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Kapitel: Rechtslage bis zum 01.09.2009

B. Der Begriff des Erbrechts aus verfahrensrechtlicher Sicht

II. Nachlassverfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit

3. Kapitel: Rechtslage bis zum 01.09.2009

Zum 01. September 2009 trat das Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG) in Kraft.

Es brachte – wie sein Titel bereits vermuten lässt – unter anderem eine grundle-gende Neuordnung des Verfahrensrechts in den Angelegenheiten der freiwilli-gen Gerichtsbarkeit und hier insbesondere im Bereich des Nachlassverfahrens.

Die Ablösung des seit dem 01.01.1900 gültigen FGG durch das FamFG bedeu-tet daher auch eine erhebliche Zäsur für die internationale Zuständigkeit im Erb-recht. Um die mit der FGG-Reform eingetretenen Veränderungen und ihre Auswirkungen besser sichtbar zu machen, soll im folgenden Kapitel zunächst die Rechtslage aus der Zeit vor dem 01.09.2009 untersucht werden.

Hierzu werden vorab die maßgeblichen Regelungen und Grundsätze überblicks-artig dargestellt. Da es Ziel einer jeden Reform sein muss, insbesondere die bis dato vorhandenen Probleme auszuräumen bzw. zumindest zu entschärfen, soll anschließend ein besonderes Augenmerk den bis zum 01.09.2009 umstrittenen und unklaren Bereichen gelten.

A. Überblick

Wie bereits erläutert, richtet sich die internationale Zuständigkeit zunächst nach den Regelungen des Europarechts sowie nach den Vorschriften der verschiede-nen bi- und multilateralen Staatsverträge55. Dieser allgemeine Grundsatz gilt selbstverständlich auch für den Bereich des Erbrechts. Bevor das bis zum 01.09.2009 geltende autonome deutsche Recht näher zu betrachten ist, bedarf es daher einer Untersuchung des erbrechtlichen Segments des Europa- bzw. Völ-kervertragsrechts.

55 Kropholler, 572 f.; Wieczorek/Schütze/Hausmann Vor § 12, Rn. 46; Geimer, Rn. 1881; Stein/

Jonas/Roth Vor § 12, Rn. 32; Oppermann/Cassen/Nettesheim, 207; Koenig/Haratsch, Rn. 122 ff.

I. Europarecht

Mit Wirkung zum 01.03.2002 wurde das Brüsseler EG-Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidun-gen in Zivil- und Handelssachen vom 27.09.1968 (EuGVÜ) in Unionsrecht um-gewandelt56. Die auf der Grundlage von Art. 81 AEUV (ex-Artikel 65 EGV) er-gangene EuGVVO ist – wie oben bereits angedeutet – reines sekundäres Uni-onsrecht. Durch diesen Schritt ist es gelungen, der mit dem EuGVÜ bereits vor über 40 Jahren geschaffenen einheitlichen Ordnung der internationalen Zustän-digkeit in sämtlichen Mitgliedstaaten, mit Ausnahme des Königreichs Däne-mark57, unmittelbare Wirkung zu verleihen. Eine Entwicklung, an der der Be-reich des Erbrechts (bislang) bedauerlicher Weise nicht partizipiert.

Bereits das EuGVÜ schloss in Art. 1 Abs. 2 Nr. 1 „das Gebiet des Erbrechts einschließlich des Testamentsrechts“ von seinem Anwendungsbereich aus.

Nachdem diese Formulierung wortgleich in Art. 1 Abs. 2 lit. a der EuGVVO übernommen wurde, findet auch letztere in den genannten Bereichen keine An-wendung58. Was Umfang und Reichweite dieser Bereiche betrifft, so hat der EuGH bereits für das EuGVÜ entschieden, dass die in Art. 1 Abs. 2 ausge-schlossenen Rechtsgebiete autonom zu bestimmen sind59. Erst recht muss dies folglich für die EuGVVO als sekundäres, auf weitestmögliche Rechtsvereinheit-lichung zielendes, Unionsrecht gelten60. Auch wenn der EuGH bisher noch nicht ausdrücklich definiert hat, was bei autonomer Qualifikation unter dem „Erbrecht einschließlich des Testamentsrechts“ zu verstehen ist, herrscht Einigkeit

darü-56 Geimer, Rn. 1874; Nagel/Gottwald, 74 f.; Kohler, FS Geimer, 462.

