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IV- und ÖV-Graphen: Unterschiede und Gemeinsamkeiten

2.3.2 Der ÖV in Erreichbarkeitsmodellen

Die Nachbildung des öffentlichen Personenverkehrs ist eine der größten Herausforderungen in der Erreichbarkeitsmodellierung. In den nach-folgenden Abschnitten wird ein kurzer Überblick des gegenwärtigen Einsatzes in regionalen Modellen gegeben. Anschließend werden die Besonderheiten und die sich daraus ergebenden Anforderungen im Um-gang mit ÖV-Verkehrsgraphen diskutiert.

Kurzüberblick

Zwischen 1977 und 1982 entstand am Österreichischen Institut für Raum-planung (ÖIR) in Wien ein auf realen Fahrplan- und Straßennetzdaten aufbauendes landesweites Erreichbarkeitsmodell (Deußner 1996, S. 2).

Aufgrund der umständlichen Widerstandsberechnung und der aufwen-digen Aktualisierung wurde es in der ersten Hälfte der 1990er Jahre neu aufgebaut. Ein Großteil der regionalen Erreichbarkeitsmodelle basierte bis in die 2000er Jahre ausschließlich auf dem MIV. Diese Beobachtung steht im Widerspruch zur herausgehobenen Bedeutung des ÖPNV in der Daseinsvorsorge (Bäumer & Reutter 2005; BMVBS 2010b). Die Begren-zung auf den MIV lässt zudem außer Acht, dass gerade exkludierte und sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen auf öffentliche Verkehrsmit-tel angewiesen sind (Martin et al. 2002, S. 6). Die Integration von öffent-lichen Verkehrsmitteln wurde in den folgenden Jahren vorangetrieben, um insbesondere die Mobilitätsoptionen dieser Bevölkerungsgruppen abzubilden (Hess 2005; Higgs 2004).

Eine frühe Anwendung im deutschsprachigen Raum erfolgte in Wien unter Verwendung realer Fahrplandaten und hoch aufgelös-ter Baublöcke (Prinz & Herbst 2008). Bedeutsam sind außerdem der Erreichbarkeits atlas der Metropolregion München (Büttner et al. 2018;

Wulfhorst et al. 2010) sowie die Modelle des Landkreises Calw und der Region Stuttgart (Friedrich & Hartl 2015; Friedrich et al. 2016). Auf na-tionaler Ebene sind die Erreichbarkeitsanalysen des BBSR für den MIV und den ÖV etabliert (vgl. Abschnitt 1.4.1).

Auch im Rahmen der MORO-Projekte (Modellvorhaben der Raum-ordnung) wurden ab 2006 verschiedene multimodale Erreichbarkeits-analysen durchgeführt. In diesen soll die »praktische Erprobung und Umsetzung innovativer, raumordnerischer Handlungsansätze und

2 Die Grundlagen regionaler Erreichbarkeitsmodelle

Instrumente in Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Praxis […]«

untersucht werden (BBSR o.J.a). Zu diesen Instrumenten gehört auch die Erreichbarkeitsmodellierung. Ein Vergleich von drei Modellierungsan-sätzen kommt zu dem Ergebnis, dass die Berechnung intermodaler Wege im ÖPNV der einfachen Bestimmung von Luftlinien oder Reisezeiten im MIV vorzuziehen ist (BMVBS 2010c, S. 45ff.). In einer zweiten Phase wurden 21 mitunter mehrere Landkreise umfassende Modellregionen in das Förderprogramm aufgenommen. Erreichbarkeitsanalysen und Be-völkerungsvorausschätzungen sind die zentralen Bausteine für themen-spezifische Analysen und Modellrechnungen (BMVI 2016, S. 32). Ein besonderer Fokus liegt auf dem öffentlichen Verkehrsangebot, welches in 19 Untersuchungsregionen einer Erreichbarkeitsanalyse unterzogen wurde. Diese Analysen basieren auf Rastermodellen mit einer Auflösung zwischen 100- und 250-Metern sowie realen Fahrplandaten (Spieker-mann & Schwarze 2014, S. 63ff.). In diesen Projekten wurde deutlich, dass der Aufbau von Erreichbarkeitsmodellen einen Aufwand erzeugt, der gerade in kleinen Regionen den zu erwartenden Nutzen rasch über-steigt. In größeren Regionen überfordert dagegen die hohe Komplexität die zeitlichen und personellen Ressourcen der Planungsträger. Gleich-zeitig wird betont, dass die Durchführung von Erreichbarkeitsanalysen als zweckmäßig für die Entwicklung von Regionalstrategien anzusehen ist (BMVI 2016, S. 39).

Besonderheiten

Die Wege im öffentlichen Verkehrssystem unterscheiden sich vom In-dividualverkehr aufgrund ihrer Intermodalität und insbesondere der Fahrplanbindung. Anders als im Individualverkehr stehen Verbindungs-optionen nur zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten (Halte-stellen) zur Verfügung. Das Routing erfolgt nicht nur auf dem Fußwege-netz, sondern gewissermaßen im Fahrplan (Kujala et al. 2018, S. 41). Der Rückgriff auf möglichst aktuelle Fahrplandaten, die besondere Art der Routenberechnung sowie die schwierige räumliche Konkretisierung auf-grund der auf-grundsätzlichen Intermodalität haben die Entwicklung von ÖV-Erreichbarkeitsanalysen maßgeblich geprägt. Nachfolgend sind die Parameter aufgeführt, die die besondere Komplexität des öffentlichen Verkehrs in Erreichbarkeitsmodellen hervorrufen:

