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kognitives System

2. Evaluation – Eine systemtheoretische Perspektive

2.2. Die Struktur von Evaluationsprozessen: ein systemtheoretischer Zu- Zu-gang

2.2.3 Evaluation als Entscheidungsoperation

Das Konstrukt Evaluation als Lernoperation bedarf einer weiteren Differenzierung hinsichtlich der verschiedenen möglichen Niveaus systemischer Lernprozesse. Als Reflexionsfolie eignet sich hierfür der Begriff der Irritation und seine Funktion als Lernanlaß.

Diskrepanzen in Bezug auf den systemischen Erwartungshorizont, die im Prozeß der Beo-bachtung von Umwelt erfolgen, vermögen Irritationen auszulösen. Diese können als "Verstö-rung des Eigenen, als Unterbrechung von Routinen und Selbstverständlichkeiten" (Schäffter 1997, 7) Anlässe zum Lernen darstellen. Irritation manifestiert sich damit als enttäuschte Erwartung. Dabei muß dieser Lernanlaß vom Prozeß des Lernens unterschieden werden;

letztlich bedarf es nämlich der Entscheidung des irritierten Systems, ob eine durch

58 der systemtheoretische Handlungsbegriff unterscheidet sich hier von demjenigen der Lernpsychologie

gen provozierte latente Lernbereitschaft tatsächlich in Lernen mündet – der Aufgabe und folgenden Änderung der enttäuschten Erwartung – oder ob, kontrafaktisch, an deren Auf-rechterhaltung festgehalten wird. Ein (Organisations-)System verfügt über die Freiheit, wider besseres Wissen auch nicht zu lernen. Irritation, eine in Unterschied zu einer Erwartung er-folgende Beobachtung, kann nur dann Lernprozesse auslösen, wenn aus ihr die Notwendig-keit einer kognitiven Klärung erfolgt.

Hier konkretisiert sich die Reflexivität des Erwartens (vgl. Luhmann 1984, Kap.8, VIII): die spezifische Struktur von Erwartungen bedingt, daß sie gleichsam erwartet werden können.

Diese Eigenheit führt jedoch zu paradoxen Bezügen: Erwarten erlaubt, auch seine Enttäu-schung mit zu erwarten – eine Strategie der Selbstimmunisierung gegen oftmals überle-bensnotwendige Veränderung. Dieser Fall wird häufig, wie bereits gezeigt, im Kontext der normativ modalisierten Erwartungen eintreten, während ihre Stilisierung als kognitive Erwar-tungsstrukturen Lernbereitschaft impliziert.

Mit Rekurs auf die Luhmannsche Differenzierung systemischer Erwartungsmodalisierungen benennt Schäffter (1997) Implikationen für eine "konstruktivistische Theorie pädagogischer Einflußnahme", die Bedingungen für Lernen konkretisieren (vgl. aaO, 8). Diese Aspekte auf-greifend, möchte ich strukturelle Merkmale von Evaluationsoperationen im Kontext von Lern-prozessen spezifizieren:

(1) Als lernfähig erweisen sich vor allem Systeme, deren Erwartungsstrukturen enttäu-schungsfähig sind. Die Differenz von Erfüllung/Enttäuschung von Erwartungen umfaßt die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen, innerhalb derer sich Lernprozesse vollziehen können. Die spezifische Wahrnehmungsfähigkeit eines Systems für Irritation, seine Sensibili-tät für Differenz, bestimmt das Maß seiner Veränderungsfähigkeit.

Evaluationsoperationen, begriffen als lernfähige Beobachtungen, erzeugen hierbei Klarheit, informieren, ob mit Entscheidungen, die auf Irritationen folgen, Erwartungen entsprochen wurde oder ob Diskrepanz vorliegt. Evaluation stellt seiner Struktur nach somit eine Ent-scheidung über erfülltes vs. enttäuschtes Erwarten dar.

(2) Unter der Differenz normativ vs. kognitiv modalisierter Erwartungen sind unterschiedliche Qualitäten des Lernens beobachtbar: Lernprozesse erfolgen auf einem ersten Niveau ledig-lich in der Weise einer Subsumption unter die unverändert bestehenden Ordnungsraster eines Sinnsystems; dieses basale Lernen kann sie sich auch unter dem Vorzeichen einer normativ modalisierten Erwartungsstruktur vollziehen. Mit Bezug auf die Begrifflichkeit Pia-gets läßt sich diese Form des Lernens als Assimilation beschreiben.

