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Das Lernen organisierter Sozialsysteme: eine systemtheoretische Perspektive In der gegenwärtigen Diskussion liegen dem Verständnis von Organisation zwei

1.4. Das Lernen organisierter Sozialsysteme

1.4.3. Das Lernen organisierter Sozialsysteme: eine systemtheoretische Perspektive In der gegenwärtigen Diskussion liegen dem Verständnis von Organisation zwei

divergieren-de paradigmatische Auffassungen zu Grundivergieren-de70. Eine Denkrichtung begreift Organisationen aus einer noch nicht autopoietisch gewendeten Perspektive der Systemtheorie als von einer wie immer gearteten Umwelt abgegrenzte Systeme, die durch dependente bzw. interdepen-dente Prozesse der Kommunikation miteinander in Verbindung stehen. Diese Sichtweise basiert auf einer objektivistisch-funktionalistischen Umweltkonzeption, auf die sich vielen Theorien zum organisationalen Lernen konstitutiv zu Grunde liegende Annahmen bezie-hen.

Organisationen als umweltdeterminierte, funktionalistische Systeme aufzufassen erweist sich vor dem Hintergrund neuerer, konstruktivistisch und systemtheoretisch argumentierender Diskurslinien als wenig sinnvoll. Innerhalb solcher Ansätze werden nicht vorliegende Umwelt-faktoren als wesentliche Variablen für die Aufrechterhaltung der Systemreproduktion erach-tet; bedeutsamer erscheinen die Veränderungen interner Zustände und Interaktionen des Systems, die Selbstreferentialität seiner Operationen. Ein entsprechend revidiertes Konzept von Organisation als autopoietisches soziales System, macht die klassische organisations-theoretische, an Input-Output-Modellen orientierte Betrachtungsweise obsolet.

Ein konkurrierendes paradigmatisches Konzept stellen subjektivistisch-konstruktivistische Umweltkonzeptionen71 dar, die die Auffassung vertreten, die Annahme einer vom System Organisation unabhängig existierenden Umwelt sei aufzugeben, wohingegen Variationen der Umweltinterpretation eine zentrale Rolle einnehmen. Eine außerhalb der Systemgrenzen

70 vgl. Gebhardt 1996, Schreyögg 1998

71 vgl. Gebhardt 1996, Kößler 2000

liegende Umwelt sei nicht objektiv wahrnehmbar; sie stelle vielmehr einen vom Prozeß ihrer Beobachtung abhängigen, subjektiven Prozeß der Konstruktion dar. Ihr ontologischer Status bleibe ungeklärt – was allerdings weniger problematisch erscheint, sollen Kommunikations-prozesse zwischen Organisationssystem und Umwelt, wie etwa die Produktion und Distribu-tion von Waren oder Dienstleistungen lediglich konzeptualisiert werden.

Eine konstruktivistisch-systemtheoretisch gewendete Auffassung von Organisation verlangt den im Vergleich zu anderen Ansätzen radikalen Schritt, nicht die Individuen als Akteure organisationalen Handelns aufzufassen, sondern das Erkenntnisinteresse auf die Ebene kommunikativer Prozesse richten zu können; von besonderer Relevanz sind in diesem Kon-text diejenigen Systemprozesse, die als Lernen interpretierbar sind. Der Vorzug eines sol-chen abstrakt-analytissol-chen Zugangs liegt darin, Organisationslernen nicht nur metaphorisch, sondern als empirisches Phänomen beschreiben zu können.

Den Ansatz, organisationales Lernen konsequent auf dem begrifflichen Fundament der neu-eren Systemtheorie theoretisch zu konstituineu-eren, verfolgen allerdings nur wenige Autoren.72 Systemtheoretisch geprägte Konzepte des Organisationslernens intendieren, über einen Rekurs auf Niklas Luhmann, Lernen nicht nur in seiner individualistisch-psychologischen Dimension zu begreifen, sondern eine Theorie systemischen Lernens auch aus einer sozio-logischen Perspektive weiterzuentwickeln. Lernen erscheint vor diesem Hintergrund als be-stimmte Beobachtungskategorie eines psychischen oder sozialen Systems. Einzelne psychi-sche Systeme vermögen sich mittels Interaktionsprozessen über das Beobachtete zu infor-mieren, wobei sie dann als soziale (Beobachter-)Systeme aufgefaßt werden können73. Beobachtungen lassen sich weiter differenzieren in Beobachtungen erster Ordnung, deren Referenzbereich die Objektwelt als solche darstellt, sowie Beobachtungen zweiter Ordnung, die den Prozeß der Beobachtung selbst mit in den Blick nehmen74. Beide Beobachtungska-tegorien zielen zunächst auf Informationsgewinnung, in weiteren Schritten auf deren Inter-pretation, Bewertung und Distribution.

