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2 Die Grundlagen regionaler Erreichbarkeitsmodelle

2.1.1 Zur Historie der Erreichbarkeitsmessung

Der Umgang mit Erreichbarkeit geht bereits auf eine mehrere Jahrzehnte andauernde wissenschaftliche Auseinandersetzung und praktische An-wendung zurück. Eines der ersten AnAn-wendungsbeispiele ist der General-regulierungsplan für Wien von 1893 (Wagner 1893). Damals wurden Isolinien mit einfachen technischen Mitteln um mögliche innerstäd-tische Knotenpunkte gezogen, die aufgrund ihrer Bevölkerungs- und infrastrukturellen Dichte ein spezifisches Ortsgefühl generieren sollten (Koerner 2017, S. 40). Zwar wurde der Begriff der Erreichbarkeit seiner-zeit noch nicht verwendet, dennoch trat ein Verständnis des Zusammen-wirkens von Raumnutzung und Mobilität zutage, welches später gemein-hin unter Erreichbarkeit subsumiert wurde.

Die ersten Anfänge einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung gehen zurück auf die 1940er Jahre. Unter den Stichworten der demo-graphic gravitation und des population potentials wurden erste Ansätze entwickelt, die die Attraktivität von Orten über die Entfernung zu ande-ren Gebieten und deande-ren Einwohnerzahl bewerten (Stewart 1941; Stewart 1948). Demnach ist das Bevölkerungspotenzial eines Punktes die Entfer-nung zu allen anderen Personen (Stewart 1941, S. 89). Es handelt sich um eine erste Form des Erreichbarkeitspotenzials, welches Hansen (1959) rund zwanzig Jahre später konkretisierte. Sein Ansatz ermöglicht eine integrierte Betrachtung des Verkehrsangebotes und der Landnutzung.

Er beschreibt ein Konzept zur Erreichbarkeitsmessung auf Basis der räumlichen Verteilung von Gelegenheiten sowie der Möglichkeit und des Willens, diese zu erreichen (ebd., S. 73). Hansen war es auch, der in diesem Zusammenhang explizit eine Verbindung zwischen der räumli-chen Entfernung, der Zielattraktivität sowie des realisierbaren Nutzens der Raumüberwindung auf Basis des Gravitationsansatzes herstellte. Je leichter ein Ziel zu erreichen ist und je mehr Gelegenheiten dieses enthält, desto eher wird dieses Ziel aufgesucht.

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Ein häufig verwendetes Begriffsverständnis von Erreichbarkeit unterscheidet zwischen der relativen Erreichbarkeit als dem Raum-widerstand zwischen zwei Punkten und der integralen Erreichbarkeit als dem Raumwiderstand zwischen einem Punkt und allen Zielen in einem Gebiet (Ingram 1971, S. 101, 102). Dalvi & Martin (1976) definieren Erreichbarkeit in diesem Zusammenhang als die Leichtigkeit, mit der Personen unterschiedliche Gelegenheiten erreichen können. Dieser An-satz enthält unterschiedliche Facetten von Erreichbarkeit. Die Verwen-dung dieser Definition ist bis heute verbreitet, wenngleich sich bislang kein allgemeingültiges Begriffsverständnis durchgesetzt hat.

Seit den 1980er Jahren wird Erreichbarkeit nicht nur als Ausdruck räumlicher Interaktion, sondern auch als ihre Möglichkeitsform inter-pretiert. Erreichbarkeit ist demnach die Möglichkeit zur räumlichen In-teraktion (Pooler 1987, S. 274). Dieses Verständnis ermöglicht eine engere Verbindung mit dem Mobilitätsbegriff. Demnach beschreibt Mobilität die individuellen und Erreichbarkeit die raumstrukturellen Faktoren zur Hemmung und Begünstigung von Ortsveränderungen (vgl. Abschnitt 1.2).

Im Zentrum von Erreichbarkeit steht nun also, wo und in welchem Um-fang unterschiedlich konstituierte Individuen ihren Bedürfnissen au-ßerhalb des eigenen Wohnstandortes nachgehen können. Anfang der 2000er Jahre wurde in den Arbeiten von Geurs, Ritsema van Eck & van Wee (2001; 2004) eine bis heute vielfach verwendete Differenzierung unterschiedlicher Verfahren der Erreichbarkeitsmessung vorgenommen (vgl. Abschnitt 2.1.3). Demnach ist zwischen standort basierten, personen-basierten, infrastrukturbasierten und nutzenbasierten Erreichbarkeiten zu unterscheiden. Die Differenzierung von Erreichbarkeitsindikatoren erfolgt über die siedlungsstrukturelle, die zeitliche, die verkehrliche und die individuelle Dimension (vgl. Abbildung 9).

