1.3 Erreichbarkeitsinstrumente und ihre Integration in die Planungspraxis
1.3.2 Gründe für die implementation gap
Die Diskussion um die fehlende Praxisintegration liefert wichtige Er
kenntnisse für den Aufbau von Erreichbarkeitsmodellen und Erreich
barkeitsindikatoren. Wie im Abschnitt 1.3.1 ausgeführt, können Er
reichbarkeitsanalysen sowohl für konkrete Planungsfälle, als auch zur Gewinnung allgemeiner Rauminformationen eingesetzt werden. Bei der Integration in die Planungspraxis müssen aber noch zwei weitere Ebenen auseinandergehalten werden. Dies sind die Nutzbarkeit (usability) und der Nutzen (usefulness) von Erreichbarkeitsanalysen (Silva et al. 2017b;
te Brömmelstroet et al. 2014; te Brömmelstroet et al. 2016).
Nutzbarkeit und Nutzen von Erreichbarkeitsinstrumenten
Im Zuge der COST Action TU1002 6 »Accessibility Instruments for Planning Practice in Europe« wurden in den Jahren 2012 und 2013 Work
shops in 17 Städten durchgeführt, um Hindernisse zu identifizieren, die einer Praxisnutzung von Erreichbarkeitsmodellen entgegenstehen (Hull et al. 2012; te Brömmelstroet et al. 2014). Diese Hindernisse wer
den primär über die Nutzbarkeit und den Nutzen von Erreichbarkeits
instrumenten (accessibility instruments) adressiert.
Die Nutzbarkeit wird über den Grad des erwarteten Aufwandes beim Einsatz von Erreichbarkeitsinstrumenten definiert (te Brömmel
stroet et al. 2016, S. 1179). Der einfache und intuitive Gebrauch von Erreichbarkeits instrumenten hängt außerdem von den Vorkenntnissen der potenziellen Anwender ab. Nach te Brömmelstroet et al. wird die Nutzbarkeit unter anderem von der Rechenzeit, der Flexibilität, der In
teraktivität und der Nutzerfreundlichkeit beeinflusst (ebd., S. 1179). Der Nutzen beschreibt indes den zusätzlichen Wert, den ein Erreichbarkeits
instrument für eine bestimmte Planungsaufgabe liefert (ebd., S. 1180).
Der Nutzen nimmt beispielsweise zu, wenn ein solches Instrument die
6 COST (European Cooperation in Science and Technology):
http://www.accessibilityplanning.eu/reports/ (letzter Zugriff: 12.06.2019)
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Problemdurchdringung verbessert, eine gemeinsame Sprachgrundlage liefert, die Kommunikation vereinfacht oder die Effizienz einer Arbeits
gruppe erhöht (ebd., S. 1180). Es ist also zu erwarten, dass sich ein hoher Nutzen auch in planerischen Entscheidungen niederschlägt.
Obwohl die Nutzbarkeit und der Nutzen auch von den genutzten Indikatoren, Verkehrsmodi und räumlichen Auflösungen abhängen, können keine eindeutigen Empfehlungen für eine verbesserte Praxis
integration gegeben werden. So sind beispielsweise keine wesentlichen Einschränkungen in der Nutzbarkeit nachzuweisen, wenn vergleichswei
se komplexe Gravitations oder synthetische Erreichbarkeitsindikatoren verwendet werden (vgl. Abschnitt 2.1.3.2). Es wird jedoch unterstrichen, dass einzelne Indikatoren die erforderlichen Rechenzeiten wesentlich erhöhen und damit die Möglichkeit beschränken, Echtzeitberechnungen durchzuführen (ebd., S. 1185).
Silva et al. (2017a) führten im gleichen Projektkontext eine Be
fragung von 80 Entwicklern und möglichen Praxisanwendern von 24 Erreichbarkeitsinstrumenten durch. Sie zeigten, dass die Qualität der Daten und Auswertungen sowie die Art ihrer Darstellung als sehr gut bewertet werden. Hingegen sehen die Entwickler erhebliche Einschrän
kungen bei der Möglichkeit zur Echtzeitberechnung, der Berechnungs
geschwindigkeit und den erforderlichen Vorkenntnissen (ebd., S. 139).
Der Nutzen wird also nicht infrage gestellt, sehr wohl aber die Nutzbar
keit von Erreichbarkeitsmodellen. Dies unterstreichen auch Ergebnisse, die den Nutzen der untersuchten Instrumente sowohl in den Bereichen der Landnutzung als auch Verkehrsplanung grundsätzlich hervorheben.
Häufig führen aber die organisatorische Trennung zwischen Raum und Verkehrsplanung, die fehlende Tradition im Bereich der Erreichbarkeits
analyse (planning culture) und die häufig nicht vorhandene Formali
sierung von Erreichbarkeitskennwerten zu einer begrenzten Nutzung (ebd. S. 142ff.).
Das Zusammenspiel zwischen Erreichbarkeitsmodell und praktischer Anwendung
Aufbau und Pflege von Erreichbarkeitsmodellen sind unerlässlich, um Erreichbarkeitsanalysen in der täglichen Arbeit durchführen zu können.
Folglich hängt die Praxisintegration von Erreichbarkeitsinstrumenten
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auch davon ab, welche Anforderungen der Umgang mit diesen Modellen erzeugt. Zumal zwischen den geforderten Funktionalitäten und der Modellarchitektur eine enge Verbindung besteht. Ein Beispiel ist der Mangel an Echtzeitberechnungen (Levine et al. 2017; Silva et al. 2017a).
