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1.4. Das Lernen organisierter Sozialsysteme

1.4.2 Kritische Betrachtung des Konstrukts organisationales Lernen

Der Bezug auf ein gemeinsames Objekt des Lernens, nämlich die Erzeugung von Wissen, macht die Parallelisierung der Lernprozesse von Subjekten und Kollektiven – also im weite-ren Sinne auch von Organisationen – konzeptionell möglich. Wie Heiner (1998, 44) kritisch anmerkt, scheint es jedoch nur dann sinnvoll, von organisationalem Lernen als eigenständi-gem Phänomen zu sprechen, wenn dieses Lernen über eine andere Qualität als die Summe der Lernprozesse einzelner verfügt und wenn die Weise in der sich das Lernen überindividu-eller Lernsysteme vollzieht, Parallelen zum individuellen Lernen aufweist. Diese besondere Qualität überindividueller Lernprozesse läßt sich aus systemtheoretischer Sicht damit be-gründen, daß Systeme über Eigenschaften verfügen, die sich nicht aus der Summe ihrer Einzelelemente erklären lassen – dies ist etwa beim Auftreten des Phänomens der Grup-pendynamik zu beobachten, eines emergenten Prozesses, der in Einzel- oder Paarsituatio-nen nicht auftritt.

Zudem können Voraussetzungen für eine Verschränkung individuellen und kollektiven Ler-nens institutionalisiert werden, die produktive Prozesse ermöglichen: Individuen sind fähig, gemeinschaftliches Lernen anzuregen, können bzw. umgekehrt auch von diesen angeregt werden, was eine Dynamik der Veränderung der organisationalen Wissensbasis in Gang zu setzen vermag.

Ein viel zitiertes Bonmot der frühen Systemtheorie ist die – zunächst paradox anmutende – Behauptung, das Ganze sei 'mehr' als die Summe seiner konstitutiven Teile. Diesem Mehr muß jedoch nicht per se eine höhere Qualität als der Kumulation des Einzelnen zukommen.

So verweist Wiesenthal (1995) auf die unvermeidlichen Inkonsistenzen innerhalb der geteil-ten Wissensbasis eines Kollektivs, die dazu führen, daß dieses organisationale Wissen im Blick auf seinen tatsächlichen Nutzen ein qualitatives Weniger in Gegenüberstellung zur Summe der Einzelwissensbestände zukommt.

Ferner spielen hier auch strategische Individualüberlegungen mit eine Rolle, inwiefern es in einer spezifischen Situation geboten scheint, eigenes Wissen bewußt zurückzuhalten, etwa mit Kalkül auf persönliche Karriereschritte oder innerhalb Konkurrenzsituationen. Tatsächlich

68 in der Begrifflichkeit Argyris'/Schöns: 'private images', 'shared maps of the organisation'

scheint es hinsichtlich systemischer Emergenzeffekte sachdienlicher, nicht von einer höher-wertigen, jedoch andersartigen Qualität von Wissen und Lernen zu sprechen.

Die verbindenden kollektiven Erfahrungen erzeugen unter bestimmten Voraussetzungen eine emergente Struktur, die es rechtfertigt, von einem übersummativen und qualitativ hö-herwertigen Mehr eines Organisationssystems in Abgrenzung zu den sie konstituierenden Individuen auszugehen. H. Geißler kommt über diese gedankliche Figur zu der Ansicht, das Lernen der Subjekte innerhalb einer Organisation vom Lernen der Organisation, verstanden als übersubjektive Ganzheit, kategorisch zu trennen. "Dieses 'Mehr' verleiht dem Kollektiv subjekthafte Züge, denn es ist nicht nur das Produkt der einzelnen, sondern gewinnt auf-grund jenes 'Mehr' eine subjektive Eigenständigkeit und kann damit zum Interaktionspartner für alle einzelnen werden." (1995, 220).

Aus handlungstheoretischer Perspektive kann die Entstehung dieser neuen Qualität als Sys-tembildung aufgefaßt werden, die sich aus den Interaktionen der Einzelakteure konstituiert und über Regel- und Traditionsbildung zu immanenten Strukturen verfestigt.

Eine dergestalt systemische Betrachtungsweise legt es nahe, auf einen Quasi-Subjektstatus eines Kollektivs zu schließen. Problematisch erscheint diese Zuschreibung, wird dem Sub-jekt Organisation – als überindividuelle Einheit – ein höherer Stellenwert als den Einzelsub-jekten zugemessen und damit die realen Interessen und Rechte des einzelnen gegenüber den angenommenen des Kollektivs geringer gewichtet. Die Problematik des Diskurses um Organisationslernen liegt aus andragogischer Sicht in der Ausblendung der organisationalem Handeln immanenten Dimension der Macht. Die Negierung organisationsinterner Interes-sensgegensätze leistet einem rein idealistischen und harmonistischen, letztlich unpädagogi-schen Verständnis von Organisation Vorschub.

