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Musikalität, nicht-kognitive Persönlichkeitsmerkmale und Androgynie

2. THEORETISCHER HINTERGRUND

2.4 M USIKALITÄT

2.4.5 Musikalität: Einflussfaktoren, Korrelate, empirische Untersuchungen

2.4.5.3 Musikalität, nicht-kognitive Persönlichkeitsmerkmale und Androgynie

Nicht nur Intelligenz und Kreativität, auch nicht-kognitive Persönlichkeitsmerkmale werden mit musikalischer Expertise in Verbindung gebracht. Umfangreiche Untersuchungen zu Per-sönlichkeitsmerkmalen von Musikern stammen von KEMP (1981, 1982, 1996). Der Autor untersuchte Musiker verschiedenen Alters, unterschiedlichen Grads an Expertise sowie unter-schiedlicher Bereiche musikalischer Betätigung anhand des 16 PF bzw. des High School Per-sonality Questionnaire (HSPQ) von CATTELL (CATTELL, EBER & TATSUOKA, 1970; CATTELL

& CATTELL, 1975). Dabei konnte er zeigen, dass Musiker ab dem Jugendalter ein Persönlich-keitsprofil aufwiesen, welches sich im Vergleich zur Norm deutlich abhob (für eine Übersicht s. KEMP, 1996). Erwachsene Instrumentalisten (Musikstudenten) erwiesen sich dabei als re-servierter, nüchterner und selbstgenügsamer, impulsiver, besorgter und angespannter, sensib-ler und unkonventionelsensib-ler sowie intelligenter und gewissenhafter. Jugendliche Instrumentalis-ten zwischen 13 und 17 Jahren waren innerlich zurückhaltender und selbstgenügsamer, ge-horsamer und sensibler, intelligenter sowie gewissenhafter und kontrollierter als die Norm.

KEMP berichtet von Beobachtungen, dass bei besonders jungen Musikern ein deutlicher Hang zur Unterordnung besteht, der mit zunehmendem Alter immer mehr der bei älteren Jugendli-chen und Erwachsenen beobachteten Unabhängigkeit und Selbstgenügsamkeit weicht. Ge-schlechtsunterschiede traten nur bei der Untersuchung professioneller Musiker zu Tage, wo sich Männer als unkontrollierter, skeptischer und radikaler als die männliche Norm erwiesen, während Frauen in diesen Bereichen keine Auffälligkeiten zeigten, dafür aber angespannter und dominanter waren. Bei der Berechnung von Faktoren höherer Ordnung zeichneten sich Musiker insgesamt durch eine erhöhte Introversion, Pathemia (Gefühlsbetontheit) und Intelli-genz aus. Bei Jugendlichen und Studenten trat zusätzlich ein Hang zur Wohlerzogenheit auf, wobei speziell die Jugendlichen auch eine stärkere Abhängigkeit, die Studenten hingegen eine höhere Ängstlichkeit aufwiesen. Bei professionellen Musikern wurde auch über erhöhte Un-abhängigkeit, Natürlichkeit und Subjektivität berichtet (KEMP, 1981a, S. 8). Insgesamt erwie-sen sich Musiker also als introvertiert und empfindsam, mit geringerem Bedürfnis nach sozia-len Kontakten als Gleichaltrige. Mit zunehmendem Alter treten Facetten wie

Unkonventiona-lität und Impulsivität, wie auch Unabhängigkeit stärker zu Tage. KEMP befindet die von Mu-sikern gezeigte Introversion als entscheidend, da bei besonders talentierten MuMu-sikern dieser Aspekt, gepaart mit einer im Vergleich zu weniger talentierten Musikern erhöhten Ängstlich-keit, noch deutlicher zu verzeichnen war. Ein ähnliches Muster konnte der Autor auch bei einer Untersuchung an Komponisten nachweisen, so dass auch ein vermuteter Zusammenhang mit musikalischer Kreativität besteht (KEMP, 1981b).

MANTURZEWSKA (1978) berichtet aus ihrer Untersuchung an der polnischen Musikhoch-schule über sehr ähnliche Ergebnisse. Auch hier zählten unter anderem Nonkonformismus, Individualität und geringere emotionale Stabilität zu den hervortretenden Merkmalen der Musikstudenten. LOREK (2000) versuchte, die von KEMP gefundenen Ergebnisse in der schon erwähnten Untersuchung an Schülern eines Weimarer Musikinternats zu replizieren. Sie fand ein Persönlichkeitsprofil, was nach ihren Angaben in den Bereichen Intelligenz, Sensibilität, Angespanntheit, emotionale Stabilität und Unterordnung dem von KEMP gefundenen Profil ähnelt, macht aber keine Signifikanzangaben. Introversion und Selbstgenügsamkeit konnte sie weniger nachweisen, führt dies aber auf die Besonderheit ihrer Stichprobe von Internatsschü-lern zurück, da in diesem Umfeld der sonst in der Musikwelt weit verbreitete Konkurrenz-druck weniger relevant sei.