2 Die Grundlagen regionaler Erreichbarkeitsmodelle

intermodale Wege (NMIV + ÖV)

Fahrplanbindung (Uhrzeit, Datum)

Umstiege und Anschlussgewährung

Bedienhäufigkeiten

komplexe Preissysteme

unterjährige Fahrplanänderungen

In Abbildung 24 ist ein schnellster Weg zwischen einer Raumeinheit und einer Gelegenheit auf einem intermodalen ÖV-Verkehrsgraphen dargestellt. Im Vor- und Nachlauf sind die Raumstrukturen auf dem NMIV-Netz an die Haltestellen angebunden. Die Haltestellen fungieren als Zugangsknoten zum öffentlichen Verkehrssystem. Wenn reale An-bindungszeiten implementiert werden sollen, müssen demnach NMIV-Netzdaten sowie standortscharfe Haltestellen vorliegen.

Das öffentliche Verkehrssystem weist einige weitere Besonderheiten auf, die sich unmittelbar auf die Bewertung von Reisealternativen aus-wirken. So wird im Unterschied zum Individualverkehr häufig nicht auf reisezeitminimierende Verbindungen zurückgegriffen. Nassir et al.

(2016, S. 31) haben am Beispiel von Brisbane (AUS) zeigen können, dass 41,0 % der Reisen nicht auf der schnellsten und 55,7 % der Reisen nicht auf der nutzenmaximierenden Verbindung durchgeführt werden. Sie kommen daher zu dem Schluss, dass nicht alle Nutzer die Raumwider-stände identisch bewerten und abwägen (ebd., S. 27). Entsprechend wird betont, dass die ausschließliche Betrachtung minimaler Reisezeiten im ÖV die grundlegenden Motive der Wahl öffentlicher Verkehrsmittel unbeachtet lässt. Zu diesen gehören unter anderem die Bedienhäufig-keit, nötige Umstiege, Fahrpreise, die Haltestellenausstattung und Zu-gangsweiten (Chowdhury 2016; Kaplan et al. 2014; Nassir et al. 2016).

Entsprechend müssen den einzelnen Etappen mit unterschiedlichen Ver-kehrsmitteln jeweils verschiedene Raumwiderstände zugeordnet werden, die sich nicht immer zu einer Gesamtreisezeit aggregieren lassen. Zu diesen gehören beispielsweise die SWZ, die Fahrtzeit im ÖSPV und die Verspätungsanfälligkeit.

Fransen et al. (2015, S. 178) unterscheiden vier Ansätze zur Bewer-tung von Raumwiderständen im ÖV-System. Der erste Ansatz um-fasst lediglich die Zugänglichkeit zum öffentlichen Verkehrssystem

SWZ StartGelegenheit

10 min 11 min 13 min

5 min

14 min 6 min 38 min 3 min

27 min (SWZ: 5 min) 31 min (SWZ: 3 min) 18 min (SWZ: 3 min) 35 min (SWZ: 7 min) 56 min (SWZ: 15 min) 24 min (SWZ: 8 min)

Öffentlicher Verkehr: Fahrplan, Umstiege, Bedienufigkeiten, FahrpreiseFuß-und Radverkehr: Distanzen und ReisezeitenFuß-und Radverkehr: Distanzen und Reisezeiten Quelle: eigene Darstellung

Abbildung 24: Schnellste Wege auf einem intermodalen ÖV-Verkehrsgraphen Fuß- und Radverkehr: Distanzen und ReisezeitenÖffentlicher Verkehr:Fahrplan, Umstiege, Bedienufigkeiten, FahrpreiseFuß- und Radverkehr: Distanzen und Reisezeiten

2 Die Grundlagen regionaler Erreichbarkeitsmodelle

(vgl. Abschnitte 2.1.3.1 und 2.3.3.5). Dabei werden die Raumwiderstände zwischen den Raumstrukturen und den Haltestellen auf Basis von Luftli-nien oder Realdistanzen bestimmt. Das zweite Verfahren beruht auf der Abfahrtshäufigkeit an den Haltestellen und macht somit die Bereitstel-lung von Fahrplandaten erforderlich (Bok & Kwon 2016). Drittens können die unter 2.3.1 dargestellten einfachen ÖV-Graphen der Berechnung von Raumwiderständen zwischen den Raumstrukturen dienen. Jedoch er-möglicht nur das fahrplanfeine Modellierungsverfahren als vierte Varian-te die Berechnung sämtlicher Raumwiderstände in einem inVarian-termodalen ÖV-Verkehrsgraphen. In diesem Zusammenhang stellen die Integration des Tarifsystems und die Berechnung der Bedienhäufigkeit die größten Herausforderungen dar.

Doch selbst wenn es möglich ist, die genannten Raumwiderstän-de für alle ÖV-Wege zu berechnen, bleibt ihre Aggregation in nutzbare Erreichbarkeitsindikatoren ungeklärt. Zwar wurden bereits unterschied-liche Regres sionsmodelle entwickelt, um die Bedeutung der einzelnen Faktoren zu bestimmen, jedoch blieb ein Transfer dieser Werte in hand-habbare Erreichbarkeitsindikatoren bisher aus (Anderson et al. 2017;

Kaplan et al. 2014; Nassir et al. 2016). Die Lösung ist weiterhin die sepa-rate Berechnung von Erreichbarkeitsindikatoren auf Basis der einzelnen Raumwiderstände (vgl. Abschnitte 2.3.3.5 und 3.6).

2.3.3 Aufbau und Einsatz von Verkehrs graphen des ÖV