57 Im Verhältnis zu Dänemark wurde das EuGVÜ durch das Abkommen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und dem Königreich Dänemark über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 16.11.2005 abgelöst.

58 Dieser Umstand wird auch von der angestrebten Revision der EuGVVO unberührt bleiben, vgl.

Art. 1 Nr. 2 lit. a des Vorschlags der Kommission zur Neufassung der EuGVVO vom 14.12.2010, KOM(2010) 748 endgültig sowie Hausmann in unalex-Kommentar zur Brüssel I-VO Art. 1, Rn.

121.

59 EuGH Rs 133/78, Slg. 1979, 733.

60 Hausmann in unalex-Kommentar zur Brüssel I-VO Art. 1, Rn. 43; Staudinger/Hausmann (2011) IntVertVerfR, Rn. 13; Nagel/Gottwald, 77 f.; Musielak/Lackmann Art. 1 EuGVVO, Rn. 3; Gei-mer/Schütze, Art. 1 EuGVVO, Rn. 49 ff.

ber, dass alle unmittelbar auf das Erbrecht gestützten Ansprüche bzw. die hie-raus resultierenden Streitigkeiten über den Erwerb von Todes wegen vom An-wendungsbereich der Verordnung ausgenommen sind61. Selbst bei der im Inte-resse der Rechtsvereinheitlichung gebotenen engen Auslegung des Ausnahme-tatbestands kann ein erbrechtlicher Aspekt im Anwendungsbereich der EuGVVO daher allenfalls als Vorfrage zu einem anderen – nicht aus dem Ge-biet des Erb- und Testamentsrechts stammenden – Streitgegenstand relevant werden62. Für die Bestimmung der internationalen Zuständigkeit in unmittelbar erbrechtlichen Konstellationen hilft die EuGVVO hingegen nicht weiter.

Nachdem jedoch die Verfahren in eben diesen Fällen den Gegenstand der vor-liegenden Arbeit bilden, ist damit zugleich gesagt, dass sich die zu untersuchen-den Zuständigkeiten ausschließlich aus Regelungen außerhalb der EuGVVO er-geben.

Sonstiges primäres oder sekundäres Europarecht ist zur Frage der internationa-len Zuständigkeit im Erbrecht bislang nicht vorhanden. Auf die derzeit im Ent-stehen begriffene EU-Verordnung wird im 5. Kapitel dieser Arbeit noch aus-führlich einzugehen sein.

II. Völkerrechtliche Verträge

Die Frage nach staatsvertraglichen Regelungen der internationalen Zuständig-keit im Erbrecht lässt sich nicht einheitlich beantworten.

61 Musielak/Lackmann Art. 1 EuGVVO, Rn. 6; MK ZPO/Gottwald Art. 1 EuGVVO, Rn. 16;

Schlosser Art. 1 EuGVVO, Rn. 18.

62 Hausmann in unalex-Kommentar zur Brüssel I-VO Art. 1, Rn. 44; Savigny/Schäuble in: Haus-mann/Hohloch, Handbuch des Erbrechts, 1802; MK ZPO/Gottwald Art. 1 EuGVVO, Rn. 7;

Schlosser Art. 1 EuGVVO, Rn. 13.

1. Streitige Verfahren

Im Bereich des streitigen Erbrechtsverfahrens wäre zunächst an das neue (revi-dierte) Lugano Übereinkommen vom 30.10.200763 zu denken, das als multilate-raler Staatsvertrag an die Stelle des ursprünglichen Übereinkommens vom 16.09.1988 getreten ist. Nachdem es sich hierbei jedoch nach wie vor um ein – wenn auch räumlich erweitertes – „Parallelübereinkommen“ zum vormals gülti-gen EuGVÜ handelt64, schließt es das „Erb- und Testamentsrecht“ ebenso von seinem Anwendungsbereich aus, wie einst das EuGVÜ selbst, Art. 1 Abs. 2 Nr.