SCHIMIKOWSKI, HEMMING und KLEINEN (2003) führten eine Untersuchung an einer klei-nen Stichprobe von 28 Musikern aus populärer Musikrichtung durch und konnten Besonder-heiten nachweisen, die an das von KEMP gefundene Profil erinnern. Musiker wiesen erhöhte Werte in den Faktoren Intelligenz, Dominanz, Überschwänglichkeit, Sensibilität, Unkonven-tionalität, Radikalismus sowie niedrigere Werte in den Bereichen Moralbewusstsein und Selbstkontrolle auf. Dabei berichten die Autoren, dass zwischen Männern und Frauen kaum Unterschiede auftraten. Diese Beobachtung deckt sich mit der anderer Autoren. KEMP (1985) berichtet in seinen Untersuchungen von vergleichbaren Ergebnissen und weist auf einen Zu-sammenhang zwischen Musikalität und Androgynie hin. Demnach verfügen Musiker beiderlei Geschlechts jeweils über stärkere Ausprägungen der Geschlechtsstereotype des eigenen sowie des jeweils gegenteiligen Geschlechts, während die Unterschiede zwischen den Geschlechts-gruppen nur gering sind. KEMP (1985) schließt daraus, dass Musiker über ein besonders brei-tes Verhaltensspektrum verfügen, welches es ihnen erlaubt, auf eine Vielzahl von Situationen adäquat einzugehen. WOODY (1999) vertritt die Meinung, dass bestehende Androgynie bei Personen dazu führt, sich eher für eine musikalische Betätigung zu entscheiden. Er hält dieses Persönlichkeitsmerkmal für relevant für eine intensive Beschäftigung in einem kreativen Be-reich. Verschiedene Untersuchungen der Beziehung zwischen Musikalität und Androgynie

hat HASSLER (1985) durchgeführt. In der schon erwähnten Längsschnittuntersuchung hat sie neben der räumlichen Begabung von Jugendlichen mit musikalischen Fähigkeiten auch deren Androgynie erfasst. Ihrer Annahme nach sollte ein Zusammenhang zwischen musikalischer Begabung, räumlichen Fähigkeiten und Androgynie bestehen. Die Ergebnisse waren unein-heitlich, lediglich bei den Jungen ließ sich ein derartiger Zusammenhang nachweisen. Darüber hinaus ließ sich ein Zusammenhang zwischen Kompositionsfähigkeit und Androgynie fest-stellen (HASSLER, BIRBAUMER & FEIL, 1985). Bei Mädchen fand sich darüber hinaus auch ein Zusammenhang mit Musikalitätstestwerten (HASSLER, 1990). Zusätzlich wurde bei der schon bei HASSLER (1985) beschriebenen Stichprobe von Instrumentalisten und Komponisten ver-sucht, erhöhte psychologische Androgyniewerte auch auf physiologischer Ebene anhand von Testosteronkonzentration nachzuweisen (HASSLER, 1990). Komponistinnen sowie Komponis-ten wiesen dabei eine deutlich erhöhte physiologische Androgynie auf. Darüber hinaus fand die Autorin einen Zusammenhang zwischen räumlicher Begabung und physiologischer sowie psychologischer Androgynie in allen Versuchsgruppen. Aufgrund der schon erwähnten me-thodischen Mängel können die erhaltenen Ergebnisse allerdings nur explorativ bewertet wer-den.

Einige Untersuchungen bieten einen Hinweis darauf, dass zwischen Musikern unter-schiedlicher Instrumentengruppen Unterschiede hinsichtlich ihrer Persönlichkeitsmerkmale auftreten. KEMP (1996) berichtet aus seinen Untersuchungen von einer besonders hohen emo-tionalen Instabilität bei Streichern, während bei Holzbläsern im Vergleich zu Musikern all-gemein stärkere Geschlechtsunterschiede auftraten. Hier erwiesen sich Männer als besonders selbstgenügsam, dafür aber emotional stabil und zeigten nur eine geringe Angespanntheit.

