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2 Die Grundlagen regionaler Erreichbarkeitsmodelle

2.1.3 Kategorien von Erreichbarkeitsindikatoren

2.1.3.3 Personenbasierte Erreichbarkeitsindikatoren

Standortbasierte Erreichbarkeitsindikatoren weisen zwei zentrale Nach-teile auf: Erstens implizieren sie, dass sämtliche Wege am Wohn standort beginnen oder enden (Kwan 1998, S. 195ff.). Eine Verknüpfung von Ein-zelwegen zu Aktivitätenketten erfolgt nicht, obwohl in deutschen Städ-ten rund 30 % aller Ausgänge (vgl. Glossar) der Durchführung von mehr als einer Aktivität dienen (Ahrens et al. 2015b, Tab. 13.2). Dies führte ge-rade in peripheren Regionen zu einem Unterschätzen der Erreichbarkeit

2 Die Grundlagen regionaler Erreichbarkeitsmodelle

(Richardson & Young 1982, S. 80; Widener et al. 2015, S. 77ff.). Zweitens wird bemängelt, dass raumzeitliche Restriktionen keine Rolle spie-len (Kwan 1998, S. 196). Diese Restriktionen führen jedoch dazu, dass Personen einzelne Gelegenheiten nicht oder nur mit einem sehr großen Aufwand innerhalb ihrer täglichen Routinen erreichen können. Der Vor-teil personenbasierter Erreichbarkeitsindikatoren ist die Befriedigung theoretischer Anforderung hinsichtlich zeitlicher und individueller Restriktionen (Geurs & van Wee 2004, S. 134).

Die Personenbasierte Erreichbarkeit bemisst sich über die Menge und Dauer aller Aktivitäten, die an einem Tag unter Berücksichtigung individueller Zeitbudgets und einer spezifischen Verkehrsmittelnutzung durchführbar sind (Geurs & van Wee 2004, S. 129; Lei & Church 2010, S. 287). Die zugrundeliegenden Messkonzepte gehen zurück auf die Zeit-geographie von Hägerstrand (1970; 1989), welche Bewegungen im Raum als eine Funktion aus Zeit und Standorten beschreibt. Demnach spannt sich um jedes Individuum ein potenziell erreichbarer Aktivitätsraum. In einer Untersuchung am Beispiel von Columbus (USA) wurden insgesamt 30 Indikatoren der standörtlichen oder personenbasierten Erreichbar-keit verglichen (Kwan 1998). Die standortbasierte ErreichbarErreichbar-keit wurde über Kumulations- und Potenzialindikatoren abgebildet, die personen-basierte Erreichbarkeit über potenzielle Aktionsräume. Die Ergebnisse zeigen eine starke Korrelation zwischen den Indikatorwerten der beiden Messkonzepte. Zwischen der standörtlichen und der individuellen Per-spektive bestehen jedoch erhebliche Unterschiede (ebd., S. 201ff.). Die Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, dass die Erreichbarkeit von den Standorten feststehender Aktivitäten (Ankeraktivitäten) und der Größe des Zeitfensters zwischen einzelnen Aktivitäten abhängt (Kwan 2008, S. 113).

Die Berechnung von Wegeketten im Kontext von personenbasierten Erreichbarkeitsindikatoren ist auch aufgrund der großen Überschnei-dung mit aktivitäts- und agentenbasierten Verkehrsnachfragemodellen relevant (Pinjari & Bhat 2011). Es stellt sich die Frage, ob auf Wegeketten basierende Erreichbarkeitsindikatoren auch in der Verkehrsmodellierung zum Einsatz kommen können. Da in diesen Modellen jedoch eine we-sentlich geringere und auf Verkehrszellen basierende räumliche Auflö-sung üblich ist, ist die Übertragbarkeit bisher noch erschwert.

2 Die Grundlagen regionaler Erreichbarkeitsmodelle Joint accessibility

Eine Variante personenbasierter Erreichbarkeitsindikatoren ist die joint accessibility bzw. die verbundene Erreichbarkeit (Neutens et al. 2008).

Sie bildet die Leichtigkeit ab, mit der sich mindestens zwei Personen an einem Ort treffen können, um dort einer gemeinsamen Aktivität nach-zugehen. Obwohl individuelle Tagesabläufe diese Möglichkeit entschei-dend beeinflussen, werden bisher lediglich exemplarische Tagesabläufe, Wegeketten und eine geringe räumliche Auflösung berücksichtigt (ebd., S. 335).

Eine vereinfachte Form der joint accessibility ist das social inter-action potential (SIP) nach Farber et al. (2013). Das SIP gibt an, wie lange sich eine Person an einem Ort aufhalten kann, wenn Zeitbudget, Start- und Zielort vorgegeben sind. Wenn einer Person für den Weg vom Arbeitsplatz zur Wohnung insgesamt 90 Minuten zur Verfügung stehen kann berechnet werden, an welchen Standorten welche Verweildauer möglich ist, bis die Summe aus Reisezeit und Verweildauer das Zeit-budget erreicht. Das SIP basiert auf dem tatsächlichen Pendlerverhalten, spiegelt also den realen Mobilitätsbedarf wieder. In einem Rechenbei-spiel wurden die realen Pendlerverflechtungen der Region Salt Lake City (USA) auf 373 Verkehrszellen übertragen. Wenn jede Person auf ihrem Heimweg vom Arbeitsort zum Wohnort noch jeweils eine andere Ver-kehrszelle besucht, bleiben ihr durchschnittlich 11,6 Minuten für soziale Interaktionen oder Einkäufe, ohne ein Zeitbudget von 90 Minuten zu überschreiten (Farber et al. 2013, S. 494). Die Lagegunst eines Wohn-standortes gegenüber einem Arbeitsstandort ergibt sich somit aus der mittleren Verweildauer an weiteren Orten.

