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2. THEORETISCHER HINTERGRUND

2.4 M USIKALITÄT

2.4.2 Modellvorstellungen

2.4.2.1 Begabungsmodelle für Musikalität

Auch bei Modellvorstellungen zu Musikalität besteht bislang keine Einigkeit, sowohl im Hin-blick auf verwendete Begriffe wie auch der generellen Konzeption eines Modells. Die Ursa-che hiefür mag in den teilweise sehr unterschiedliUrsa-chen Wissenschaftskulturen der verschiede-nen Fachrichtungen liegen, welche die direkte Vergleichbarkeit und Integration einschränken.

In vielen Modellvorstellungen finden sich deutliche Einflüsse aus der Intelligenzforschung wieder. In den frühen Modellen zu Beginn des letzten Jahrhunderts findet man hier ebenfalls eine Kontroverse bezüglich der Anzahl der Faktoren, mit denen sich Musikalität beschreiben und messen lässt. Überwiegend wird angenommen, dass es sich bei Musikalität um ein nor-malverteiltes Merkmal handelt. Demnach sind vollkommen unmusikalische Personen genauso selten, wie musikalisch hochbegabte (vgl. GEMBRIS, 1998, S.110). Das erste differenzierte Modell für musikalische Begabung stammt von SEASHORE (1919). Der Autor geht von einem multifaktoriellen Modell aus, nach welchem sich Musikalität aus einer Reihe von voneinander unabhängigen Faktoren, wie z.B. Tonhöhenunterscheidung, Lautstärke- oder

Tonlängen-wahrnehmung zusammensetzt. RÉVÉSZ (1946) oder WING (1968) nehmen hingegen für Musi-kalität ein Generalfaktormodell, vergleichbar dem dargestellten Modell für Intelligenz von SPEARMAN (1927, s.o.) an. Nach der Auffassung dieser Autoren lässt sich Musikalität nicht in einzelne Teilfähigkeiten unterteilen, sondern ist Teil der ganzen Persönlichkeit, wie RÉVÉSZ

schon in seinen Definitionsvorschlägen konstatiert. Den Modellvorstellungen zufolge handelt es sich bei Musikalität um eine Begabungsform, die sich zwar in verschiedenen Bereichen zeigt, wobei die Fähigkeiten in diesen Bereichen jeweils nur Ausdruck des Gesamtfaktors Musikalität sind.

In den Modellvorstellungen von GORDON (1986) finden sich Aspekte von beiden Ansät-zen wieder. Der Autor geht davon aus, dass Musikalität zwar in verschiedene Unterfaktoren zerlegbar ist, diese jedoch nicht unabhängig voneinander sind. Nach GORDON ist nicht davon auszugehen, dass eine Person über eine gleich hohe Begabung in allen Teilbereichen verfügt.

Es besteht die Möglichkeit, in einem Bereich überdurchschnittlich, in anderen dagegen nur durchschnittlich oder unterdurchschnittlich begabt zu sein. Über die Art der Interaktionen zwischen einzelnen Teilbereichen macht der Autor keine Angaben. Neues Konzept in dem von GORDON entwickelten Ansatz ist das Prinzip der Audiation. Dieses Prinzip beinhaltet nach Ansicht des Autors ein Verständnis für Musik, was über die rein physikalische Verarbei-tung hinausgeht. Um musikalisch zu sein, benötigt eine Person seiner Meinung nach die Fä-higkeit, sich Musik auch unabhängig von physikalischen Reizen vorstellen zu können. Diese Fähigkeit setzt GORDON gleich mit der Funktion des Denkens für die Sprache und bezeichnet sie als Audiation (GORDON, 1986).

Allen drei Modellvorstellungen ist gemein, dass sie den Schwerpunkt auf sensumotori-sche Fähigkeiten legen. Das Hören von Tonintervallen, das Wiedererkennen von Rhythmen sowie der Vergleich kurzer Melodien und Phrasen nehmen einen zentralen Stellenwert ein.

Sie sollen angeborene Begabungskomponenten von Musikalität erfassen. Lediglich GORDON

berücksichtigt in seiner Modellkonzeption auch Sensitivitätsaspekte von Musikalität, wie Stilwahrnehmung und Melodiepräferenz. Die Autoren gehen selbst davon aus, dass in den von ihnen konzipierten Modellen nur ein Teil von Musikalität erklärt wird. Sie bezeichnen die beschriebenen Fähigkeiten als eine Grundvoraussetzung für musikalische Begabung.

