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Funktionen von Evaluation im Kontext der prozessual-temporalen Struktur des organisationalen Lernens

kognitives System

3. Evaluation und organisationales Lernen

3.2 Funktionen von Evaluation im Kontext organisationalen Lernens

3.2.3 Funktionen von Evaluation im Kontext der prozessual-temporalen Struktur des organisationalen Lernens

Beobachtung ist Voraussetzung für Lernen; sie beruht auf dem Bezeichnen von Unterschie-den, ein Prozeß, der sich an einer systemspezifisch getroffenen, basalen Unterscheidung orientiert, der Leitdifferenz. Dabei ist die Beobachtung gegenüber ihrem Beobachtungs-standpunkt 'blind': sie kann sich nicht selbst beobachten. Dieses logisch-prinzipielle Problem wird von Luhmann mittels der Tautologie dargelegt, jeder Beobachter könne nur das sehen, was er sehen könne, und nicht das, was er nicht sehen könne. Eine nur auf den ersten Blick triviale Aussage, umreißt sie doch eine epistemologische Kernaussage der Systemtheorie:

"Jeder Beobachter kann nur mit den für ihn grundlegenden Unterscheidungen beobachten."

(Luhmann/Schorr 1988, 370).

Eine zentrale Aufgabe für organisationales Lernen scheint es somit, das Problem der partiel-len epistemischen Blindheit zu bearbeiten. Dies kann durch eine Perspektivenerweiterung, durch das Bedenken vernachlässigter Unterscheidungen geschehen, die im Anschluß wieder in den Prozeß der Beobachtung mit einbezogen werden – ein Prinzip, das als re-entry weiter oben beschrieben wurde.

Die potentielle Funktion von Evaluation in diesem Kontext ist evident. Sie kann als Instru-ment genutzt werden, das (neue) Unterscheidungen erzeugt und somit weiterreichende Per-spektiven der Beobachtung ermöglicht. Im Folgenden wird dieses Moment entlang des pro-zessualen Verlaufs organisationalen Lernens differenziert. Dabei bilden die Aspekte Lern-anlässe, Lernmotive, zentraler Lernprozeß und Lernergebnis die zeitlichen Orientierungs-punkte einzelner Phasen des Organisationslernens; diese werden mit den im Kontext des Konstruktivismusdiskurses zentralen Begriffen der Differenzwahrnehmung, Perturbation, Beobachtung 2. Ordnung und Reframing kontrastiert.

Lernanlässe: Ermöglichung von Differenzwahrnehmung durch Evaluation

Ausgangspunkt jedes Lernprozesses ist die Beobachtung von Differenz, von folgewirksamen Unterschieden. Die Sensibilisierung für Differenzen, die Entwicklung der Wahrnehmungsfä-higkeit von Unterschieden, ist somit selbst ein anzustrebendes Lernziel. Differenzlernen stellt einen Meta-Lernprozeß dar, eine Kompetenz, die befähigt Lernanlässe zu erkennen.

Nicht jede beobachtete Differenz erfordert daran anschließende Lernvorgänge; nicht jeder beobachtete Unterschied ist mit Blick auf die Stabilität der Organisationsstruktur relevant.

Wahrgenommene Differenzen bedürfen demnach der reflektierenden Bearbeitung und der Bewertung ihrer Bedeutung für die Systemautopoiese.

Differenzerfahrung steht komplementär zu Konsens und Identität. Lernprozesse setzen die Wahrnehmung von Heterogenität, den Perspektivenwechsel voraus. Der Anfang von Lernen setzt mit der Suche nach relevanter Differenz ein, mit der Entdeckung von Fremdheit

(Schäffter 1991). Evaluation eignet sich zum Auffinden von Unterschieden, indem sie diese in einem ersten Schritt benennt und in einer sich anschließenden Operation die Relevanz der Unterschiede hinsichtlich der Systemautopoiese bewertet.

Lernmotive: Bearbeitung von Perturbation

Da sich soziale Systeme als operativ geschlossene konstituieren, sind perturbierende Mo-mente – etwa sich verändernde Umweltvariablen – nicht selbst als instruierende Determinan-ten aufzufassen. Umweltereignisse vermögen zu irritieren und machen möglicherweise Sys-temveränderungen nötig, können diese jedoch nicht hervorrufen; Veränderungen werden allein durch die Struktur des betreffenden Systems bedingt (Maturana/Varela 1987).

