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5 Das sozialpädagogische und therapeutische Zentrum für Kinder und Jugendliche Josefinum

6.2 Entwicklung und Auswirkungen

6.2.7 Integrative Theorien zu Aggression und Gewalt

Die Komplexität der Erscheinungsformen von Gewaltphänomen wird nach den neu-esten wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht mehr mit einzelnen Theorien zu Ag-gression und Gewalt zu erklären versucht, sondern es kommen vielmehr integrative Theorieansätze zur Anwendung, die unterschiedliche Theorien bzw. Theorieelemen-te miTheorieelemen-teinander verknüpfen (vgl. Krall 2004, S. 21).

Folgende Theorien zählen dazu (vgl. Krall 2004 zit. nach Schubarth 2000. S. 53 ff.):

Gewalt und Aggression als Versuch einer Stressbewältigung Gewalt als männliche Form der Konfliktlösung

Gewalt als Ergebnis von ungünstigen Sozialisationseinflüssen Die Schule als Produzent von Gewalt und Aggression

Gewalt und Aggression als Stressbewältigung

Dieser Theorieansatz geht von der Annahme aus, dass Gewalt und Aggression als Resultat eines Bewältigungsversuches in konflikthaften und bedrohlichen Situationen angesehen wird.

Im schulischen Alltag entstehen häufig Konfliktsituationen, deren Ursachen einerseits in Situationsvariablen, wie Umweltstressoren, in Angriffen auf die eigene Person oder in situationsbedingten Frustrationen zu finden sind und andererseits in Hintergrund-variablen, wie allgemeine Aggressionsbereitschaft, Temperament, gelernter Umgang mit Konflikten u.a.m. liegen (vgl. Krall 2004, S.22).

Aggressives Verhalten ist somit das Ergebnis einer Interaktion zwischen Individuum und Umwelt und wird mit den individuellen Ressourcen zur Stressbewältigung in Verbindung gebracht.

Gewaltpräventive Maßnahmen müssen daher ihr Augenmerk auf die Stärkung der individuellen Ressourcen des Individuums legen. Eine treffende Wahrnehmung von Konfliktsituationen, die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel, der Umgang mit eigenen Emotionen und die Fähigkeit zur gewaltfreien Konfliktlösung, aber auch der Abbau von vermeidbaren Stressoren sind vordringliche Aufgaben der pädagogischen Ar-beit.

Gewalt als männliche Form der Stressbewältigung

Jungen sind in doppelter Hinsicht Gewalt und Aggression ausgesetzt, denn sie sind häufiger Täter und zugleich häufiger Opfer als Mädchen. Sie leiden unter den Ge-walthandlungen ihrer Geschlechtsgenossen, sind aber auch unter denjenigen zu fin-den, die Gewalt ausüben. Olweus (2006) kommt nach den Ergebnissen seiner For-schungstätigkeiten bezüglich Gewalttäter/Gewaltopfer zum Schluss, dass der Pro-zentsatz von Schüler und Schülerinnen, die Gewaltopfer und GewalttäterInnen sind, im Bereich zwischen 5 und 10 Prozent liegt (vgl. Olweus 2006, S.28).

Krall (2004) ist der Meinung, dass „Gewalt überwiegend als männliche Form der Kon-fliktlösung, aber auch der Selbstdarstellung angesehen werden muss“ (Krall 2004, S.

23).

Psychische Einflüsse, wie eine unzureichende Emotionskontrolle, negative unregu-lierte Emotionen, eine mangelnde Impulskontrolle, eine überzogene Selbsteinschät-zung, eine verzerrte sozial-kognitive Informationsverarbeitung, sowie ein unzurei-chendes Einfühlungsvermögen sind mögliche Faktoren, die aggressives Verhalten begünstigen und häufiger bei Jungen als bei Mädchen anzutreffen sind (vgl. Peter-mann 2007, S. 19 ff.).

Wenn man die Biografie der SchülerInnen meiner Klasse einer genaueren Betrach-tung unterzieht, treffen viele der aufgezeigten negativen Einflüsse zu.

Besonders unter den Jungen gibt es immer wieder Auseinandersetzungen und Spannungen verschiedenster Art. Gewöhnlich finden auch viele leichtere aggressive Interaktionen statt, teils aus Spaß, teils als eine Form der Selbstbestätigung, um die Kräfteverhältnisse der Jungen untereinander auszutesten, damit der soziale Rang zu verteidigt und bestätigt wird.

