Public Viewing verabreden oder sich dort erst kennen lernen, fungieren als die neuen Orientierungspunkte (vgl. auch Grötsch, 2006, S.

61ff.). Soziale Bedürfnisse und Erlebnisse haben also eine ganz neue gesellschaftliche Bedeutung erhalten (vgl. ebd. S. 51; Weiermair, 2006, S. 16).

Auch Wöhler (2004, S. 221) sieht die Bindung des Individuums an die gesellschaftlichen Strukturen mittels Erleben. Die heutige Gesellschaft lebt erlebnisorientiert. Schulze (1997, S. 41f.) betont, dass das Bedürfnis nach Erlebnissen der Oberbegriff für die umfassende Einste llung ist. Dieses impliziere kleine Alltagsfreuden genauso wie den Konsum expliziter Erlebnisangebote. Er könne aber auch weit gefasst wie eine Lebenseinstellung gemeint sein kann.

Erlebnisse sieht er nicht bloß als Begleiterscheinung des Handelns, sondern als dessen hauptsächlichen Zweck an. Dies geschehe, so führt er weiter aus, als Gegenstand der Handlungsplanung, in voller Absicht des Individuums. Schulke (2007, S. 46) sieht den Public Viewing-Besucher als ein Art feierfreudigen, dem emotionalen Erleben zugewandten Weltbürger, der offen gegenüber neue Medien ist und den die ungezwungene, nicht bindende Atmosphäre eines offenen Marktplatzes anspricht.

72 Grötsch (2006, S. 51) kreiiert in diesem Zusammenhang den Begriff „Selfbewusstsein‟.

Scheurer (2003, S. 86) gibt an, dass die verstärkte Erlebnisorientierung besonders im Freizeit- und Reiseverhalten zutage tritt, da diese Bereiche durch einen hohen Grad an Handlungs- und Entscheidungsfreiheit definiert sind. In der Freizeit steigen hedonistische, auf innere Bedürfnisse gerichtete Werte, wie Spaß mit anderen gemeinsam erleben, Genuss und die Freude an Sozialkontakten (s. auch Abb. 5). Zudem reicht der Erwerbslohn bei vielen immer weniger für große und lange Urlaubsreisen. Pfaff (2002a, S. 28) sieht in der Kombination der genannten Punkte die Möglichkeit, dass kurze Ausflüge bzw. Ausflüchte aus dem Alltag, die am Wochenende oder an einem Abend erlebt werden können, in der Beliebtheit steigen. In diesem Aspekt kann ein weiterer Ansatzpunkt für kommerziell gesteuerte (Sport-)Erlebnisse gesehen werden. So betont Opaschowski (2006, S.

241): „Sport dient altersher der Unterhaltung („disportare“ = sich zerstreuen) “.

Bachleitner (2004, S. 17) weist auf den abwechslungs - und aufregungsarmen sowie meist unkörperlichen Arbeitsalltag der Postmoderne hin. Demnach eignet sich gerade der Sport als Pendant.

Was verstehen wir aber als Erlebnis? In der wissenschaftlichen Literatur finden sich einige Definitionsversuche, deren Eindeutigkeit aber immer wieder an der nicht trennscharfen Schnittlinie zu dem Begriff Emotion scheitert. Trotz der Schwierigkeit, eine terminologische Trennung vornehmen zu können, muss an dieser Stelle eine Abgrenzung erfolgen. So ist eine Tendenz zu erkennen, nach welcher Emotionen in der Gegenwart gelagert sind (s. Kap. 9.1), und Erlebnisse oftmals um vorheriges Wissen angereichert erlebt werden (vgl. z.B. Grötsch, 2006, S. 50). Wie Emotionen, können auch Erlebnisse durch spezifische Veränderungen der externen Umwelt ausgelöst werden. Müller und Scheurer (2004, S. 8f.) nennen hier soziale Umweltreize genauso wie Farben, Töne oder Gerüche. Sie können aber auch eine Reaktion auf innere Reize wie Körperempfindungen oder bzw. und kognitive Prozesse wie Bewertungen darstellen. Grötsch (2006, S. 53) postuliert, dass im „Spannungsbogen zwischen Innensteuerung und Außensteuerung der Emotionen“ das Potential für Erlebnisse läge. Es darf jedoch nicht vergessen werden, dass Erlebnisse als Folge von Emotionen Konstruktionen sind, die individuell und sozial emotional wahrgenommen werden. Resultierend aus den bisherigen Erkenntnissen muss in dieser Arbeit die Auffassung vertreten werden, dass Erlebnisse nicht per Dienstleistung herstellbar sind (vgl. auch Romeiß-Stracke, 2006, S. 43). Nach Müller und Scheurer (2004, S. 1) können aber

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besonders geeignete äußere Bedingungen geschaffen werden, also z.B. ein Ereignis, welches die Entstehung von Erlebnissen als Konsequenz begünstigt.