Für ein Funktionieren dieser Informationsverarbeitungsprozesse auf der Ebene des Beob-achter-Beobachtens bzw. Lernen-Lernens ist die spezifische Struktur einer Organisation maßgeblich, da sie auf diese Prozesse entsprechend ihres Selbstverständnisses fördernd oder hemmend wirken kann. Lose gekoppelte Systeme, denen eine von Hierarchie und Macht entbundene und somit gesteigerte Beobachtungskompetenz zugesprochen werden kann, sind hier möglicherweise gegenüber traditionell hierarchisch strukturierten im Vorteil.

72 Wahren 1996; Klimecki et al. 1998; Scherf-Braune 2000; mit dem Schwerpunkt, Lernen förderliche Manage-mentstrategien zu identifizieren, Laßleben (2002); mit dem Fokus auf Wissensmanagement, Willke (1998)

73 vgl. Türk 1989

74 vgl. zur epistemologischen Konzeption der neueren Systemtheorie einführend etwa Reese-Schäfer 1996, 8.f

Eine an solche Überlegungen anknüpfende, systemtheoretisch orientierte Auffassung orga-nisationalen Lernens wird im folgenden entfaltet.

Die systemtheoretische Interpretation des Phänomens Lernen eröffnet mittels des von Wahrnehmung abstrahierenden Begriffs der Beobachtung eine erweiterte Perspektive: Lern-prozesse können losgelöst vom Individuum betrachtet und auf soziale bzw. organisationale Systeme übertragen werden.

Organisationen, verstanden als emergente Informationsverarbeitungssysteme, führen im Operationsmodus der Kommunikation Beobachtungen durch, die unterscheiden und be-zeichnen; dabei orientieren sie sich an Erwartungen. Als Erwartung bleiben Kommunikatio-nen selbstreferentiell gebunden, als Beobachtung verweisen sie auf etwas außerhalb des Systems und können dadurch eine das System informierende Differenz von Selbst- und Fremdreferenz herbeiführen. Dieser Vorgang kann als Lernen eines sozialen Systems ver-standen werden (vgl. Kap. 1.3)

Organisationen sind aus Entscheidungszusammenhängen konstituiert. Sie erhalten ihre Au-topoiese aufrecht, indem sie kontinuierlich Entscheidungen ihrer Mitglieder hervorrufen. Ent-scheidungen unterliegen einer Handlungskontingenzen einschränkenden Selektion, einer organisationsspezifischen Struktur, die sich in Form von Verhaltenserwartungen manifestiert.

Verhaltenserwartungen liegen als organisationale Handlungsoptionen unterschiedlicher in-haltlicher Ambiguität und Reichweite vor, als Aufforderungen, Programme, Ziele und Werte (vgl. Kap. 1.2.3). Sie strukturieren die Handlungsmöglichkeiten der Organisationsmitglieder, schränken sie ein und transformieren sie zu Entscheidungen: sich konform oder nonkonform zu einer Erwartung zu verhalten.

Lernen stellt sich unter dieser Perspektive als eine durch Information ausgelöste Strukturver-änderung eines (psychischen oder sozialen) Systems dar. Die elementare Differenz zu tradi-tionellen psychologischen Lernauffassungen liegt im prozessualen Verständnis von Informa-tion. Information ist, systemtheoretisch begriffen, keine Übermittlung von Wissen, kein von Außen gesteuerter Input, sondern die Beobachtung eines Unterschieds, der einen Unter-schied evoziert: Lernen findet statt, wenn eine von einer Erwartung abweichende Operation (1. Unterschied) die Erwartung an nachfolgende Operationen verändert (2. Unterschied), also die Erwartung selbst verändert wird.

Der Unterschied, der beim Lernen getroffen wird, ist die Veränderung einer als organisatio-nale Struktur kodifizierten Erwartung. Der Unterschied, der diesen Unterschied verursacht, ist eine von einer Erwartung abweichende Operation, nämlich eine abweichende Entschei-dung. Eine 'enttäuschte' Erwartung evoziert in der Folge jedoch nur dann einen Lernprozeß, werden als Konsequenz Erwartungen umgestellt.

