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Erreichbarkeit als räumliches Interaktionspotenzial Lange wurde Erreichbarkeit ausschließlich über die Raumwiderstände

1.2 Erreichbarkeiten in der praktischen Anwendung Der in dieser Arbeit verwendete Erreichbarkeitsbegriff wird im folgen

1.2.1 Erreichbarkeit als räumliches Interaktionspotenzial Lange wurde Erreichbarkeit ausschließlich über die Raumwiderstände

zwischen in der Fläche verteilten Gelegenheiten definiert. Nach Ingram (1971, S. 101ff.) bemisst sich Erreichbarkeit über die Leichtigkeit, mit der Ziele zu erreichen sind und die sich daraus ergebende relative Lagegunst von Standorten. Dalvi & Martin (1976, S. 18) erweitern die Leichtigkeit

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um eine individuelle Komponente. Erreichbarkeit ist demnach die Ein­

fachheit, mit der Personen Gelegenheiten erreichen können. Es ist daher nicht möglich, Erreichbarkeit ohne die Gewichtung von Raumwider­

ständen und Zielen zu bewerten (Handy & Niemeier 1997, S. 1175, 1176).

In der Gegenwart hat sich ein Verständnis durchgesetzt, welches Erreichbarkeit in vier Komponenten untergliedert. Dies sind die Raum­

struktur, das Verkehrsangebot, die Zeit sowie individuelle Bedürfnisse und Fähigkeiten (Geurs & van Wee 2004, S. 129). Die Raumstruktur und das Verkehrsangebot sind die zentralen Bestandteile von Erreichbar­

keitsmodellen. Die zeitliche Dimension ermöglicht eine Erweiterung um Öffnungszeiten, individuelle Zeitbudgets und tageszeitabhängige Reisezeiten. Die individuelle Dimension beinhaltet den Umgang mit persönlichen Merkmalen wie Alter, Geschlecht, Einkommen und Pkw­ Verfügbarkeit. Diese Multidimensionalität von Erreichbarkeit führt jedoch dazu, dass sich bisher kein einheitliches und umfassendes Begriffsverständnis durchsetzen konnte (Schwarze 2015, S. 33).

Grundsätzlich ist es möglich, Erreichbarkeit als eine objektivierte Eigen schaft von Standorten oder über die Aktions­ und Möglichkeits­

räume von Personen zu definieren (Curl et al. 2015, S. 86). Erreichbarkeit im Sinne von Standorten stellt die Raumstruktur und das Verkehrsnetz ins Zentrum der Betrachtung. Mit ihr können die Raumwiderstände, etwa die Reisezeit oder die Reiseweite, zwischen Gelegenheiten in Abhängigkeit von der Tageszeit berechnet werden (Geurs & van Wee 2004, S. 133). Typische Beispiele sind die Reisezeit zur nächsten Schule mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder die Menge innerhalb von einer Stunde erreichbarer Arbeitsplätze. Mit standortbasierten Erreichbarkeiten ist es also möglich, die im Raum verteilten Interaktionspotenziale zu adressie­

ren. Üblich ist außerdem die Relativierung dieser Inter aktionspotenziale gegenüber der Wohnbevölkerung. Solche objektiven Erreichbarkeits­

indikatoren dienen der Messung von Raumwiderständen zwischen Standorten und Gelegenheiten.

Welche Einflüsse Raumwiderstände und Interaktionspotenziale auf Personen ausüben, wird von der Wahrnehmung sowie individuellen Bedürfnissen und Fähigkeiten bestimmt (Geurs & van Wee 2004, S. 129).

Ohne zusätzliche Informationen ist es nicht möglich, Raumwiderstände und die Verteilung von Personen und Gelegenheiten in räumliche

Abbildung 1: Erreichbarkeit, Mobilität und Verkehr MobilitErreichbarkeit (räumliche Interaktionspotenziale) PersonenRaumstrukturVerkehrsangebot Luftliniendistanzen modale Verkehrsnetze Zugänglichkeit der Verkehrsknoten Widerstände in den Verkehrsnetzen Verkehrsangebot auf den Verkehrsnetzen Fähigkeiten Soziodemographie Kenntnisse Mobilitätswerkzeuge vergbare Zeit Einschränkungen

Verteilung der Wohnstandorte Verteilung der Gelegenheiten Merkmale der Gelegenheiten Zugang zu den Gelegenheiten Mobilitsverhalten von Personen Individuelle Gewichtung messbarer Erreichbarkeitswerte Realisierte Ortsveränderungen

Bedürfnisse Wohnen Versorgung Bildung soziale Interaktion Freizeit

Routinen Mobilitsstile Entscheidungsprozesse VerkehrErreichbarkeit (individuelle Aktionsräume) Summe befriedigter BedürfnisseSumme der realisierten Ortsveränderungen