GARDNER (1985) nimmt in seinem Modell multipler Intelligenzen eine gesonderte musi-kalische Intelligenz an. Nach seiner Theorie sind Begabungen in verschiedenen Bereichen voneinander unabhängig und werden von ihm jeweils als gesonderte Intelligenz in diesem Bereich definiert. Neben linguistischer, mathematisch-logischer, räumlicher Intelligenz und anderen Intelligenzen existiert nach GARDNER auch eine musikalische Intelligenz, die keinen

Zusammenhang zu anderen Intelligenzen aufweisen soll. Argument hierfür ist, dass musikali-sche Begabung spezifimusikali-schen Gehirnbereichen zuzuordnen sei, die nicht für andere Intelligenz-formen zuständig seien. Eine Untersuchung von HUNTSINGER und JOSÉ (1991) konnte diese Grundannahme jedoch widerlegen. Sie erfassten das Kurzzeitgedächtnis für Zahlen sowie für Töne, wobei es sich nach GARDNER um unabhängige Funktionsbereiche handelt. Die Ergeb-nisse ließen jedoch keinen Schluss auf eine derartige Unabhängigkeit zu, da Korrelationen im Bereich von r = .60 bis r = .80 zwischen beiden Bereichen auftraten.

2.4.2.2 Musikalität: Expertise vs. Begabung

Die bisher beschriebenen Modellvorstellungen gehen implizit von Musikalität als einer, zu-mindest teilweise, angeborenen Begabung aus, die sich nur eingeschränkt trainieren und wei-terentwickeln lässt. Deshalb wird der Versuch unternommen, musikalische Begabung anhand von Testverfahren möglichst früh zu erfassen (s. z.B. GORDON, 1968). ERICSSON (1996b) pos-tuliert in dem von ihm konzipierten Expertise-Modell eine kontroverse Sichtweise. Seiner Meinung nach spielen, wie auch in anderen Leistungsbereichen, angeborene Faktoren bei der Entstehung von musikalischer Leistung keine entscheidende Rolle. Nach ERICSSON ist jede Art von musikalischer Leistung lediglich ein Produkt vorangegangener Übung. Dabei wird davon ausgegangen, dass für eine herausragende musikalische Leistung extensive und zielge-richtete Übung über einen Zeitraum von mindestens zehn Jahren erfolgt sein muss. Wenn auch ERICSSON in seinem Modell einen Extremstandpunkt vertritt, so wird der Expertise-Ansatz dennoch von einer Reihe von Autoren in abgemilderter Form aufgegriffen (vgl.

GEMBRIS, 2002, S. 154). Dabei wird das Vorhandensein von angeborenen Begabungsfaktoren nicht geleugnet, deren Bedeutsamkeit jedoch gegenüber Übungsfaktoren als zweitrangig an-gesehen. Untersuchungen aus dem Bereich der Expertiseforschung untermauern diese Sicht-weise. ERICSSON, KRAMPE und TESCH-RÖMER (1993) konnten zeigen, dass sich drei Gruppen von studierenden Violinisten, die nach der Beurteilung ihres Fähigkeitsniveaus durch ihre Lehrer gebildet wurden, hinsichtlich der Übungsdauer in ihrer Jugend deutlich voneinander unterschieden. Alle hatten mit ihrem Violinunterricht etwa in demselben Alter begonnen und übten zum derzeitigen Zeitpunkt in etwa gleich viel. Im Alter zwischen 12 und 16 Jahren üb-ten die heute besseren Violinisüb-ten jedoch jeweils deutlich mehr als die weniger guüb-ten.

Auch die Vertreter des Expertiseansatzes sind jedoch der Meinung, dass Musikalität über rein technische Perfektion auf dem Instrument hinausgeht. Der wesentliche Faktor, der aus einer technisch perfekten Präsentation auch eine musikalisch ansprechende macht, ist nach SLOBODA und DAVIDSON (1996) die musikalische Expressivität. Auch diese versuchen die

Autoren durch Übung und Lernen zu erklären, wonach durch frühzeitige und emotional posi-tive Erfahrungen mit Musik ein Gefühl für musikalischen Ausdruck entsteht. Einen Teil des musikalischen Ausdrucks sehen SLOBODA und DAVIDSON jedoch auch in außermusikalischen Persönlichkeitsmerkmalen wie einer erhöhten emotionalen Reagibilität begründet. Dass zu einer herausragenden musikalischen Fertigkeit immer auch ein großer Trainingsaufwand ge-hört, ist unbestritten (VITOUCH, 2005, S. 664). Dies gilt jedoch letztlich für alle Fähigkeitsbe-reiche, auch für BeFähigkeitsbe-reiche, in denen Intelligenz einen entscheidenden Faktor darstellt, wie z.B.