In meiner Klasse ist ein potentieller Gewalttäter anzutreffen, der die Aktivitäten der anderen SchülerInnen direkt beeinflusst. Die Interaktionen werden dadurch grober, heftiger und gewaltsamer. Das zornige Temperament des Gewalttäters, sein ausge-prägtes Bedürfnis sich zu behaupten und die anderen zu beherrschen, ist für ihn kennzeichnend. Selbst kleinere Misserfolge führen zu heftigen Reaktionen, die oft aggressive Formen annehmen, weil er nicht imstande ist, Konflikte gewaltfrei zu lö-sen. So setzt er seine Körperkraft ein, die in Folge für seine Kontrahenten mit schmerzhaften Blessuren verbunden sind.

Am liebsten greift er schwächere Mitschüler an, fürchtet sich aber auch nicht, gegen vermeintlich stärkere Schüler vorzugehen. Er fühlt sich im Allgemeinen eher gestählt und voller Selbstvertrauen.

Besonders abgesehen hat es der besagte Schüler auf einen augenscheinlich passi-ven Mitschüler, der als Prügelknabe herhalten muss, körperlich schwach, unsicher, und ängstlich ist und der sich fürchtet, selbstbewusst und aggressiv aufzutreten.

Für den gewaltbereiten Jungen ist der potenzielle Prügelknabe das ideale Ziel. Des-sen Ängstlichkeit und Wehrlosigkeit führen zu einer Steigerung des ausgeprägten Überlegenheits- und Machtgefühls des Gewalttäters.

Auch die anderen Mitschüler werden dadurch animiert, es dem Gewalttäter gleichzu-tun, da der Prügelknabe ein problemloses Ziel für Angriffe darstellt. Sie sind der Mei-nung, wenn ihn ein harter Junge drangsaliert, kann es nicht falsch sein, ebenso zu agieren. Da er in ihren Augen ein ziemlich elendes und wertloses Geschöpf ist, ver-dient er es, geschlagen zu werden. Somit können sie ihre Position in der Gruppe be-haupten und nicht mit Verachtung und Missbilligung durch den Gewalttäter bedacht werden.

Um präventiv dieser unheilvollen Entwicklung entgegenzusteuern, wurden in diesem Fall Maßnahmen ergriffen, um dem Opfer zu größerer Unabhängigkeit, größerem

Selbstvertrauen und zu der Fähigkeit zu verhelfen, sich gegenüber MitschülerInnen zu behaupten. Denn wer es unterlässt, aktive Gegenmaßnahmen bei Gewaltproble-men in der Schule zu ergreifen, billigt sie stillschweigend.

Die Unterschiede aggressiven Verhaltens zwischen Mädchen und Jungen zeigen sich besonders im Vorschul- und Jugendalter, in dem schon erhebliche familiäre Prägungen beziehungsweise solche aus der sozialen Umwelt stattgefunden haben (vgl. Petermann 2007, S. 17).

Es ist unbestritten, dass Jungen weitaus häufiger als Mädchen offene physische Ag-gressionen zeigen. Mädchen dagegen zeigen häufiger indirekte Formen aggressiven Verhaltens, wie z. B. verbale Verletzungen, Verleumdungen, üble Nachrede und Verbreitung von Gerüchten, Beleidigungen oder sind Drahtzieher in Freundschafts-beziehungen.

Als Beispiel zu den letzten genannten Ausführungen möchte ich das Verhalten eines Mädchens meiner Klasse anführen, welches am Beginn des Schuljahres keinerlei Auffälligkeiten zeigte, doch allmählich mit den genannten indirekten Formen aggres-siven Verhaltens die Führungsrolle in der Klasse beanspruchte und alle anderen SchülerInnen (6 Knaben und 1 Mädchen) in ihren Bann zog. In kürzester Zeit gelang es ihr, sämtliche SchülerInnen gegen die KlassenlehrerInnen aufzuwiegeln und einen Lern- und Arbeitsboykott durchzusetzen.

In diesem Fall setzte das Mädchen Aggression als Instrument zum Gewinn von Macht und Kontrolle über andere SchülerInnen ein. Als Ausweg dieser fatalen Ent-wicklung blieb uns nichts anderes übrig, als das zweite Mädchen in einer anderen Klasse unterzubringen und die Urheberin temporär mit zwei anderen Schülern raummäßig zu separieren und vom Assistenzlehrer unterrichten zu lassen.