Abbildung 1: Erreichbarkeit, Mobilität und Verkehr Quelle: eigene Darstellung

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Interaktionen zu übersetzen. Es wird also versucht, Erreichbarkeit als ein auf wahrgenommene Aktions­ oder Möglichkeitsräume zielendes Konzept zu etablieren. An dieser Stelle ist es sinnvoll, die Beweglichkeit von Personen und ihre »individuelle Verkehrsmöglichkeit« (Holz­Rau 2009, S. 797) als Mobilität zu bezeichnen. Als Mobilität wird gemeinhin die Möglichkeit verstanden, Ortsveränderungen durchzuführen. Diese Beweglichkeit resultiert aus »räumlichen, physischen, sozialen und virtu-ellen Rahmenbedingungen« (Ahrend et al. 2013, S. 2). Zu diesen gehören Zeit­ und Kostenbudgets, Tagesabläufe, verfügbare Mobilitätswerkzeuge (Pkw, Fahrrad, ÖV­Zeitkarte etc.) und tradierte Verhaltensmuster. Wie in Abbildung 1 dargestellt, hat das Verkehrsangebot sowohl einen Ein­

fluss auf die Erreichbarkeit im Sinne eines räumlichen Interaktions­

potenzials, als auch die Mobilität als Möglichkeit zur Ortsveränderung.

Die Bedürfnis befriedigung außerhalb der eigenen Wohnung hängt davon ab, ob und wie das Verkehrsangebot von Personen genutzt werden kann. Aus dieser Überlegung ist die Forderung nach einer auf Mobi­

lität ausgerichteten Verkehrsplanung entstanden. Dieses als ›mobility paradigm‹ bezeichnete Planungsverständnis soll die Raumwiderstände reduzieren, um die Beweglichkeit von Personen und damit die Mobilität zu steigern (Banister 2008, S. 74; Proffitt et al. 2019, S. 168). Gleichzeitig soll die Realisierung von Mobilität jedoch möglichst wenig Verkehr ver­

ursachen (Deffner 2011, S. 374).

Zunehmend wird jedoch gefordert, dass nicht die hohe Beweglichkeit von Personen oder der geringe Raumwiderstand zwischen Gelegenheiten die höchsten verkehrsplanerischen Ziele darstellen sollten, sondern die Befriedigung von Bedürfnissen außerhalb der eigenen Wohnung (Banis­

ter 2008; Proffitt et al. 2019, S. 168). Cervero (1997) spricht in diesem Zusammen hang von einem Paradigmenwechsel zum ›accessibility planning‹. Demnach wird Erreichbarkeit über individuelle Aktionsräume definiert (ebd., S. 10). Diese sollten die Befriedigung aller Bedürfnisse ermöglichen, gleichzeitig aber möglichst wenig Verkehr verursachen.

Individuelle Aktionsräume resultieren jedoch auch aus dem Mobili­

tätsverhalten von Personen. Dieses beeinflusst die Gewichtung von Interaktionspotenzialen an Standorten in Abhängigkeit von Bedürfnis­

sen, Routinen und Entscheidungsprozessen. Auf dem Weg zu einem accessibility planning wirkt das Mobilitätsverhalten wie ein Filter, da

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sowohl die Rahmenbedingungen, als auch die Faktoren der ablaufenden Entscheidungsprozesse nur begrenzt in handhabbare Größen übersetzt werden können. So lassen sich in Erreichbarkeitsmodellen nicht alle vorhandenen Raumwiderstände berechnen. Hinzu kommt, dass diese von einzelnen Personengruppen unterschiedlich wahrgenommen und gewichtet werden. Beispielsweise konnte gezeigt werden, dass sich wahrgenommene und gemessene Erreichbarkeiten erheblich unter­

scheiden (Lättman et al. 2018, S. 509). Zudem erfordern nicht regelmäßig zurückgelegte Wege oder genutzte Verkehrsmittel eine grobe Abschät­

zung von Raumwiderständen. Diese können von den realen Erreichbar­

keitswerten deutlich abweichen (Curl et al. 2015, S. 90ff.).

Für den Aufbau und die Anwendung von Erreichbarkeitsmodellen ergeben sich zwei wesentliche Schlussfolgerungen. Erstens ist es notwen­

dig, weitere individuelle Faktoren in die Berechnung von Erreichbarkeits indikatoren einzubeziehen. Im Rahmen der time geography wurden be­

reits erste Ansätze entwickelt und individuelle Aktionsräume über space­

time prisms (STP) abgebildet (Hägerstrand 1970; Hägerstrand 1989).

Demnach spannt sich um jedes Individuum ein potenziell erreichbarer Raum, in dem Aktivitäten an unterschiedlichen Orten durchgeführt werden können. Zu diesen Ansätzen gehört auch die Nachbildung von Aktivitätenketten, deren Darstellung in regionalen Erreichbarkeits­

modellen aber noch nicht gelungen ist (Liao & van Wee 2017).

Wesentlich bedeutsamer ist jedoch, dass die standortbezogene Erreichbarkeit und damit die Berechnung und Verortung von Inter­

aktionspotenzialen die Grundlage für alle methodischen Weiter­

entwicklungen darstellt. Sowohl in der Verkehrsmodellierung als auch bei der Berechnung von STP oder Aktivitätenketten spielt die Verortung von Raumwiderständen und Interaktionspotenzialen eine zentrale Rolle.

Folglich wird Erreichbarkeit in dieser Arbeit wie folgt definiert: »Erreich-barkeit ist der an einem Standort erforderliche Aufwand, um Gelegen-heiten mit unterschiedlichen Verkehrsmitteln und zu einem bestimmten Zeitpunkt zu erreichen«.

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1.2.2 Der Umgang mit Erreichbarkeiten