1 LugÜ, Art. 1 Abs. 2 Nr. 1 EuGVÜ.

Zwar wurden zur Rechtsvereinheitlichung weitere multilaterale Staatsverträge ausgearbeitet. Diese zielen jedoch ausschließlich auf die Vereinheitlichung von Kollisionsrecht sowie teilweise auf die Angleichung materiellrechtlicher Vor-schriften und wurden von Deutschland größtenteils nicht ratifiziert65. Ein für Deutschland verbindlicher multilateraler Vertrag zur internationalen Zuständig-keit im Erbrecht existiert nicht.

Auch die bilateralen Staatsverträge, die Deutschland im Bereich des Erbrechts geschlossen hat, enthalten – mit einer Ausnahme – keine Vorschriften zur direk-ten internationalen Zuständigkeit in streitigen Verfahren. Sofern sie überhaupt auf Zuständigkeitsfragen eingehen, weisen die Verträge, wie beispielsweise die in großer Zahl vereinbarten Anerkennungs- und Vollstreckungsabkommen, aus-schließlich Beurteilungsregeln, nicht hingegen Befolgungsregeln auf und

betref-63 Übereinkommen vom 30. Oktober 2007 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, veröffentlicht im ABl EU 2007 Nr. L 339 vom 21.12.2007, 3 ff.

64 Wieczorek/Schütze/Hausmann Vor § 12, Rn. 44; Staudinger/Dörner (2007) Art. 25 EGBGB, Rn.

813; MK ZPO/Patzina § 12, Rn. 85.

65 Ratifiziert wurde bisher allein das Haager Übereinkommen über das auf die Form letztwilliger Verfügungen anzuwendende Recht, Staudinger/Dörner (2007) Vorbem. zu Art. 25 f. EGBGB, Rn.

21.; MK/Birk Art. 25 EGBGB, Rn. 278 f.

fen damit allein die indirekte Zuständigkeit66. Die bereits angesprochene, allei-nige Ausnahme bildet insofern das deutsch-türkische Nachlassabkommen, das als Anlage zu Art. 20 des deutsch-türkischen Konsularvertrags vom 28.05.1929 am 18.11.1931 in Kraft getreten ist und seit dem 01.03.1952 wieder Anwendung findet. Das Nachlassabkommen enthält in seinen §§ 8 und 15 Vorschriften zur internationalen Zuständigkeit im streitigen Erbverfahren, die den autonomen Regelungen des deutschen Rechts vorgehen67. Nach § 8 des Abkommens sind Ansprüche gegen den Nachlass vor den Gerichten des Belegenheitsstaates gel-tend zu machen. § 15 differenziert hinsichtlich der Feststellung des Erbrechts, der Erbschaftsansprüche, der Feststellung von Ansprüchen aus Vermächtnissen sowie Pflichtteilsansprüchen danach, ob sich die benannten Rechte auf bewegli-chen oder unbeweglibewegli-chen Nachlass beziehen. Sollen die Ansprüche mit Blick auf einen beweglichen Nachlass festgestellt werden, so sind die Gerichte des Staates zuständig, dem der Erblasser zur Zeit seines Todes angehörte. Geht es hingegen um Rechte an einem unbeweglichen Nachlass, so sind wiederum die Gerichte des Belegenheitsstaates zuständig68.

Abgesehen von den mit Blick auf die große Zahl in Deutschland lebender türki-scher Migranten durchaus bedeutsamen Vorschriften des deutsch-türkischen Nachlassabkommens, finden sich keinerlei für Deutschland verbindliche staats-vertragliche Regelungen der internationalen Zuständigkeit im streitigen Erb-rechtsverfahren.

66 Staudinger/Dörner (2007) Art. 25 EGBGB, Rn. 814, 821; MK ZPO/Patzina § 12, Rn. 86; Verein-barungen zur direkten internationalen Zuständigkeit wurden hingegen beispielsweise im Bereich des Transportrechts getroffen, vgl. Wieczorek/Schütze/Hausmann Vor § 12, Rn. 45; Kropholler Hdb IZVR I Kap. III, Rn. 60.