Durch eine Kombination dieser Interpretation von Lernvorgängen mit dem systemtheoreti-schen Organisationsbegriff, synthetisiert Laßleben (2002) ein systemtheoretisches Ver-ständnis organisationalen Lernens, das folgendermaßen definiert wird: "Von 'organisationa-lem Lernen' ist immer dann zu sprechen, wenn ein Unterschied zwischen der an eine Hand-lung gerichteten Erwartung und der (tatsächlich realisierten, S.B.) HandHand-lung zu einer Verän-derung der an nachfolgende Handlungen gerichteten Erwartungen führt." (aaO, 95).

Weichen also Entscheidungen der Mitglieder einer Organisation von Erwartungen an organi-sationale Anforderungen, Programme, Ziele und Werte ab und führt dieses Abweichen zu einer Veränderung der systemreproduzierenden Operationen (den Erwartungen), liegt orga-nisationales Lernen vor.

Abb. 10: Drei operative Varianten in Organisationssystemen: (1) Die Handlung entspricht der Erwar-tung; sie ermöglicht damit die Reproduktion der Struktur; (2) sie verhält sich nonkonform (ist Folge einer nicht an sie gerichteten Erwartung oder widerspricht einer an sie gerichteten), was zum Aus-schluß führt; bzw. (3) sie verändert mittels ihrer Nonkonformität die Erwartungsstruktur, was als orga-nisationaler Lernprozeß interpretierbar ist.

In der Organisationsforschung korrespondiert der Lernbegriff mit dem der Veränderung. Für Türk (1989) stellt organisationales Lernen ein mögliches Prozeßmodell zur Erklärung von Organisationsänderung dar. Das Ergebnis einer Veränderung läßt sich dabei eindeutig be-schreiben: "Ein beobachtetes Merkmal weist im Vergleich seiner Ausprägung zu zumindest zwei verschiedenen Zeitpunkten eine Differenz auf." (aaO, 52).

Veränderung vollzieht sich dabei unter drei unterschiedlichen Perspektiven: als Ent-wicklungs-, Selektions- und Lernmodell.

Während bei Entwicklungsmodellen eine systemeigene, endogene Dynamik der Verände-rung eine eindeutige Richtung zuweist, gehen Selektionsmodelle von einer exogenen Verän-derungsdynamik aus, bei der Umweltbedingungen eine spezifische Auswahl aus der durch zufällige Variationen entstandenen Organisationsdiversität vorantreiben.

organisationale Erwartungsstruktur

Ziele Programme Aufforderungen

Werte

nonkonforme Handlung

nonkonforme Handlung konforme Handlung

3 2

1 reproduktive Autopoiese

Veränderung: organisationales Lernen

Ausschluß

Innerhalb des ersten Modells wird Organisation als Größe begriffen, die relativ unabhängig von Umwelt operiert; in Abgrenzung zu dieser Auffassung geht der zweite Selektionsansatz davon aus, daß sich Änderungen nur innerhalb der engen, von den Umweltbedingungen vorgegebenen Spielräumen vollziehen können. Besser adaptierte Variationen werden aus-gewählt, andere selektiert. Dieses Modell basiert somit auf einem zwar akausalen Verständ-nis von Systemdeterminierung durch Umwelt, nimmt jedoch eine selektierend wirkende strukturelle Koppelung von Organisation und Umwelt an.

Lernmodelle begreifen Organisationen als dazu befähigt, ihre eigenen operativen Prozesse bewußt – etwa über reflexive Fehlerkorrektur – zu ändern. Dieser Ansatz unterstellt Organi-sationssystemen kognitive Ressourcen, die sie befähigen, über kooperative Handlungsfor-men Prozesse der Effizienzsteigerung zu initiieren. Als höherstufige Ordnungsform kollekti-ver Aktivität ist dabei Lernen von bloßer Anpassung abzugrenzen: Während Adaption an Umweltstimuli lediglich Veränderung in Form von verändertem Verhalten evoziert, zielen Lernprozesse auf veränderte Einsichten und Orientierungsmaßgaben.

Dieses Verständnis von Änderung konvergiert mit Auffassungen des organisationalen Ler-nens. Während Organisationslernen jedoch die Bearbeitung individueller und organisationa-ler kognitiver Konstrukte intendiert, zielt die Veränderungsmetapher weiträumiger auch auf andere Aspekte einer Organisation75.

Für das Verständnis eines sozialen Systems als lernende Organisation impliziert die verän-derte organisationstheoretische Betrachtungsweise verschiedene Perspektivwechsel: Auf-grund der operationalen Geschlossenheit sozialer Systeme erscheint es fragwürdig, ob ex-tern evozierte Maßnahmen der Personal- und Organisationsentwicklung aus prinzipiellen theoretischen Erwägungen überhaupt erfolgreich sein können. Ein selbstreferentiell agieren-dens System erzeugt seine zur Reproduktion notwendigen Strukturen autonom und autopoi-etisch76. Organisationale Veränderungen können deshalb nur aus dem System selbst initiiert werden – wozu es allerdings, da Systeme strukturkonservativ konstituiert sind, von der Sys-temumwelt induzierter Perturbationen bedarf.