Auf einem zweiten Niveau evozieren Lernprozesse eine Anpassung i. S. einer Akkomodation existenter Erwartungsschemata. Derartiges Lernen bedingt eine Selbstveränderung des ler-nenden Systems. Eine auf diese Weise erfolgende lernende Aneignung in Form veränderter

Strukturen erfordert eine lernbereite, kognitive Erwartungsmodalisierung.

Evaluationsoperationen ermöglichen eine Reflexion von Irritationen dahingehend, ob ihre Bearbeitung innerhalb des bestehenden Strukturschemas – als assimilierendes Lernen – erfolgen kann, oder ob sie Lernprozesse höherer Ordnung bedarf, die eine akkomodierende Veränderung der kognitiven Erwartungen bedingen. Evaluation ist in diesem Zusammenhang in zweifacher Hinsicht eine Entscheidung über das Niveau des Lernens: als

summativ-retrograde Operation trifft sie eine bewertende Entscheidung über die erfolgte Weise des Lernens; als formativ-projektive Operation vermag sie, über die reflexive Beurteilung der vor-liegenden Irritation, die zu erfolgende Weise des Lernens zu antizipieren.

(3) Ein System erwartet nicht nur erwartungskonforme selbstreferentielle Operationen, son-dern richtet Erwartungen auch in Form von Beobachtungsantizipationen an seine Umwelt.

Allgemein werden Erwartungsstrukturen von Luhmann als Wissen deklariert, sofern sie unter dem Aspekt ihrer Veränderung beobachtet werden59. Erwartungsstrukturen als Wissen zu thematisieren, bedeutet, implizit bereits sie zur Disposition zu stellen und ihre Kontingenz zu erkennen. Eine kognitive Strukturen akkomodierende und Antizipationsmuster verändernde lernende Aneignung folgt divergenten Codierungsschemata: Lernen vollzieht sich einerseits entlang des Differenzmusters konform/abweichend, andererseits bezieht es sich auf die Dif-ferenz von Wissen/Nichtwissen

Lernen zielt nur auf demjenigen Reflexionsniveau auf die Generierung von Wissen, das die Differenz von veränderbar/erhaltenswert als Unterschied von Wissen/Nicht-Wissen themati-siert. Dabei wird der Wissensbegriff als "semantische Symbolisierung" (Luhmann 1984, 448) der einem System eigenen Kombination von festzuhaltenden und veränderten generalisier-ten kognitiven Erwartungen behandelt. Das Differenzmuster von Wissen vs. Nichtwissen führt zu reflexiven Wissensstrukturen, die rationale Entscheidungen über das Zulassen oder das Ablehnen irritierender Ereignisse erlauben. Diese elaborierte Form des Lernens grenzt sich dadurch vom assimilativen Aneignungsprozeß des basalen Lernens und dem Anpas-sungslernen entsprechend der Codierung konform/abweichend ab. Dieses Lernniveau darf impliziter Reflexionsprozesse die es entlang der Differenz von Wissen/Nichtwissen be-wertet. Gemäß der Argumentation meiner Arbeit zeichnen sich solche reflexiv-bewertenden Systemoperationen eben als Evaluationen aus. Evaluation ist somit als Teil des Prozesses der Wissensgenerierung zu begreifen: sie ist die mitlaufende Entscheidung über Wissen o-der Nicht-Wissen.

Die evaluierende Operation beschränkt sich nicht allein auf eine Entscheidung, der die Diffe-renz von konformem vs. abweichendem Verhalten zugrunde liegt; sie selbst stellt, indem sie

59 vgl. hierzu Luhmann (1984, 447f.): "Unter diesem Aspekt des Lernens (der Generalisierung, S.B.) werden Er-wartungen als Wissen behandelt."

die Annahme oder Ablehnung irritierender Umweltereignisse entlang der Differenz Wis-sen/Nichtwissen, sprich festzuhaltender vs. dispositiv-kontingenter Strukturen bewertet, ei-nen basalen Akt bei der Konstituierung von Wissensstrukturen dar.

