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1.2. Organisationen als soziale Systeme

1.2.2 Entscheidungen und Erwartungen

Im folgenden sollen die zentralen Aspekte einer systemtheoretischen Interpretation der Kon-stitutionsmerkmale von Organisationen mit Bezug auf Luhmann (1984) skizziert werden:

Entscheidungen als konstitutive Basiselemente des Systems Organisation, Erwartungen als die Entscheidungen vorausgehenden, strukturbildenden Kognitionen, sowie der Prozeß der Autopoiesis als basale Operationsweise der Systemerhaltung und des daraus abgeleiteten Verhältnisses der Organisation zu ihrer Umwelt. Mit Rekurs auf Willke (1994), Scherf-Braune (2000) und Laßleben (2002) wird dieser Zugang konkretisiert und auf ein systemtheoreti-sches Konzept des organisationalen Lernens hin fokussiert (Kap.1.4.3).

Soziale Systeme konstituieren sich, indem sie sich durch Grenzziehung von ihrer Umwelt abheben. Dieser Prozeß basiert auf Autopoiesis und Selbstreferenz: soziale Systeme erzeu-gen erzeu-generative Mechanismen, mittels derer sie sich reproduzieren und evolutionär

20 Allein Gesellschaft als Ganzes stellt ein vollkommen operativ geschlossenes, autopoietisch sich selbst repro-duzierendes System dar. Zwar konstituieren sich auch gesellschaftliche Subsysteme (Familien, Peers, Organisa-tionen usw.) allein aus Kommunikationszusammenhängen, sie können sich allerdings nicht durch Kommunikation schließen (vgl. Luhmann 1988)

dern. Ihre elementaren Einheiten bestehen nicht aus Individuen – die als psychische Syste-me Teil der Umwelt des sozialen Systems sind – sondern aus einem Netz aus Kommunikati-onen. In einem selbstreferentiellen Prozeß erzeugen Kommunikationen wiederum Kommuni-kationen.

Intersystemische Beziehungen – etwa die zwischen Mensch und sozialem System – werden von Luhmann unter dem Begriff der Interpenetration analysiert (1984, Kap. 6). Individuum und Sozialsystem nutzen dabei wechselseitig ihre Komplexität um sich zu reproduzieren und Strukturen zu bilden. Die Vermittlung zwischen den konstitutiven Elementen psychischer Systeme (Gedanken) und denen sozialer Systeme (Kommunikationen) erfolgt über die Se-lektionsform Sinn, die beiden gleichermaßen zur Verfügung steht.

Das Verwenden von Sinn ermöglicht eine Begrenzung von Auswahlmöglichkeiten. Getroffe-ne Festlegungen sind zunächst kontingent; sie hätten auch anders fallen könGetroffe-nen. Sind sie jedoch getroffen worden, so sind an sie anknüpfende Operationen nicht mehr beliebig, son-dern unter dem Aspekt des Sinns gewählte. Dabei schwingen die latenten, nicht gewählten Möglichkeiten mit; sie werden als Optionen mitrepräsentiert und halten die Potentialität ande-rer Möglichkeiten offen.

Sinn als Form der Einschränkung von Anschlußmöglichkeiten der Kommunikation vermittelt sich in Organisationen etwa als spezifische Identität oder Kultur.

In der systemtheoretischen Lesart stellen Organisationen soziale Systeme dar, die sich durch eine spezifische Form der Kommunikation konstituieren, gegenüber ihrer Umwelt ab-grenzen und selbstreferentiell schließen: dem Operationsmodus der Entscheidung (vgl. Will-ke 1994, 153f.)21.

Entscheidungsstrukturen stellen sich ambivalent dar: sie sind an mehr oder weniger inkon-sistente und unpräzise individuelle Präferenzen gebunden, bzw. sie sind sozial instruiert, also an Regeln, Traditionen, Zwänge usw. geknüpft. Innerhalb Organisationen überformen strukturell gebundene Entscheidungsvariabeln im allgemeinen individuelle Präferenzen, da Regelverstöße sanktioniert werden können. Luhmann definiert den einer Entscheidung vor-aus gehenden Operationsmodus als Erwartung (1984, Kap. 8/VI). Mittels dieser analytischen Erweiterung kann die Entscheidung als spezifische Form des Handelns differenziert werden:

eine Handlung ist immer dann als Entscheidung aufzufassen, wenn sie sich auf eine an sie gerichtete Erwartung bezieht.

Kommunikationsprozesse manifestieren sich üblicherweise in Form Personen zurechenbarer Handlungen; sie erscheinen als beobachtbare Ereignisse, die Anschlußkommunikationen ermöglichen. Diese alleinige Betrachtungsweise greift allerdings zu kurz; Kommunikation im

21 Organisationssysteme sind soziale Systeme, die sich aus Entscheidungen konstituieren und Entscheidungen wechselseitig miteinander verknüpfen. "Sie sind Systeme, die aus Entscheidungen bestehen und die Entschei-dungene, aus denen sie bestehen durch die Entscheidungen, aus denen sie bestehen, selbst anfertigen" (Luh-mann 1988, 166)

Verständnis der Systemtheorie betont einen weiteren Aspekt: das Verstehen, ohne das Mit-teilung als sozialer Akt nicht gedacht werden kann. Jede Bezeichnung eines sozialen Ge-schehens als Handlung setzt die Beobachtung desselben voraus; es impliziert damit ein Ver-ständnis von Handlung, das es eben nicht als Handlung, sondern als Kommunikation aus-zeichnet (vgl. Kneer/Nassehi 1993, 86f).