Lernprozesse können durchaus zu Systemveränderungen führen. Dieser Prozeß vollzieht sich allerdings selbstreferentiell und operational geschlossen; d.h. Umweltfaktoren sind nicht deterministisch zu begreifen, sondern wirken in dem Sinne fruchtbar für organisationales Lernen, als sie Systemoperationen perturbieren und damit indirekt die inneren Zustände ei-ner Organisation verändern.

Organisationale Lernprozesse unterliegen dabei einer Biographizität: neue Information wird in vorhandene Wissensbestände und kognitive Schemata assimiliert, wobei die historischen,

75 etwa individuelle qualifikatorische und motivationale Strukturen, operative Verfahren u.a.m., vgl. Türk 1989

76 Willke 1998

bereits existierenden Wissensstrukturen den Prozeß der Informationsaufnahme, internen Bearbeitung und Verknüpfung prädestinieren. Die aktuelle kognitive Struktur überträgt somit neuer Information Sinn, bzw. schließen sie bei Nicht-Passung vom Assimilationsprozeß aus, wobei das Resultat dieses Sinngebungsprozesses durchaus zu einer Strukturveränderung führen kann. Erreichen die Perturbationen eine Qualität, die keine Assimilation in bestehende kognitive Schematisierungen und Organisationsstrukturen zulassen, steht der Erhalt des Systems zur Disposition. Die Organisation ist gezwungen, sich zu verändern: neue Interpre-tationstendenzen77 zu generieren, d.h. akkomodierendes Lernen i. S. einer Veränderung der existenten, nun nicht mehr viablen Kognitionen zu vollziehen.

In welchem Maße perturbierende Umweltinformationen für die Aufrechterhaltung der Syste-mautopoiese gefährden ist nicht objektiv bestimmbar. Lediglich die subjektive Interpretation einer Störgröße, die Beobachterentscheidung über ihre Bedeutung und die antizipierte Er-wartung ihrer Folgen urteilt darüber, ob sie als notwendiger Lernanlaß erachtet wird. "(Es) kommt nur dann zur Akkomodation, wenn ein Handlungsschema nicht zu dem erwarteten Ergebnis führt. Daher ist Akkomodation weitgehend durch die unbeobachtbaren Erwartungen des kognitiven Akteurs bestimmt und nicht durch etwas, das ein Beobachter als sensori-schen 'Input' beschreiben könnte." (von Glasersfeld 1994, 33).

Die Umwelt kann Organisationslernen und darüber evozierte Systemveränderungen lediglich anregen, jedoch nicht kausal determinieren. Innerhalb dieser Sichtweise sind Organisationen autopoietische Systeme; sie agieren strukturkonservativ und zeigen gegenüber extern initi-ierten Veränderungen ihrer Strukturen erhebliche Resistenz78.

Die Systemtheorie ist dem Vorwurf ausgesetzt, eine entsubjektivierte, vom Individuell-Menschlichen abstrahierende Sicht der Welt zu kreieren79. Diese Kritik ist im Kontext der Analyse von Lernprozessen in soweit berechtigt, als Lernen ohne die Komplexität der an Subjekte gebundenen kognitiven Voraussetzungen, die Beobachtung und Kommunikation erst ermöglichen, kaum denkbar erscheint. Der systemtheoretische Blick fokussiert jedoch etwas anderes: er befaßt sich mit dem Abstrakt-Prozeßhaften, sich zwischen den individuel-len Akteuren Abspieindividuel-lenden; er analysiert den Operationsmodus des Informationsprozesses:

die Kommunikation. Aus dieser Perspektive erweist es sich als sinnvoll, in der Beschreibung von Lernvorgängen von menschlicher Individualität zu abstrahieren.

77 Wollnik 1998

78 Einschränkend hierzu ist natürlich denkbar, daß eine extrem feindlich veränderte Umwelt die Aufrechterhaltung der Systemautopoiese nicht mehr erlaubt, das System also aufhört zu existieren.

79 zur Kritik der Systemtheorie aus Sicht der Pädagogik s. Hof (1991)

Habermas verteidigt die Eigenständigkeit eines subjektgebundenen Begriffs der Lebenswelt gegenüber der ver-einheitlichenden Perspektive des Systembegriffs

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