In regionalen Erreichbarkeitsmodellen spielen verbundene Erreich-barkeiten bisher keine Rolle. Eine Ursache ist die geringe Verallgemein-erbarkeit. Die zu treffenden Annahmen sind sehr speziell und müssen für unterschiedliche Fragestellungen angepasst werden. Hinzu kommt, dass die joint accessibility nach Neutens et al. bisher nur für wenige Gruppen und mit einer geringen räumlichen Auflösung berechnet wer-den kann. Das SIP nach Farber et al. weist zwar eine höhere Verallge-meinerbarkeit auf, erfordert aber die Berechnung und Verarbeitung von Quell-Ziel-Matrizen. Dies ist für hochaufgelöste regionale Räume nicht oder nur mit einem großen Aufwand möglich.

2 Die Grundlagen regionaler Erreichbarkeitsmodelle Space-time prisms und Wegeketten

Werden nicht nur Wege zwischen zwei Standorten als Möglichkeitsraum von Interaktionen verstanden, sondern die Gesamtheit aller täglichen Wege, kommt die Zeitgeographie (engl. time geography) zum Einsatz.

Sie basiert auf der Annahme, dass räumliche und zeitliche Faktoren den täglichen Interaktionsradius bestimmen (Hägerstrand 1970; Miller 2007).

Space-time prisms (STP) sind das wesentliche Werkzeug der Zeit-geographie und repräsentieren den Raum, den eine Person unter Berücksichtigung von Ankerpunkten (u. a. Wohnort und Arbeitsort), der Aktivitätsdauer, dem Zeitbudget, der Verkehrsmittelnutzung und der Reise zeit erreichen kann (Hägerstrand 1970; Lenntorp 1976). In Abbil-dung 11 sind zwei STP ausgehend vom Wohnstandort dargestellt, einmal ohne Ankerpunkt und einmal unter Berücksichtigung des Arbeitsplatzes.

Auf der x- und y-Achse ist das innerhalb eines Tages maximal erreichbare Gebiet abgetragen. Die z-Achse symbolisiert die Zeit und das verfügbare Zeitbudget. Wenn sich das Zeitbudget vergrößert, öffnet sich automa-tisch der Interaktionsraum. Die Steigungen auf der z-Achse ergeben sich aus den Reisezeiten im Verkehrssystem. Je geringer der Raumwiderstand, desto geringer die Steigung und desto größer der Interaktionsraum.

Ein mögliches Anwendungsbeispiel der Zeitgeographie in Erreich-barkeitsanalysen ist die Kombination unterschiedlicher Aktivitäten auf Rückwegen von Arbeitsplätzen in ländlichen Räumen. Eine erste Um-setzung in einem regionalen Modell erfolgte durch Salze et al. (2011) am Beispiel der 526 Gemeinden des Départements Bas-Rhin (FR). Bei die-sem Ansatz werden jedoch nur die Erreichbarkeitspotenziale am Wohn-ort i und am ArbeitsWohn-ort k über die Distanz zwischen i und k gewichtet.

Wegeketten werden nicht abgebildet (ebd., S. 4ff.). Ein weiterer Ansatz ist das von Widener et al. (2013) entwickelte SMIP (supermarket interaction potential). Das SMIP gibt die Aufenthaltsdauer in einem Supermarkt auf Heimwegen vom Arbeitsplatz an, ohne ein Zeitbudget von 120 Minuten zu überschreiten (ebd., S. 3). Anschließend erfolgt ein Vergleich mit der möglichen Verweildauer, wenn der nächste Supermarkt separat vom Wohnstandort angefahren wird. Die Berechnungen wurden mit einem Modell aus 359 Verkehrszellen durchgeführt. Die Arbeit konnte zeigen, dass sich die Flächen mit einer schlechten Lebensmittelversorgung reduzieren, wenn nicht nur Wege vom Wohnstandort, sondern auch

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Abbildung 11: STP für den Wohnstandort und entlang eines Pendelweges

Quelle: Wideneret al. (2013, S.2)

Opportunity landscape from home Opportunity landscape along commute Convenience store

Supermarket

Heimwege vom Arbeitsort berücksichtigt werden (ebd., S. 4ff .). Weitere Anwendungsfälle der Integration von öff entlichen Verkehrsmitteln in STP stammen von Widener et al. (2015) sowie von Liao & van Wee (2017).

Die Nutzbarkeit von STP in regionalen Erreichbarkeitsmodellen und in der praktischen Anwendung ist bisher nicht gegeben. Die große Zahl zu berechnender Verbindungen (n-zu-n-zu-n…-n) erzeugt einen hohen Rechenaufwand, welcher seinerseits durch eine hohe räumli-che Aggregation kompensiert wird. Die starke Aggregation steht der avisierten Kleinräumigkeit jedoch entgegen. Außerdem sind auf STP basierende Indikatoren nur unter Verwendung umfangreicher Daten zu ermitteln. Zu diesen gehören disaggregierte Verkehrsverfl echtungen und standortscharfe Bevölkerungsdaten. Zu hinterfragen ist außerdem, ob aus STP überhaupt Maßnahmen und Handlungsempfehlungen ableitbar sind, die sich nicht auch aus anderen Indikatoren ergeben würden.

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2.1.4 Zwischenfazit: Erreichbarkeitsindikatoren