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4. INTERPRETATION DER INTERVIEWS

4.1 L ERNBIOGRAFIE

4.1.1 Lernerfahrungen mit formaler Bildung

Interview 1

Stephen Molnar erzählt, dass er aufgrund verschiedener Schulsysteme öfter die Klasse wech-seln musste. In England hatte er zwei Klassen übersprungen und danach in Deutschland wur-de er wegen mangelnwur-der Deutschkenntnisse wiewur-der zurückversetzt. Durch eine Änwur-derung wur-des deutschen Schulsystems hatte er schließlich wieder ein Jahr gewonnen. Seinen formalen Bil-dungsweg beschreibt er demnach folgendermaßen:

„dort hatte ich das vorwärts rückwärts und dann wieder vorwärts spulen in Sachen Schulsystem mal gleich mal erledigt“ (Interview 1, Z. 40-41)

Seine ersten Erfahrungen mit formaler Bildung scheinen also sehr chaotisch gewesen zu sein.

Die Tatsache, dass Stephen Molnar neben dem Überspringen und Wiederholen von Klassen auch verschiedene Schulsysteme durchlebte, lässt vermuten, dass sein frühes Verständnis von Lernen in Institutionen davon geprägt wurde. Dabei erfuhr er keine Kontinuität bezüglich des Schulsystems, der Lehrenden oder auch der SchulkameradInnen, da diese ja ständig wechsel-ten. Seinen Erzählungen nach, kann man außerdem entnehmen, dass er sich der Schule in ei-ner gewissen Weise unterlegen fühlte und sich selbst in diesem Fall eher in eiei-ner machtlosen, also passiven Rolle sah.

66 Vor seinem Diplomabschluss in Psychologie kam er zu der Einsicht, dass er zwar einige Fä-higkeiten erworben habe, aber sich trotz alledem wie ein nichts, ein unbeschriebenes Blatt fühlte.

„dann habe ich zwar ein Diplom in der Tasche und bin ungefähr genauso weit wie mit der Matura, nämlich ich kann einiges aber ich bin nichts, sondern ein unbeschriebe-nes Blatt“ (Interview 1, Z. 120-121).

Damit bezog er sich höchstwahrscheinlich auf den von John Locke geprägten Begriff der ta-bula rasa. Im Zeitalter der Aufklärung vertrat John Locke (1632-1704) die Ansicht, dass der Verstand des Menschen bei der Geburt einem leeren beziehungsweise unbeschriebenen Blatt gleiche und dies durch Erziehung sozusagen erst beschrieben werden könne (vgl. Specht 2007, S. 35). Betrachtet man seine Aussage in diesem Kontext, könnte er gemeint haben, dass er sich trotz jahrelanger Ausbildung nicht annähernd für den Arbeitsmarkt oder das Leben vorbereitet fühlte beziehungsweise glaubte keine bedeutungsvollen Fähigkeiten erworben zu haben.

Dies erklärt wiederum seine weiteren Ausführungen über die Ziele, die er sich in Bezug auf Lernen im Studium gesetzt hatte. Im Rahmen seiner Anekdoten über sein Leben als Student erklärte er nämlich Folgendes:

„Also das war so mein studentisches Leben, ich habe also zugesehen, dass ich mög-lichst viel für das Leben lerne und nicht für die Institution“ (Interview 1, Z. 233-234) Demnach schreibt er der formalen Bildung also keine große Bedeutung zu und ist nicht der Meinung, dass man innerhalb der Institution etwas für das Leben Brauchbares lernen könne.

Vielmehr müsse man sein Schicksal selbst in die Hand nehmen und sich auf die Suche nach Lernerfahrungen für das Leben machen, die allerdings nur fernab vom formalen Bildungs-rahmen erfahrbar seien.