Diesen Vorgang versteht Schulze (2000, S. 20; 2007, S. 312) als

„Erlebnisrationalität“:

„Erlebnisrationalität bewährt sich manchmal gut, manc hmal nicht, und die beglückendsten Momente im Leben sind diejenigen, die man überhaupt nicht beabsichtigt hat.”

Einfache Alltagssituationen beschreiben diesen Ansatz. So lässt sich ein Besuch im Wellnesscenter mit vielen entspannenden Behandlungen buchen, aber ob sich der Einzelne danach wohler fühlt, kann er nur für sich selbst entscheiden. Im schlimmsten Fall kann sich die Massage so unangenehm anfühlen, dass der Besucher den Entspannungstag als Negativerlebnis einordnet. Natürlich ist das auch beim Public Viewing in dieser Form möglich. Ein Veranstalter kann noch so viele Voraussetzungen für einen angenehmen aufregenden Besuch getätigt haben, wenn ein Zuschauer Angst vor Menschenmassen hat, wird er sich auf einem großen Fan Fest nicht wohl fühlen. Etwas anderes wäre dann schon wieder ein Biergarten o.ä.. Müller und Scheurer (2003, S. 15) führen folglich weiter aus, dass ein Jeder maßgeblich selber daran beteiligt ist, ob ein Ereignis –oder eine Veranstaltung- zu einem positiven Erlebnis wird. Somit ist es nicht möglich, Erlebnisse zu produzieren, es können jedoch günstige Rahmenbedingungen geschaffen werden (vgl. auch Grötsch, 2006, S. 50f.). Sie (2003, S. 4) gehen davon aus, dass Erlebnisse Ereignisse voraussetzen, die aber erst durch Erkenntnisse zur persönlichen Erfahrung werden. Daraus ergeben sich die vier „E‟

der Erlebnisgesellschaft:

- Ereignis - Erlebnis - Erkenntnis - Erfahrung.

Demnach sind emotionale Erlebnisse nur über Ereignisse zu erreichen. Diese führen zur Erkenntnis, und über die Erkenntnis gelangt der Gast zur Erfahrung.

Auch Schulze (1997, S. 35) ist der Meinung, dass Erlebnisse in singuläre subjektive Kontexte eingebunden sind, sich diese aber durch Reflexion verändern und verstärken lassen. Es gibt verschiedene Ansätze zum Modell der Eindrucksbildung. Schulze (1997, S. 43f.) verankert die Konstitution von

Erlebnissen fast ausschließlich im Subjekt. Was von außen kommt, wird erst durch die Verarbeitung zum Erlebnis: „Schöne Erlebnisse verlangen Eigenbeteiligung:

Erlebnisarbeit“ (ebd., 2000, S. 21). Ebenso sieht Csikszentmihalyi (2003, S. 103-106) in seinen Ausführungen über das Flow-Gefühl73, dass die Wahrscheinlichkeit des Eintretens von Flow aus einer strukturierten Gegebenheit heraus höher sei (vgl. auch Brunner-Sperdin, 2006, S. 26-33). Er beschreibt Sport und Rituale als Konstrukte, die den Menschen in einen geordneten und damit angenehmen Bewußtseinszustand versetzen würden. Dennoch gehöre eine Eigenaktivität dazu, die den Einzelnen in eine andere Realität, in einen anderen Bewußtseinszustand versetze. Günther (2006, S. 58) schreibt, dass der Mensch in der Lage ist, Ereignisse, die nicht in den Erlebnisrahmen zu passen scheinen, auszublenden, während andere Ereignisse wiederum vom Individuum in den Erlebnisrahmen eingebaut werden. Diese Vorgänge sind als „Erlebnisarbeit‟ zu verstehen. Nach Schulze (1997, S. 35) wird sie als „die Absicht, die Umstände so zu manipulieren, dass man darauf in einer Weise reagiert, die man selbst als schön reflektiert“

definiert. Wöhler (2004, S. 220) spezifiert:

„Im Empfinden, d.h. der emotionalen Widerspiegelung der Realität, erlebt das Indivi-duum zugleich sein Ich und Sich mit der Welt bz w. der Gesellschaft. Der Bezug zur Gesellschaft stellt sich demzufolge durch Erleben her, wobei das subjektive Empfinden darüber entscheidet, welche Gesellschaft bzw. gesellschaftlich vorgehaltene Welt integriert wird.”