Lernen – verstanden als Veränderung kognitiver Strukturen – vollzieht sich, wenn ein assimi-liertes Schema anstelle der erwarteten Ergebnisse zu Störungen führt und sich an diesen Störungen weitere mentale Prozesse in Form neuer Akkomodationen anschließen, die dann eine neue Äquilibration, eine Homöostase zum Ergebnis haben (von Glasersfeld 1994, 34f.).

Diese in der Tradition Piagets stehende Auffassung der menschlichen kognitiven Entwick-lung ist auch auf soziale Systeme übertragbar. Unterschiede in der Beobachtung können Perturbationen eines Organisationssystems nach sich ziehen, die wiederum Anlässe für die Generierung neuer Schemata darstellen, das System somit zum Lernen motivieren.

Evaluative Operationen eignen sich hierbei, den Reflexionsgrad des Systems zu erhöhen:

Die reflektierende Bewertung beobachteter 'Störungen' ermöglicht Entscheidungen darüber, ob das Beobachtete ausgeschlossen bleibt, als Nicht-Passendes ignoriert oder als perturbie-rende Größe zugelassen wird. Erscheinen Perturbationen dergestalt, daß sie die Viabilität der Systemoperation, den Erfolg der assimilierten Schemata in Frage stellen, bedarf es einer Akkomodation der organisationalen Wissensbasis. Dieser Prozeß kann sich evolutionär-zufällig vollziehen, oder durch evaluierend-reflexive Operationen gesteuert, was eine effizien-tere und zielführende kognitive Strukturveränderung zur Folge haben könnte.

So vermögen evaluative Operationen, indem sie die Relevanz perturbierender Ereignisse relativieren, einerseits ein System vor einer kontraproduktiven Veränderungsdynamik zu schützen; andererseits informieren sie frühzeitig über Störungen, die den Selbsterhalt des Systems gefährden könnten.

Zentraler Lernprozeß: Beobachtung 2. Ordnung als Evaluationsoperation

Soziale Systeme sind beobachtende Systeme. Beobachtung ist Voraussetzung jeder Er-kenntnis; wobei Beobachtung auf der Verarbeitung von Differenzen basiert und als interne Systemoperation aufgefaßt werden muß5. Die Qualität der Beobachtungsoperationen ist für den Erfolg der Systemautopoiese ein entscheidendes Kriterium. Um die Weise, in der ein

5 vgl. zusammenfassend Willke 1998

System beobachtet, selbst beobachten zu können, bedarf es eines crossing, eines Über-schreitens der Grenzlinie zwischen Beobachter und Beobachtetem, denn die zum Zwecke der Beobachtung vorgenommene Unterscheidung kann nicht auf Basis der selben Unter-scheidung beobachtet werden.

Die Reflexion des Beobachtens ist nur von einem außerhalb der primären Beobachtung lie-genden Standpunkt aus möglich, in Form einer Beobachtung zweiter Ordnung. Für das Ler-nen eines Systems ist diese über selbstreflexive OperatioLer-nen getroffene Entscheidung für die Wahl eines Beobachtungsstandpunkts zentral; sie ermöglicht zu erkennen, wie ein Sys-tem seine Wirklichkeit, seine Interpretationsweise von sich selbst und seiner Umwelt erzeugt.

Diese Beobachtung der Beobachtung kann sich auch reflexiv, in Form einer Selbstbeobach-tung vollziehen, als Selbstreflexion des Prozesses, wie Unterscheidungen als basale Vor-aussetzung für sich anschließendes Lernen getroffen werden.

Stellt ein System diesen Reflexionsprozeß in Beziehung zu seiner als Aufforderungen, Pro-gramme, Ziele und Werte manifestierten Erwartungsstruktur, so wird sich die Qualität dieser Operationen, die Beurteilung, ob sie für das Erreichen dieser Kategorien maßgebliche As-pekte darstellen, erhöhen. Diese Verbindung von Reflexions- und Bewertungsoperation stellt die Form einer Evaluation dar.

Als Konsequenz dieses selbstreflexiven Prozesses können sich Strukturänderungen an-schließen – das System lernt. Da dieses Lernen die Identität des betreffenden Systems be-rührt, vollzieht es sich auf der Stufe des Deutero-Lernens.