Ein weiteres spezifisches Merkmal kennzeichnet Entscheidungen: sie äußern sich als präfe-renzorientierte Wahl zwischen Alternativen. Derartige Optionen sind einerseits geprägt durch individuelle Vorlieben; im Kontext organisationaler Entscheidungszusammenhänge sind Indi-vidualpräferenzen allerdings durch institutionelle Regelsysteme überformt. Diese manifestie-ren sich als organisationale Erwartungsstruktur, die an Entscheidungen gerichtet ist. Eine Entscheidung stellt somit eine Handlungsoption dar, die einer an sie gerichteten Erwartung folgt. Eine Handlung kann immer dann als Entscheidung aufgefaßt werden, wenn sie darauf reagiert, daß sie mittels einer Erwartung beobachtet wird.22

Die Konfrontation einer Handlung mit einer Erwartung erzeugt gleichsam die Entscheidung;

ihre Beobachtung unter der Perspektive der Erwartung – als konformes oder nonkonformes Handeln – deklariert sie zur Entscheidung.

Getroffene Entscheidungen führen zu Erwartungen an nachfolgende Entscheidungen; jede Entscheidung ist wiederum mit einem Spektrum an Erwartungen früherer Entscheidungen konfrontiert. Auf diese Weise entsteht eine organisationspezifische, virtuelle Matrix an Erwar-tungen, die Handlungen in (erwartungsbezogene) Entscheidungen überführt.

Prägnant läßt sich die Relationierung von Erwartungen und Entscheidungen folgendermaßen darstellen:

Erwartungen bilden die Struktur sozialer Systeme; sie sind für ihr Bestehen und über bloße Ereignishaftigkeit hinausreichendes zeitliches Überdauern konstitutiv: "für soziale Systeme (gibt es), weil sie ihre Elemente als Handlungsereignisse temporalisieren, keine anderen Strukturbildungsmöglichkeiten." (Luhmann 1984, 398). Dabei ist der Begriff der Erwartung als Sinnform und nicht als innerpsychischer Vorgang zu begreifen – er bezieht sich seman-tisch auf das selbstreferentielle System, das sich durch Erwartungen strukturiert (vgl. aa0 399).

Aufbauend auf dem Verständnis, daß Systemstrukturen als Erwartungsstrukturen zu begrei-fen sind, kann der Begriff der Entscheidung und seine Abgrenzung zur Handlung geklärt werden. "Von Entscheidung soll immer dann gesprochen werden, wenn und soweit die Sinn-gebung einer Handlung auf eine an sie selbst gerichtete Erwartung reagiert." (Luhmann 1984, 400). Auch Handlungen verlaufen erwartungsorientiert; die Spezifizifität einer

22 Die Entscheidung kann natürlich auch der an sie gerichteten Erwartung widersprechen, sich also nonkonform verhalten. Aber auch dann ist sie eine erwartungsgebundene Entscheidung.

scheidungslage ergibt sich jedoch erst dann, "wenn die Erwartung auf die Handlung oder ihr Unterbleiben zurückgerichtet wird, wenn sie selbst erwartet wird." (ebd; Hervorhebungen von S.B.). Erst diese Reflexivität des Erwartens erzeugt eine Entscheidungsoption und erzwingt eine Entscheidung zwischen den Alternativen Konformität und Abweichung.

Anders ausgedrückt: Die Erwartung erzeugt die Entscheidung und erzwingt somit eine Fest-legung. Diese festlegende Struktur vermittelt Sicherheit, indem sie Erwartungskontingenz fixiert und in Erwartungen an weitere nachfolgende Handlungen bindet – jede Entscheidung ist mit einer Vielzahl an Erwartungen aus vorangegangenen Entscheidungen konfrontiert.

Allerdings wäre es falsch, anzunehmen, Entscheidungen seien durch Erwartungen kausal determiniert. Eine Entscheidung kann einer an sie gerichteten Erwartung auch widerspre-chen.

Entscheidungen ist vielmehr eine dichotome Struktur immanent: als erwartungserzeugte und erwartungserzeugende Kommunikationsereignisse konstituieren sie Organisationen als au-topoietische Systeme. Indem Entscheidungen aus Entscheidungen entstehen, reproduziert sich das organisationale System kontinuierlich selbst aus seinen es selbst konstituierenden Elementen.23

Abb. 2: Selbstreferentielle Reproduktion von Entscheidungen und Erwartungen

23 Organisationstheoretische Ansätze, die Entscheidungen als zentrale Elemente organisationalen Handelns begreifen, reichen historisch weit hinter die neuere Systemtheorie zurück (vgl. Kieser 1995, 124f: Verhaltenswis-senschaftliche Entscheidungstheorie). Dieses Konzept betont die Bedeutung ordnungerzeugender formalisierter Kommunikationen und standardisierter Verfahren, die Komplexität und Unsicherheit reduzieren und so den Mit-gliedern einer Organisation ermöglichen, Entscheidungen auch auf Grundlage eines unvollständigen Informati-onshintergrunds zu treffen, dem typischen Problemfall in der Praxis.

Organisationsstruktur Erwartungshorizont

• Verhaltensfestlegung

• Transformation von Kontingenz

• Erwartungssicherheit

Entscheiden (erwartungsbezogenes

Handeln)

Koordination komplexer Handlungsformationen

bedingt beeinflußt

erzeugt

Effekt:

Dieser autopoietische Prozeß der Selbstreproduktion bedarf ordnender Strukturen, die die Gesamtheit prinzipiell möglicher produktiver Relationen zwischen Systemelementen ein-schränken und selektieren (vgl. Luhmann 1984, Kap. 8/II) Ohne Strukturbildung, ohne Ein-schränkung der im System potentiell zulässigen Relationen, wäre aufgrund der prinzipiellen Beliebigkeit möglicher Anschlußoperationen die Aufrechterhaltung der Systemautopoiese unwahrscheinlich.

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