Die Weiterführung dieses Gedanken scheint problematisch: wenn Organisationen als jen-seits von reinen Zweckbündnissen angesiedelte und über diesen Aspekt hinausreichende soziale Gemeinschaften aufgefaßt werden, die Individuen mittels gemeinsam geteilter Erfah-rungen und kollektiver Überzeugungen an sich binden und eine "Kollektividentität" zuschrei-ben (Geißler 1995), bzw. Organisation als "Kollektivsubjekt" (Geißler 1998) interpretieren, liegen Analogien zu antidemokratischen Ideologien der Werksgemeinschaft nahe (Krell 1994).

Diese strukturelle Gleichsetzung von Subjekt und Kollektiv ist verschiedentlich kritisiert wor-den (Faulstich 1998, K.A. Geißler/ Orthey 1997, Heiner 1998,). Die modellhafte Vorstellung, Organisationen stellten ein System kollektiv geteilter Glaubensgewißheiten dar, übersieht, daß elementare Strukturen der Ungleichheit und Asymmetrien in der Zuschreibung von Macht Interaktionsprozesse in Organisationen überformen.

Parallelen finden sich auch zu kommunitaristischen Auffassungen. Der im kommunitaristi-schen Diskurs (Etzioni 1975) immer nur unbefriedigend gelöste Konflikt zwikommunitaristi-schen der

Ge-wichtung von Kollektivinteressen gegenüber Individualrechten findet hier eine auf gesell-schaftliche Subsysteme angewandte Fortsetzung. Die innerhalb dieser Diskussion tendentiell feststellbare Überbetonung der Erhaltung und Förderung der Gemeinschaft gegenüber dem Recht auf Selbstbestimmung findet eine Entsprechung in der organisationstheoretischen Theoriebildung, wenn dort der Versuch unternommen wird, Kollektiven Subjekthaftigkeit zu-zuschreiben.

Insgesamt erscheint also die in Konzeptionen der lernenden Organisation unterstellte – bzw.

durch Lern- und Vermittlungsprozesse angestrebte – Einheitlichkeit des Wollens nicht un-problematisch. Eine prinzipielle Offenheit, Lern- und Veränderungsbereitschaft der Individu-en wird antizipiert, der Diskurs um reale MachstrukturIndividu-en und HerrschaftsinteressIndividu-en hingegIndividu-en vernachlässigt.

Macht stellt eine zentrale Kategorie dar, an der sich das Handeln der Organisationsmitglieder orientiert. Türk (1989) begreift Organisationen als Arenen interessengeleiteter Interventio-nen, Aushandlungen und Konflikte, die nur temporär gültige Problemlösungen zulassen. Eine Organisation erscheint als Netzwerk von Gruppen- und Individualinteressen, die in ihrem Verhältnis zur Gesamtorganisation in einem permanenten Spannungsverhältnis stehen. Indi-viduelles Handeln ist immer auch Mikropolitik (Neuberger 1995, Felsch 1998), mit der Inten-tion, Einflußoptionen zu sichern und auszubauen. Im organisationalen Kontext kommen indi-viduelle Partikularinteressen und offiziell propagierte 'Gesamtinteressen' wohl selten zur De-ckung. Strategische Zielsetzungen bilden lediglich den Hintergrund, vor dem partikularisti-sche Auseinandersetzungen um Macht und Teilhabe ausgetragen werden.

Die Konzepte organisationales Lernen und organisationales Wissen – so kann argumentiert werden – basieren insgesamt auf lediglich voluntaristischen Vorstellungen der Beherrsch-barkeit organisationaler Veränderungsprozesse, die Kühl (2000) als Mythos der Mach-, Plan, Steuer- und Kontrollierbarkeit im Denken von Managern interpretiert. Veränderungsprozes-sen sind prinzipiell Unwägbarkeiten und Ungewißheiten immanent, die von den betriebswirt-schaftlich orientierten Konzepten des organisationalen Lernens jedoch ausgeblendeten blei-ben.

Interaktionsprozesse zwischen Individuen bilden die grundlegende Voraussetzung für das Lernen von Organisationen. Sie erkennen Phänomene im organisationalen Kontext als den Organisationszielen entgegenstehende Diskrepanzen und begreifen sie als notwendigen Anlaß für die Veränderung routinisierter Interaktionsmuster. Letztlich sind es die Subjekte, die eine Veränderung der Grundlagen vornehmen, die eine Organisation generieren.