Interview 2

Thomas Jaklitsch beschreibt im Rahmen seiner formalen Lernerfahrungen, dass er im Gym-nasium Probleme in Mathematik hatte und äußert dabei folgende Aussage, die er in Zusam-menhang mit seiner schulischen Leistung zu hören bekam:

„naja da Jaklitsch ist super intelligent, aber einfach stinkfaul“ (Interview 2, Z. 48)

67 Weiters erklärt er, dass seine Probleme nicht auf seine Faulheit zurückzuführen waren, son-dern eine unentdeckte und erst später diagnostizierte Dyskalkulie die Ursache seiner Schwie-rigkeiten in Mathematik war. Diese Fehlinterpretation führte dazu, dass er keine Unterstüt-zung oder Hilfestellung seitens der Lehrenden erfuhr. Dadurch habe er allerdings selbst neue Lernstrategien entwickelt, um die Schule erfolgreich bestehen zu können.

Da er im Gymnasium also gezwungen war, sich individuelle Lernstrategien anzueignen, kam er bereits zu Beginn seines Studiums zu folgender Erkenntnis:

„ich selber bin meines Glückes Schmied“ (Interview 2, Z. 61)

In der Arbeitswelt stellte er dann schließlich fest, dass seine im Studium erworbenen Fähig-keiten nicht ausreichten, um im Beruf das zu erreichen was er anstrebte, nämlich im Umgang mit Menschen zielführend arbeiten zu können.

„das was ich gelernt habe war schön und gut, ahm aber führt nicht unbedingt dazu, meine Kunden, also meine Klienten (…) wirklich dort hinzuführen wo es für sie sinn-voll wäre“ (Interview 2, Z. 70-73)

Weiters erzählt Thomas Jaklitsch von seiner Tätigkeit als Lektor und Supervisor auf den Uni-versitäten, die ihn dazu führte, nach dem Bakkalaureatsabschluss ein Masterstudium in So-zialmanagement zu absolvieren. Doch genau in dem Moment als er dieses beendet hatte, war er sich sicher, dass er nicht weiter auf der Universität unterrichten möchte:

„und in dem Moment wo ich lustigerweise mein Masterstudium beendet hatte, habe ich genau gewusst, dort werde ich nicht mehr unterrichten, nämlich die Art und Weise wie in klassischen ahm Unterrichtsstätten ah unterrichtet wird, didaktisch wie auch inhaltlich ah ich mir, also es mir nicht einfach lohnend und sinnvoll erschienen ist.“

(Interview 2, Z. 123-127)

Thomas Jaklitsch formuliert in den zwei zuletzt zitierten Passagen, dass er das Lehren und Lernen an der Universität für nicht „sinnvoll“ empfindet. Die eigenen Erfahrungen im Beruf haben ihm gezeigt, dass die auf der Universität vermittelten Inhalte keinen praktischen Nutzen im Berufsalltag hatten. Im weiteren Sinn, könnte man sagen, dass er damit den fehlenden Pra-xisbezug der Universitäten kritisiert. In Bezug auf die Didaktik, haben ihn ebenfalls die nega-tiven Erlebnisse in seiner Schulzeit geprägt. Da seine Dyskalkulie als Faulheit fehlinterpretiert wurde, erfuhr er in diesem Zusammenhang auch keine didaktische Unterstützung oder Hilfe-stellung. Als er dann im Rahmen seiner Arbeit auf der Universität die Inhalte und die

didakti-68 schen Methoden aus der Perspektive der Lehrenden erlebte, stellte er nach genauerer Betrach-tung fest, dass das Lernen und Lehren auf der Universität wenig Relevanz für das weitere Berufsleben haben.

Fazit

Betrachtet man nun beide Lernerfahrungen, die Stephen Molnar und Thomas Jaklitsch mit formaler Bildung gemacht haben, lassen sich viele Parallelen erkennen. Bereits in jungen Jah-ren hatten beide mit erschwerten Bedingungen in der Schule zu kämpfen. Im Rahmen des Studiums beschlossen sie ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und stellten bald fest, dass das im Studium erworbene Wissen nicht ausreichte, um im Beruf bestehen zu können.

Beide kritisieren dabei den fehlenden praktischen Bezug der Universität zum Alltag. Dem-nach sind sie der Meinung, dass man im Rahmen der Universität beziehungsweise innerhalb einer Institution nicht das lernt, was für den späteren Beruf oder für das Leben im Allgemei-nen nützlich wäre.