Die siedlungsstrukturelle Dimension bzw. die Landnutzung beinhal-tet das im Raum verteilte Gelegenheitsangebot. Ihr ist außerdem die sich aus individuellen Faktoren ergebende Nachfrage nach diesen Gelegen-heiten zugeordnet. Über die Verkehrsdimension werden die Raumwider-stände abgebildet. Zudem lässt sich die individuelle Dimension mit Hilfe von Erreichbarkeit adressieren. Ihr sind neben sozioökonomischen und soziodemographischen Merkmalen auch unterschiedliche mobilitäts-bezogene Bedürfnisse zugeordnet. In den letzten zwanzig Jahren gewann

Standorte der Nachfrage Zeitdimension

Personen- und Güterverkehr Individuelle Dimension

Abbildung 9: Dimensionen der Erreichbarkeit Quelle: Altenburg et al. (2009, S. 9); nach Geurs & Ritsema van Eck (2001, S. 28) sowie Geurs & van Wee (2004, S. 129)

Siedlungsstrukturelle Dimension AngebotNachfrage Konkurrenz Standorte der Aktivitäts- gelegenheiten Öffnungszeiten von Aktivitätsgelegenheiten verfügbare Zeitbudges r Aktivitäten

Verkehrsdimension AngebotNachfrage Auslastung Verortung der Infrastruktur sozioökonomische Merkmale (z.B. Gehalt) soziokulturelle/demo- grafische Merkmale (z. B. Alter, Geschlecht)

Erreichbarkeit von Aktivitäts gelegenheiten

verfügbare GelegenheitenFahrzeit, Kosten, Aufwand ZeitbeschänkungenBedürfnisse, Fähigkeiten, Möglichkeiten

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die von Dalvi & Martin (1976) noch ausgeklammerte zeitliche Dimension eine zunehmende Beachtung. Dieser sind unter anderem die Öffnungs-zeiten der Gelegenheiten, die Zeitbudgets von Personen und tageszeit-abhängige Raumwiderstände zugerechnet. Öffnungszeiten haben sich jedoch, von Ausnahmen abgesehen (Farber et al. 2014; Lei & Church 2010), bisher nicht als maßgeblicher Bestandteil von Erreichbarkeits analysen durchgesetzt. Auch die Zeitbudgets von Personen werden bisher nur in Ausnahmefällen, etwa im Zusammenhang mit Aktivitätenketten, in Er-reichbarkeitsanalysen berücksichtigt (Liao et al. 2014). Wesentlich ver-breiteter ist indes die Integration von Fahrplanzeiten des ÖPNV (Farber et al. 2016; Fransen et al. 2015; Stępniak & Goliszek 2017).

Immer wieder wird die Operationalisierung von Erreichbarkeit kri-tisch hinterfragt. Nach Shen et al. (2012, S. 158) müssen Personen die Möglichkeit bekommen, die von ihnen nachgefragten Gelegenheiten zu erreichen. Sie betonen aber auch, dass mobilitätsbezogene Erreichbar-keitsindikatoren die starke Tendenz besitzen, auf eine deutliche Erhö-hung der Geschwindigkeit positiv zu reagieren. Entsprechend werden aus diesen Indikatoren primär Maßnahmen abgeleitet, die eine Reduzierung der Raumwiderstände und damit eine Ausweitung der Verkehrsleistung mit sich bringen. Geschwindigkeit wird so zum übergeordneten Ziel der Erreichbarkeitsplanung. Auch Martens (2014) fordert die Abkehr von der bloßen Bereitstellung neuer Verkehrsinfrastrukturen mit höheren Kapazitäten und Geschwindigkeiten, hin zu einem an den Bedürfnis-sen der Menschen ausgerichteten Entwicklung des Verkehrs- und Land-nutzungssystems. Diese Verschiebung erfordert die Einführung neuer Planungskonzepte und Analysemethoden. Mit diesem Paradigmen-wechsel soll die Entwicklung des Verkehrs- und Landnutzungssystems eine verträglichere Realisierung von Mobilität ermöglichen. Zu ihren Instrumenten gehören die Verkehrsvermeidung, die Verkehrsverla-gerung und eine verträglichere Verkehrsabwicklung (Holz-Rau 2009, S. 797). Dabei bezieht sich die verträglichere Realisierung nicht nur auf den Umweltaspekt bzw. die Gesamtheit externer Effekte, sondern auch auf das Gebiet der gesellschaftlichen Teilhabe (Altenburg et al. 2009), auf den demographischen Wandel (Deutscher Bundestag 2007, S. 4) und die Begrenztheit staatlicher Finanzmittel. Insofern kann eine Hinwendung zu einer an den Mobilitätsbedürfnissen der Bevölkerung ausgerichteten

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Planung den Umweltschutz verbessern, die soziale Teilhabe erhöhen und zu einer kosteneffizienteren Verkehrsabwicklung führen.

2.1.2 Die Relevanz von Erreichbarkeitsindikatoren