Schulze (1997, S. 44ff.) erörtert drei Elemente der Erlebnistheorie der Verarbeitung, die hier am Beispiel Public Viewing illustriert werden sollen:

1. Subjektbestimmtheit 2. Reflexion

3. Unwillkürlichkeit.

Unter Ersterem ist zu verstehen, dass ein Ereignis erst durch die Verbindung mit einem subjektiven Zusammenhang zum Erlebnis werden kann. Wichtig ist, dass dieser Kontext, wie er für die Einzelperson in dem Augenblick ist, nicht wieder so sein wird. Darüber hinaus führt die Verarbeitung zu einzigartigen Erlebnissen.

Dieses bedeutet also, dass ein jeder Besucher Public Viewing anders wahrnimmt,

73 Csikszentmihalyi (2003, S. 103) definiert Flow als „ein Gefühl, dass die eigenen Fähigkeiten ausreichen, eine gegebene Heraus forderung in einem zielgerichteten, regelgebundenen Handlungssystem zu bewältigen, das deutliche Rückmeldung bietet, wie gut man dabei abschneidet. Die Konzentration ist dabei so intensiv, dass keine Aufmerksamkeit übrig bleibt, um an andere unwichtige Dinge zu denken oder sich um Probleme zu sorgen“.

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ein jeder das Ereignis in seinen eigenen momentanen subjektiven Horizont einordnet. Dennoch muss in Anbetracht der Menschenmassen auf den großen Plätzen der Städte im WM-Sommer 2006 eine gewisse emotionale Erlebnis-Intersubjektivität vorhanden sein.

Mit Reflexion ist die Verarbeitungsp hase des Subjektes gemeint. Durch eigenes Erinnern an die Geschehnisse, das Kommunizieren der Empfi ndungen und die Interpretation sowie Bewertung dieser, nimmt das Ursprungsereignis an Stabilität zu. Die dritte Stufe ist die der Unwillkürlichkeit. Die hier vertretene Hypothese konstatiert, dass durch die zweite Stufe der Reflexion aus dem erlebten Ereignis etwas Neues, nämlich das Erlebnis entsteht.

Kommt man aber auf die Fragen nach der Möglichkeit von Intersubjektivität von Ereignissen bzw. Erlebnissen zurück, leuchtet es ein, dass in der Phase der Reflexion eine Menge kognitive Erlebnisarbeit auf das Individuum zukommt. Im Sinne der Reizreduktion ist der Mensch darauf ausgerichtet, sich bekannter gesellschaftlich gelernter Formen der Selbstanschauung zu bedienen. Schulze (1997, S. 53) weist darauf hin, dass in der Erlebnisgesellschaft kollektive Schemata von Einzelpersonen genutzt werden. Es werden intersubjektive Modelle gebraucht, um die eigenen kognitiven Prozesse möglichst gering zu halten. Seiner Meinung nach lässt die Frage nach gemeinsamen Erleb nissen ein Für und Wider zu. Auf der einen Seite beschreiben Personen, die eine Situation oder ein Ereignis erlebt haben, dieses im Nachhinein oft ähnlich. Andererseits sind die Begründungen, wieso sie das Ereignis so und nicht anders beschreiben, oft unterschiedlich. Wenn eine Person wiederkehrend mit Abwehr auf den Besuch eines Public Viewing reagiert, hat diese eine stabile Verbindung zwischen Public Viewing und Abwehr aufgebaut. Tritt nun diese Verknüpfung ebenso bei den Bekannten und Freunden der Person auf, ist die dem Public Viewing abgewandte Haltung in diesem Freundeskreis allen gemein. Intersubjektivität basiere zum einen auf Wiederholung und zum anderen auf der Verbindung von Zeichen und ihrer Bedeutung.

Abschließend muss gesagt werden, dass nach den Modellen der Erlebnisgesellschaft der individualisierte Einzelne geneigt ist, sich über eine innenorientierte Lebenssauffassung soziale Struktur zu verschaffen. In sogenannten Erlebnisgemeinschaften, die sich über das gemeinsame Miterleben von emotionalen Ereignissen definieren, die auch im Rahmen von Public

Viewing-Veranstaltungen denkbar sind, wird gesellschaftliche Orientierung gesucht.

Soziale gemeinschaftliche Ereignisse erhalten so einen neuen Stellenwert.

Erlebnisse sind jedoch nicht per se herstellbar, sondern nur durch individuelle Erlebnisarbeit erlebbar. Trotz dieser Eigenartigkeit scheint es eine gewisse Erlebnis-Intersubjektivität z.B. beim Public Viewing zu geben.