Frauen waren kontaktfreudiger, dafür aber emotional instabiler und angespannter. Blechbläser erwiesen sich als extrovertierter, Männer dieser Gruppe darüber hinaus im Vergleich zu ande-ren Musikern als weniger sensibel und intelligent. Diese Befunde stimmen zu einem großen Grad mit den Stereotypen überein, die auch von Musikern den einzelnen Instrumentengrup-pen zugewiesen werden (BULIONE & LIPTON, 1983; BELL & CRESSWELL, 1984; CRIBB &

GREGORY, 1999; LIPTON, 2001). WOODY (1999) nimmt an, dass bereits Eltern bei der Wahl eines Instruments für ihr Kind gemäß den mit den Instrumentengruppen verknüpften Stereo-typen handeln, was zu dem beobachteten Zusammenhang führe. Dagegen spricht, dass CRIBB

und GREGORY (1999), die in ihrer Untersuchung neben Stereotypen auch tatsächliche Persön-lichkeitsmerkmale der Musiker erfassten, den Zusammenhang nur in Form einer erhöhten emotionalen Instabilität bei Streichern nachweisen konnten. Jedoch war die untersuchte Stichprobe recht klein und bestand nicht aus Musikern aus dem klassischen sondern aus dem

Irish-Folk-Bereich. Insgesamt weist einiges darauf hin, dass es zwischen einzelnen Instrumen-tengruppen Unterschiede hinsichtlich des Persönlichkeitsprofils gibt, letztendlich scheint aber im Vergleich zu Nicht-Musikern immer noch ein spezifisches Profil zu existieren, in dem zwischen Musikern und Musikerinnen mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede bestehen.

Unklar ist bislang, ob die beobachteten Besonderheiten in den Persönlichkeitsprofilen von Musikern das Produkt von Selektionseffekten oder aber ein Anpassungsphänomen sind.

Längsschnittuntersuchungen, die diese Frage zum Gegenstand haben, gibt es mit Stichproben von Musikern nicht. Von BAKKER (1988; 1991) stammt eine Studie mit 35 Schülerinnen in einem Ballettinternat, die er sowohl zum Zeitpunkt der Aufnahme mit 11-12 Jahren als auch zwei Jahre später ein weiteres Mal untersuchte. Darüber hinaus erhob er auch Persönlich-keitsmerkmale der Schülerinnen, die ihre Ausbildung abgebrochen hatten (N = 15). Ähnlich wie Musiker erwiesen sich Tänzer im Vergleich zu Nicht-Tänzern als introvertierter, ängstli-cher und emotional instabiler, was sich bereits zum Zeitpunkt der Aufnahme zeigte. BAKKER

nahm drei unterschiedliche Möglichkeiten für das Zustandekommen eines Zusammenhangs zwischen Tanz und spezifischen Persönlichkeitsmerkmalen an: Selektion, in dem Sinne, dass ein bestimmtes Persönlichkeitsprofil eher zu erfolgreichem Tanzen befähigt, Selbstselektion, wobei das Persönlichkeitsprofil Ausschlag gebend für die Interessensbildung gewesen sein sollte und soziale Anpassung, d.h. Entwicklung eines Profils durch die Beschäftigung mit Tanz. Er fand heraus, dass das berichtete Persönlichkeitsprofil während der beobachteten zwei Jahre konstant blieb und dass es zwischen Ausbildungsabbrechern und weiterhin erfolgrei-chen Tänzern kaum Unterschiede hinsichtlich ihrer Persönlichkeitsmerkmale gab, was er als einen Hinweis für die Selbstselektionshypothese wertet. Die Anpassungshypothese schließt er aus, da sich das beobachtete Persönlichkeitsprofil bereits zum Zeitpunkt der Aufnahme ge-zeigt hatte. Da der untersuchte Zeitraum des Längsschnitts nur sehr kurz und die Stichproben sehr klein waren und zudem ausschließlich aus Mädchen bestanden, hat die Untersuchung leider nur einen explorativen Charakter.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass im Zusammenhang mit Musikalität ebenfalls ein spezifisches Persönlichkeitsprofil auftritt, welches sich deutlich von der Norm abhebt.

Auch wenn die Ergebnisse nicht immer eindeutig sind, erwiesen sich Musiker in den meisten Untersuchungen als selbstgenügsam, eher introvertiert, sensibel, aber auch unkonventionell und individualistisch sowie eher emotional instabil. Diese Merkmale waren mit zunehmen-dem Alter sowie fortschreitender Expertise stärker zu verzeichnen. Darüber hinaus waren Unterschiede zwischen Männern und Frauen oft geringer als in der Normalbevölkerung. In mehreren Studien konnte eine erhöhte Androgynie nachgewiesen werden, die zum Teil sogar

auf physiologischer Ebene untermauert werden konnte. Die Längsschnittuntersuchung an klassischen Balletttänzerinnen kann als ein vorsichtiger Hinweis interpretiert werden, dass es sich bei den systematischen Abweichungen der Persönlichkeitsprofile möglicherweise um das Produkt eines Selbstselektionseffektes handelt.