67 Savigny/Schäuble in: Hausmann/Hohloch, Handbuch des Erbrechts, 1803; Wieczorek/Schütze/

Hausmann § 27, Rn. 17; Staudinger/Dörner (2007) Art. 25 EGBGB, Rn. 814.

68 Die §§ 8 und 15 des Nachlassabkommens stellen also eine deutliche Abweichung von der auto-nomen Regelung des § 27 ZPO dar, die grundsätzlich zur Zuständigkeit der Gerichte des Staates führt, in dem der Erblasser zuletzt seinen Wohnsitz hatte.

2. Nachlassverfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit

Anders stellt sich die völkervertragsrechtliche Lage im Hinblick auf das Nach-lassverfahren dar. Die internationale Zuständigkeit der Nachlassgerichte insbe-sondere für die Durchführung von Verwaltungs- und Sicherungsmaßnahmen ergibt sich im Verhältnis zu einer Vielzahl von Staaten aus entsprechenden bila-teralen Verträgen69. So regeln die §§ 2 und 3 des bereits angesprochenen Konsu-larvertrages zwischen dem Deutschen Reich und der Türkischen Republik die Zuständigkeit der jeweiligen Ortsbehörden für das Versiegeln des Nachlasses, die Aufnahme eines Nachlassverzeichnisses, die Bekanntmachung der Nach-lasseröffnung sowie den Aufruf von Erben und Gläubigern70. Art. 21 des Konsu-larvertrags zwischen der BRD und dem Vereinigten Königreich von Großbri-tannien und Nordirland vom 30.07. 1956 ermächtigt den jeweiligen Konsul, Er-ben, die seinem Heimatstaat angehören, wie ein Bevollmächtigter zu vertreten und Maßnahmen zum Schutz und zur Wahrung ihrer Interessen zu treffen71. Nach Art. 22 des Handels- und Schifffahrtsvertrages zwischen dem Deutschen Reich und dem Irischen Freistaat vom 12.05.1930 ist der amtliche Vertreter ei-nes Staates für die Verwaltung des Nachlasses eiei-nes Angehörigen des jeweils anderen Vertragsstaates zuständig, wenn der Erblasser in dem Staat, in dem er verstorben ist, keine Erben hat72. Diese beispielhafte Aufzählung, die sich nahe-zu beliebig fortsetzen ließe73, macht deutlich, dass pauschale Aussagen zur in-ternationalen Zuständigkeit im Bereich des Nachlassverfahrens von vornherein ausscheiden. Es ist vielmehr erforderlich, in jedem Einzelfall vorab zu prüfen, ob im Verhältnis zu dem betreffenden ausländischen Staat ein entsprechendes Abkommen existiert und ob dieses für den konkret zu prüfenden Schritt eine Regelung vorsieht. Die nachfolgenden Ausführungen zur internationalen Zu-ständigkeit in Nachlassverfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit stehen

dem-69 Staudinger/Dörner (2007) Art. 25 EGBGB, Rn. 833; vgl. Pinckernelle/Spreen, DNotZ 1967, 195, 219 f.

70 §§ 2 und 3 des Konsularvertrags, veröffentlicht im RGBl 1930 II, 747.

71 Art. 21 des Konsularvertrags, veröffentlicht im BGBl 1957 II, 285 ff.

72 Art. 22 des Handels- und Schifffartsvertrages, veröffentlicht im RGBl 1931 II, 692 ff.

73 Vgl. die aufgelisteten Staatsverträge bei Pinckernelle/Spreen, DNotZ 1967, 195, 219 f.

entsprechend immer unter dem Vorbehalt einer anderweitigen staatsvertragli-chen Vereinbarung.

Insgesamt bleibt damit festzuhalten: Während im Bereich des streitigen Erb-rechtsverfahrens staatsvertragliche Regelungen ausschließlich im Verhältnis zur Türkei eine Rolle spielen, gilt es hinsichtlich der internationalen Zuständigkeit im Nachlassverfahren eine Vielzahl bilateraler Vereinbarungen zu beachten.

Angesichts der kaum zu überblickenden und inhaltlich zum Teil erheblich von-einander abweichenden Regelungen, bedarf es hier in jedem Einzelfall einer sorgfältigen Prüfung der völkervertragsrechtlichen Lage.