Abb. 21: Evaluation als Entscheidungskommunikation: (1) Entscheidung über erfülltes vs. enttäusch-tes Erwarten; (2) Entscheidung über das Niveau des erfolgenden und erfolgten Lernens; (3) Entschei-dung über Wissen vs. Nicht-Wissen

Die Systemoperation Evaluation bedingt einen Lernprozeß; dieser ist jedoch vom Akt der Wissenserzeugung abzugrenzen. Die Genese von Wissen muß dabei als ein vorausset-zungsreicher und entsprechend unwahrscheinlicher Prozeß aufgefaßt werden60. Wissen e-mergiert – wie Kommunikation – am Ende eines hierarchisch gestuften, dreistufigen Selekti-onsprozesses (vgl. Willke 2002, 15f.):

Die erste Stufe bedarf des Vorliegens von Daten. Daten beruhen auf Beobachtung, die sich selektiv stets in Abhängigkeit des Möglichkeitsspektrums des zur Verfügung stehenden Beo-bachtungsinstrumentariums vollziehen. Die Setzung der Beobachtungsoperation als Basis

60 eine theoriebegründete Sichtweise, die sich auch mit unseren Alltagserfahrungen deckt Differenz von

erfüllter/enttäuschter Erwartung

Umweltereignisse Beobachtung I r r i t a t i o n

Evaluation:

für die Möglichkeit der Entstehung von Wissen, eröffnet den Vorteil, Beobachtungsoperatio-nen (und damit am Ende weiterer Selektionsprozesse letztlich auch die Wissensgenese) unabhängig von psychischen Systemen denken zu können: Beobachtung ereignet sich als Operation, die unterscheidet und das so Unterschiedene bezeichnet. Folgt man dieser Prä-misse, so kommt jedem System, das Unterschiede registrieren und diese speichern bzw.

dokumentieren kann (also auch Organisationssystemen), die Fähigkeit des Beobachtens zu.

Die zweite Selektionsstufe transformiert Daten zu Information; dieser Prozeß ereignet sich, wenn ein beobachtungsfähiges System sie als relevante Unterschiede bezeichnet, im Sinne Batesons als 'Unterschiede, die einen Unterschied ausmachen'. Relevanz ist nie objektiv definierbar, sondern systemabhängig; die Transformation eines Datums zur Information voll-zieht sich somit relativ zum Relevanzkontext eines spezifischen Systems. Die Konstruktion von Informationen, von In-Form-Bringungen bedarf also spezifischer Relevanzkriterien, die sich von System zu System unterscheiden. Dies relativiert und beschränkt die grundsätzliche Möglichkeit der Informationsübertragung61.

Schließlich bedarf es einer dritten Selektionsstufe, der die Aufgabe zukommt, die Gesamtheit an Informationen einer Systematisierung und Strukturierung zu unterziehen, die Informati-onsfülle in sinnhafte Zusammenhänge zu transformieren und unpassende Informationen herauszufiltern. Wissen stellt das Ergebnis eines Operationszyklus der Sinnerzeugung dar, der sinnhaften Herstellung von Ordnung aus Kontingenz. Sinnhafte Zusammenhänge lassen eine innere Ordnung erkennen, die durch kommunikative Praxis und deren Anbindung an Erfahrungskontexte überprüft werden kann und neuen Kontexten Bedeutung beimessen.

Diese Operation der Erzeugung von Sinn kann sich beiläufig und implizit vollziehen, etwa als Prozeß der menschlichen Sozialisation und Enkulturation, oder auch gezielt und explizit durch aktive Kumulation und Verknüpfung von Informationen organisiert werden.

Hierfür sind Reflexionsprozesse nötig, die neue Information entlang der Differenz von dispo-sitiven und erhaltenwerten Strukturen bewerten und eine Entscheidung über Veränderung oder Beibehaltung kognitver Erwartungen erfordern: Die reflexiven und bewertenden Merk-male solcher Prozesse zeichnen sie als evaluierende Operationen aus.

Dabei bedarf die Generierung relevanten Wissens der Entscheidungen für bestimmte Opera-tionen, die dadurch andere ausschließen und somit in der Folge immer auch Entscheidungen für ein komplementäres Nicht-Wissen darstellen (Willke 2002, 17). Unvermeidbar wird mit der Erzeugung von Wissen im Prozeß der Selektion auch Nicht-Wissen miterzeugt.

61 Diese epistemische Beschränkung verhält sich analog zur konstruktivistischen Interpretation von Lernprozes-sen: Lernergebnisse sind nicht planbar, sondern abhängig von den subjektiven biographischen Kontexten der Lernenden, die Wissensbestände in Form von Kognitionen aktiv aufbauen, um ihre Erfahrungswelt zu

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