Lernergebnis: Bewertungsoperationen als Reframing

Umdeutungen und Umbewertungen beobachteter Ereignisse können zu produktiven Lerner-gebnissen führen6. Damit jedoch stabile Veränderungen des Gewohnten und daran an-schließende neue Deutungen überhaupt erschlossen werden können, bedarf es eines Mo-ments des Innehaltens, der eine qualifizierte Reflexion und Bewertung des Beobachteten erlaubt.

Evaluation kontrastiert Beobachtetes mit den systemimmanenten Deutungsmustern und In-terpretationstendenzen und erleichtert somit die Änderung von Systemstrukturen, die sich als nicht mehr passende erweisen – Evaluation evoziert gewissermaßen ein Reframing7 struktu-reller Systembereiche.

Dieser Prozeß der Evaluation stellt einer Organisation ein Bewertungsinstrumentarium zur Hand, die ihr außerhalb ihres strukturellen Erwartungshorizonts liegende Entscheidungen

6 So kann etwa die Beobachtung, daß das Leistungsangebot einer Organisation aktuell nur noch eine geringe Nachfrage erfährt, als manifeste Bedrohung erlebt werden, oder alternativ, als Herausforderung zu lernen, wie Leistungen nachfragekonform modifiziert bzw. ihre Herstellung effizienter gestaltet werden kann.

7 Reframing bezeichnet das Umbewerten und Neueinordnen von Information in andere Zusammenhänge; nicht (mehr) viable Weisen der Problembearbeitung etwa bedürfen einer Umbewertung, einer 'Neu-Rahmung' (Watz-lawick 1987).

und damit Lernen erlaubt. Die Entscheidung, Beobachtetes entgegen der an sie üblicherwei-se gerichteten Erwartung zu interpretieren, ermöglicht 'transformatives Lernen' (Mezirov 1997). Als dessen Ergebnis kann sich ein Reframing vollziehen; Umweltinterpretationen, die sich als nicht mehr viabel erweisen, werden durch passendere ersetzt.

Lernanlaß Lernmotiv zentraler Lernpro-zeß

Abb. 30: Prozessual-temporale Struktur der Evaluation im Kontext organisationalen Lernens

Evaluation im Kontext der prozessual-temporalen Struktur des organisationalen Ler-nens. Resümee:

Evaluationsoperationen können parallel des temporalen Verlaufs organisationaler Lernpro-zesse implementiert werden. Innerhalb jeder Lernphase vermögen sie eine produktive, dem Verlauf des Lernens angepaßte und diesen günstig beeinflussende Funktion auszuüben.

• Evaluation bezeichnet Lernanlässe als solche und greift diese als systemrelevante The-men auf, indem sie wahrgenomThe-mene Differenz reflektiert und deren Relevanz für die Sys-temreproduktion bewertend kommuniziert.

• Auslöser organisationaler Lernprozesse können perturbierende Ereignisse sein. Evalua-tionsoperationen nehmen dabei eine wichtige Kontrollfunktion wahr – sie entscheiden über die Bedeutung perturbierender Kommunikationen bzgl. der Aufrechterhaltung der Systemautopoiese und erzeugen die Entscheidungsgrundlage über deren Zulassen als Lernauslöser oder deren Ausschluß.

• Der zentrale Lernprozeß, der Lernvorgang im engeren Sinne, läßt sich als ein Prozeß der Beobachtung zweiter Ordnung charakterisieren, als Beobachtung, die nicht nur Unter-schiede, sondern informierende Unterschiede generiert. Evaluation fungiert hierbei als Selbstbeobachtung eines Systems, die reflektiert und bewertet, auf welche Weisen ein System Entscheidungen vornimmt.

Evaluationsfunktion

Systemoperation Lernabschnitt/

-phase

• Als Lernergebnis kann eine Organisation eine Neubewertung und Umdeutung, ein Re-framing seiner Strukturen vornehmen. Evaluation sensibilisiert für solche Prozesse der Transformation, indem sie systematisch gewohnte Deutungsmuster und Interpretations-tendenzen einerseits in Bezug auf ihre Umweltpassung, andererseits in Bezug auf kon-kurrierende systeminterne Interpretationsmuster reflektiert und neu bewertet.

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