Den Modellen Scheins (1995) und Senges (1996) ist – expemplarisch – eine divergierende Interessensstrukturen und reale Machtverhältnisse ausblendende, letztlich in Teilen antihu-manistische Sichtweise immanent (Faulstich 1998). Diese Konzepte rekurrieren auf ein

har-monistisches Modell sich entwickelnder Unternehmenskultur und organisationalen Lernens, in denen sich die Rolle des Individuums in der Entwicklung des Systems verflüchtigt.

K.A. Geißler /Orthey (1997) problematisieren die Ablösung des Lernbegriffs vom Subjekt und seine Anwendung auf theoretische Konzepte der lernenden Organisation. Lernen erscheine dort lediglich als Veränderungsmetapher, die mit der Unterscheidung von Wissen und Nicht-Wissen operiert. Aufgabe der Subjekte sei es, dieses Nicht-Wissen verfügbar zu halten und für das System Betrieb zugänglich zu machen. Es sei problematisch, in diesem Zusammenhang den Begriff Lernen anzuwenden, da lediglich die Rationalisierung von Veränderungsprozessen gemeint werde. Im Wesen der Ansätze intendiert sei die Organisierung der Zugänglichkeit individuellen Wissens mittels eines ganzheitlichen Zugriffsversuchs auf die Subjekte.

Von einer im pädagogischen Sinne lernenden Organisation könne jedoch nur dann gespro-chen werden, würde über pädagogische Prozesse (Selbst-)Reflexivität in das System imp-lementiert und diese als Strategie der Veränderung der eigenen organisationalen Identität nutzbar gemacht (vgl. hierzu Willke 1995, S. 306) 69.

M.E. wird diese Selbstreflexivität und eine damit gekoppelte Veränderungs- bzw. Entwick-lungslogik allerdings gerade in Theorien des organisationalen Lernens intendiert, indem auf den übergeordneten Lernebenen des Erschließungs- und Identitätslernens die Zielsetzungen der Organisation bzw. die Lernprozesse selbst Gegenstand einer Reflexion werden.

Unter systemtheoretischer Perspektive kann in diesem Kontext auf den Doppelcharakter von Lernen verwiesen werden: Lernen zielt erstens auf die Integration divergenter Impulse in bestehende Strukturen und auf die aktualisierbaren Möglichkeiten künftiger Prozesse. Zwei-tens bedeutet Lernen die Zuschreibung eines bestimmten Sinnhorizonts (Geißler, K.A.

/Orthey 1997, 12). Lernen in sozialen Systemen kann als Verbindung

kognitiv-bewußtseinsbezogener mit kommunikationsbezogenen Lernprozessen aufgefaßt werden;

Konzepte der lernenden Organisation sind auf die Rationalisierung dieses Zusammenspiels ausgerichtet.

Damit wird die Verwendung eines objektivistisch verstandenen Organisationsbegriffs in die-sem Zusammenhang jedoch problematisch: Ist lediglich beabsichtigt, eine Veränderung der strukturell gekoppelten personalen und sozialen Systeme zu organisieren und zu effektivie-ren, scheint es sinnvoller, von lernenden Systemen als von lernenden Organisationen zu sprechen.

69 Dieser Kritik wird im Argumentationsfortgang dieser Arbeit Rechnung getragen: Kap. 1.5 reflektiert Bedingun-gen eines andragogisch begründeten Diskurses um organisationales Lernen; Kap. 3.2 lotet die prinzipiellen Mög-lichkeiten aus, wie mittels Evaluationsprozessen eine Erhöhung des Reflexionsgrads eines Systems erzielt wer-den kann.

Entsprechend dieser prinzipiellen Bedenken gegenüber Ansätzen des Organisationslernens die psychologische Lernkonzepte adaptieren, favorisiere ich eine systemtheoretisch orien-tierte Perspektive. Dieser analytische Zugang bietet einige Vorzüge:

Dem Begriff Lernen ist eine subjektgebundene Konnotation immanent, die individuelle men-tale Aktivitäten impliziert. Damit bleibt der Begriff des Organisationslernens (also des Ler-nens von etwas anderem als Individuen) paradox und unklar. Ein systemtheoretisches Ver-ständnis von Lernprozessen – das sich ebenso auf 'psychische' wie soziale Systeme an-wenden läßt – ermöglicht es, von einer psychologisierenden Interpretation und dem Indivi-duum als Subjekt des Lernens zu abstrahieren. Dies wird durch einen fundamentalen Per-spektivwechsel erreicht: nicht Personen werden als Akteure eines Lernprozesses aufgefaßt;

vielmehr sind es bestimmte Weisen der Kommunikation innerhalb sozialer Systeme, die als Lernen zu begreifen sind und die Generierung einer systemischen Wissensbasis evozieren.

1.4.3. Das Lernen organisierter Sozialsysteme: eine systemtheoretische Perspektive

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