Eine Zusammenführung der beiden Gruppen zu einer Klasse konnte erst nach einer Zeitdauer von zwei Monaten bewerkstelligt werden. Danach war es wieder möglich von einer Klasse zu sprechen und einen geordneten Unterricht durchzuführen.

Gewalt als Ergebnis ungünstiger Sozialisationseinflüsse

Dieser Theorieansatz geht von der Annahme aus, dass das Auftreten von Aggressi-on und Gewalt durch längerfristige SozialisatiAggressi-onseinflüsse (Familie, Schule,

Peergroup), von situativen Faktoren (aktuelle Konflikte, Provokationen, Einfluss von Alkohol) und von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen (vorgegebene Werte und Normen, unsichere Lebensverhältnisse, Arbeitsmöglichkeiten) bestimmt ist (vgl. Krall 2004, S. 24 f.).

Aggressive und gewalttätige SchülerInnen werden nicht als solche geboren, sondern im Laufe ihrer Lebens- und Entwicklungsgeschichte durch die Einflüsse ihrer sozia-len Umwelt zu solchen gemacht. Vorbilder in Familie, Kindergarten, Schule, Freizeit, Medien und Nachbarschaft prägen ihr späteres Verhalten.

Die Eltern-Kind-Beziehung und das Erziehungsverhalten spielen eine wichtige Rolle für die Entwicklung von Aggressivität. Ist diese geprägt von einem Mangel an Akzep-tanz und Wärme, von negativen, harten Erziehungsmethoden, von einer inkonsisten-ten, wechselhaften Erziehung, von einer mangelnden Resonanz und Ermutigung für positives Verhalten und von einer mangelnden Vermittlung klarer Regeln und Werte, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit zur Ausbildung aggressiver Verhaltensweisen (vgl. Nolting 2007, S. 162).

Neben der Familie wird auch die Gleichaltrigengruppe zu einer mächtigen Sozialisa-tionsinstanz, die großen Einfluss auf die Verhaltensweisen von Jungen und Mädchen nimmt. Außerhalb des Einflussbereiches von Erziehungsberechtigten gewähren sie ihren Mitgliedern Teilnahmechancen und Möglichkeiten der Selbstbestimmung. Ähn-lich wie die Sozialisationsinstanz Familie ist die Gleichaltrigengruppe Übungs- und Trainingsraum für das alltägliche Sozialleben. Werden dabei der Bedarf an Abenteu-er und GrenzübAbenteu-erschreitung, an Ausleben des Spieltriebes, an Spontaneität und auch gesunder Aggressivität in zu hohem Maße konsumiert, hat die Gruppe der Gleichaltrigen einen wesentlichen Anteil zur Ausbildung von Aggression und Gewalt (vgl. Hurrelmann/Bründel 2007, S. 57).

Menschen werden nicht nur von realen, sondern auch von symbolischen Modellen beeinflusst. Es sind vor allem Modelle in Film und Fernsehen, über deren Einfluss die wissenschaftliche Forschung seit Jahrzehnten widersprüchliche Befunde liefert. Ei-nes scheint heute klar zu sein: Es gibt ein bedeutendes Risiko bei erhöhtem Konsum von Fernsehen und Videospielen mit Gewaltdarstellungen für die Steigerung von Aggressivität und Gewalt (Nolting 2007, S.89).

Präventive Maßnahmen zielen auf unterstützende Maßnahmen in der Familie, auf die Förderung prosozialer Aktivitäten in der Freizeit und auf einen einsichtsvollen Umgang mit den Medien.

Die Schule als Produzent von Gewalt und Aggression

Sozialökologisch orientierte Studien setzen sich mit der Frage auseinander, wie Menschen sich und ihre Umwelt erfahren und welche Auswirkungen dies für die Her-ausbildung gewalttätigen Verhaltens hat.

Mehrere Studien belegten, dass das Klassenklima, die Lehrer-Schüler-Beziehung und die Identifikation mit Lehr- und Lerninhalten für das Entstehen oder Nichtentste-hen von gewalttätigem Verhalten in der Schule mit verantwortlich sind. Der Fokus präventiver Maßnahmen ist dabei auf den Lebensweltbezug von Lehrinhalten, auf das Lehrerengagement und auf die Schülermitbestimmung zu richten (vgl. Krall 2004 S. 24).