Schach spielen oder Mathematik betreiben (vgl. ANDERSON, 1989, S. 227). Von einer Reihe von Autoren wird der Absolutheitsanspruch der Vertreter des Expertiseansatzes hinsichtlich des Stellenwerts von Übung kritisiert (vgl. GEMBRIS, 2002, S. 164). GEMBRIS (2002) bemän-gelt, dass durch die radikale Ablehnung der Einflussnahme von Begabung eine Polarisierung stattfinde, welche die Integration von Erkenntnissen verhindere, zumal mit dem Expertisean-satz bei weitem nicht alle Aspekte musikalischer Fertigkeiten erklärt werden könnten.

Ein wesentliches Defizit des Expertise-Ansatzes ist z.B., dass keine Aussagen darüber getroffen werden können, warum manche Personen zu intensivem Üben bereit und in der La-ge sind, andere hinLa-geLa-gen nicht. Da sich möglicherweise nur begabte Personen ausgiebig mit Musik beschäftigen, gehen weniger begabte nicht in die Stichproben ein, die zur Untersu-chung des Expertise-Ansatzes herangezogen wurden. Es ist daher denkbar, dass nur bei be-gabten Personen extensives Üben zu herausragenden Leistungen führt. (VITOUCH, 2005, S.

671). Ebenfalls gibt der Ansatz keinen Aufschluss darüber, warum vergleichbares Üben bei verschiedenen Personen zu unterschiedlichen Leistungen führt (GEMBRIS, 2002, S.166). Trotz der teilweise recht anschaulichen Ergebnisse der Expertiseforschung sind die Streuungen in den einzelnen Leistungsgruppen sehr hoch, so dass einige Personen anscheinend mit demsel-ben Übungsaufwand bessere Ergebnisse erzielen können als andere (O’NEILL, 1997). Der vollständige Verzicht auf ein Begabungskonzept bei Musikalität scheint demnach nicht ange-bracht.

Auf der anderen Seite ist es bislang nicht gelungen, eine angeborene musikalische Bega-bung zweifelsfrei nachzuweisen. Zwillingsforschung, wie in der Intelligenzforschung üblich, gibt es im Bereich der Musikalität kaum. Bestehende Untersuchungen (s. SHUTER-DYSON &

GABRIEL, 1981) weisen insbesondere durch die geringen Fallzahlen gravierende methodische Mängel auf, so dass die Ergebnisse nicht aussagekräftig sind (DE LA MOTTE-HABER, 1996, S.

265-266). Die Ergebnisse aus Stammbaumuntersuchungen bieten Indizien für eine Vererb-barkeit von Musikalität. Bei vorhandener Musikalität beider Elternteile sind deren Kinder zu etwa 80% ebenfalls musikalisch (z.B. HAECKER & ZIEHEN, 1922). Allerdings lassen sich

an-hand solcher Untersuchungen keine Kausalaussagen treffen, da die Häufung musikalischer Fertigkeiten ebenso durch familiäre Sozialisationseffekte zustande gekommen sein könnte.

2.4.2.3 Musikalität als Bereich allgemeiner Begabung

Auch in manchen allgemeinen Begabungsmodellen hat Musikalität Berücksichtigung gefun-den. GAGNÉ (2004) postuliert in dem oben dargestellten Model of Giftedness and Talent Mu-sikalität als einen Bereich, in dem sich Begabung manifestieren kann. Nach seinen Modell-vorstellungen setzt sich Musikalität, wie andere Fähigkeitsbereiche auch, aus verschiedenen Merkmalen einer Person zusammen. Zu diesen Merkmalen gehören intellektuelle, kreative, sozio-emotionale und sensumotorische Fähigkeiten sowie Persönlichkeitsmerkmale, motiva-tionale Aspekte und Umweltvariablen. Auch HELLER (2001) sowie STAPF und STAPF (1991) teilen diese Ansicht.

SLOBODA (2000) hingegen fasst Musikalität als eine rein kognitive Fähigkeit auf. Seiner Meinung nach verfügt Musik über eine tiefere, der Sprache ähnliche Struktur, die der Mensch erlernen muss, so dass er anschließend in der Lage ist, ein gehörtes Musikstück in verschiede-ne Untereinheiten zu unterteilen, was zu eiverschiede-nem tieferen Verständnis der Musik führt. Er ver-gleicht musikalische Verarbeitung mit der von Humor, die ebenfalls erlernt werden müsse und auch nicht immer und bei jedem gleich wirke. Damit nimmt er eine Position zwischen den reinen Begabungs- und Expertisemodellen ein. Um Musik verarbeiten zu können bedarf es sowohl Übung als auch kognitiver Fähigkeiten.