Nur wenige Ansätze wurden bisher realisiert, die überhaupt diese Mög
lichkeit bieten (te Brömmelstroet et al. 2016, S. 1181ff.). Die Umsetzbarkeit von Echtzeitberechnungen wird jedoch mit einer zunehmenden räumli
chen Auflösung und einer steigenden Detaillierung der Wege reduziert.
Auch darum ist es wichtig, den Aufbau von Erreichbarkeitsmodellen in den Fokus zu rücken. Wie Silva et al. (2017, S. 139) betonen, sehen Ent
wickler umfassende Möglichkeiten, um durch Vereinfachungen zu einer Reduzierung der Rechenzeiten und einer Minderung des notwendigen Expertenwissens zu gelangen.
Eine deutlich stärkere Fokussierung auf die Nutzbarkeit von Erreich
barkeitsmodellen auch im wissenschaftlichen Kontext ist also geboten.
In diesem Zusammenhang wird bemängelt, dass in der Wissenschaft Er
reichbarkeitsinstrumente mit einer hohen Genauigkeit entwickelt, diese in der Praxis aber als nicht ausreichend relevant und handhabbar wahr
genommen werden (Silva et al. 2017a). Diese Lücke zwischen der wissen
schaftlichen Präzision und praktischen Zweckdienlichkeit wird auch als
›rigorrelevance dilemma‹ bezeichnet (Silva 2008, S. 74; Vonk et al. 2005).
Demnach werden von Entwicklern sehr genaue Tools entworfen, diese jedoch gleichzeitig als zu komplex, abstrakt, allgemein und unflexibel wahrgenommen. Es wird betont, dass die produzierten Werkzeuge den abstrakten Vorstellungen hinsichtlich des Verkehrs und Landnutzungs
systems folgen, an konkreten Planungsfragen aber vorbeigehen. Auf der anderen Seite stellen Praxisakteure unrealistisch hohe Erwartungen an Erreichbarkeitstools. Die Enttäuschung dieser Erwartungen kann dann zu einer ablehnenden Haltung führen (Silva et al. 2017a, S. 136).
Interessant ist zudem, dass die Entwickler von Erreichbarkeitsins
trumenten diesen zumeist eine hohe Qualität hinsichtlich der Genau
igkeit, der genutzten Datengrundlagen und der Ergebnisdarstellung zuschreiben. Gleichzeitig stellt ihre Berechnung erhebliche Anforderun
gen an die IT und erfordert zudem umfassende Daten und ein hohes Expertenwissen. Hinzu kommt die Herausforderung, Erreichbarkeits
instrumente flexibel auf konkrete Situationen anzuwenden und damit
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unterschiedliche Szenarien durchzuspielen (ebd., S. 139). Schlussendlich steht die zusätzliche Kleinräumigkeit im Widerspruch zur angestrebten Flexibilität und der Möglichkeit zur Echtzeitberechnung (ebd., S. 143).
Zu einer ähnlichen Einschätzung gelangen auch Boisjoly & ElGeneidy (2017b, S. 33). Sie haben 343 potenzielle Anwender von Erreichbarkeits
analysen in der praktischen Anwendung befragt und dabei fehlende Daten und mangelndes Expertenwissen als die wesentlichen Nutzungs
barrieren identifiziert (ebd., S. 37). Die Anforderungen sind auch des
wegen besonders hoch, da der ÖV der mit Abstand am häufigsten berücksichtigte Modus ist (ebd., S. 40).
Nichttechnische Gründe
Es existieren noch weitere Gründe, die den Einsatz von Erreichbarkeits
analysen in der Planung erschweren. Diese werden hier als nichttechni
sche Gründe bezeichnet, da sie den Modellaufbau und die Eigenschaften von Erreichbarkeitsinstrumenten nur indirekt betreffen, also keine Do
mäne der Modellentwickler sind.
Silva et al. (2017, S. 143) nennen die bisher nur selten erfolgte Festschrei
bung von Erreichbarkeitsanalysen und Erreichbarkeitskennwerten in formalisierten Planungsabläufen als zentrales Hemmnis. Auch Boisjoly &
ElGeneidy (2017b, Tab. 1, S. 40ff.) weisen darauf hin, dass Erreichbarkei
ten als qualitatives Merkmal in Planungsdokumenten einerseits häufig auftauchen, die Nennung konkreter Ziele und Kennwerte aber ande
rerseits nicht üblich ist. Von 42 untersuchten Verkehrsentwicklungs
plänen (transportation plans) in den USA ließen sich 20 % über komplexe Erreichbarkeitsindikatoren evaluieren (Proffitt et al. 2019, S. 184).
Bemängelt wird außerdem, dass die Beweglichkeit und nicht die Erreich
barkeit das übergeordnete Ziel öffentlicher Planung darstellt (Boisjoly &
ElGeneidy 2017b, S. 34, 40; Silva et al. 2017a, S. 143). Die Beweglichkeit steigt mit der Reduzierung der Raumwiderstände. Gleichzeitig sagt sie jedoch nichts darüber aus, welchen Verkehrs zwecken diese Reduzierung dient. So ist es nicht verwunderlich, dass Erreichbarkeitsinstrumente eher aufgrund einer individuellen Motivation und auf freiwilliger Basis angewendet werden (Boisjoly & ElGeneidy 2017b, S. 37).
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1.3.3 Ansätze zur Überbrückung der implementation