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Holleriths Lochkartensystem

Im Dokument Ideengeschichte der Computernutzung (Seite 78-82)

2.1 Kategorisierung von Visionen der Computernutzung

2.1.2 Historische Computer-Maschinen

2.1.2.2 Holleriths Lochkartensystem

prozess für Babbage keine Rolle spielte – womit eine hinreichende Bedingung erfüllt ist, um Babbages Idee der Maschinen-Metapher zuzuordnen.

Er konstruierte in erster Linie ein Artefakt zur Lösung der Probleme einer wissenschaftlichen Elite. Babbage intendierte mit der Entwicklung des Engine keine Erweiterung menschlichen Alltagshandelns, sondern sehr spezialisierter Tätigkeiten, nämlich der Berechnung mathema-tischer und ozeanologischer Tabellen und statismathema-tischer Analysen. Eine detaillierte Vorstellung des Ablaufs dieser Tätigkeiten und der jeweiligen Probleme waren im Entwicklungsprozess der Engines in Person Babbages stets vollständig repräsentiert. Entwickler und Nutzer des Artefakts waren identisch - ebenfalls ein Indikator, um Babbages Nutzungsvision der Maschi-nen-Metapher zu subsumieren. Auch wenn keine Beschreibungen der Bedienung des Analyti-cal Engine überliefert sind, zeigen Abbildungen und Nachbauten desselben, dass nicht jeder den Engine hätte bedienen können. Wer den Engine bedienen wollte, musste zumindest eine vage Ahnung von seiner technischen Funktionsweise besitzen oder sich diese aneignen.

Die von Marx und Illich aufgeworfene Frage, ob die Nutzung eines Artefakts zur Befriedi-gung des persönlichen Interesses des Nutzers oder einer Institution, bzw. eines Dritten führe, in dessen Diensten sich der Nutzer befinde, kann für den Analytical Engine zugunsten der Institution entschieden werden. Zwar sollte, so Babbages Vision, der einzelne Wissenschaftler mit dem Analytical Engine Arbeitszeit einsparen, es ging Babbage jedoch nicht um die private Zeit des Wissenschaftlers, sondern um jene, in der er für eine Institution seiner forschenden Aktivität nachging – womit auch die dritte hinreichende Bedingung erfüllt wäre, um Babbage Ideen zur Nutzung seines Artefakts der Maschinen-Metapher zuzuordnen. Auch Babbage selbst konnte seine Ambitionen zur Konstruktion des Analytical Engine nur durch die Mittel z.B. der Royal Astronomical Society fortsetzen.

Babbages Ideen der Benutzung des Analytical Engine erfüllen folglich alle drei in 2.1.1 defi-nierten hinreichenden Bedingungen, um der Maschinen-Metapher der Computernutzung zu-geordnet zu werden.

Dieser Ansatz ist verknüpft mit dem Namen Hellmuth Hollerith. 19jährig war dieser am Uni-ted States Census Office angestellt. Anders als Babbage oder Byron hatte Hollerith keinen Hintergrund als Mathematiker oder Logiker. Er war vielmehr als Ingenieur und Datenverwal-ter, verantwortlich dafür, große Datenmengen zu sammeln, zu speichern, zu sortieren und, nach bestimmten Gesichtspunkten geordnet, einer Weiterverarbeitung zugänglich zu machen.

Anstoß für Holleriths bahnbrechende Arbeit war eine Erfahrung, die man im Zensus-Büro der USA am Ende des 19. Jahrhunderts machte. Dort stellte man 1890 fest, dass man es aufgrund des raschen Bevölkerungswachstums in den USA zeitlich nicht schaffte, die seit 1790 alle zehn Jahre mit dem Zensus (einer verfassungsgemäß durchgeführten Volksbefragung unter den wahlberechtigten Amerikanern) gesammelten Informationen abzuspeichern, zu bearbeiten und auszuwerten. Es deutete sich 1890 an, dass „[...] die Nation in ihren eigenen Statistiken ertrinken würde.“ (Rheingold 2000: 43). Die Auswertung des 1880er Surveys hatte über sie-ben Jahre gedauert (Naumann 2001: 76) und die Bevölkerung war innerhalb der folgenden zehn Jahre stark angewachsen. Es galt 50 Millionen Fragebögen nach vielfältigen Kriterien zu erfassen, zu tabellieren und auszuwerten.

Hollerith und sein Vorgesetzter John Shaw Billings kamen auf die Idee, dass die Arbeit der Beamten, die die Daten aufbereiteten und tabellierten, automatisiert werden müsse. Die Lö-sung, mit der Hollerith aufwartete, war das Lochkartensystem, wie es bis in die 1970er Jahre in vielen wissenschaftlichen Institutionen weltweit Anwendung fand.

Die später auch in Deutschland als Patent angemeldete Erfindung wurde dem Reichspatent-amt als ein Verfahren vorgestellt:

„[...] zur Ermittlung statistischer Ergebnisse, darin bestehend, dass Zählkarten o-der Streifen zur Anwendung kommen, welche entweo-der in sichtbarer Weise in Felder getheilt sind, deren jedes je einer statistischen Angabe entspricht, oder welche auf Grund einer mit einer sichtbaren Feldereintheilung versehenen Urkarte in solche Felder getheilt zu denken sind, dass die auf die Einzelperson, bezüglich sonstiger Einheit, bezüglichen statistischen Angaben in geeigneter Weise (z.B.

mittels Löchern, Vorsprüngen, Vertiefungen oder dergl.) auf den Zählkarten oder Streifen zum Ausdruck gebracht werden, und dass die Karten oder Streifen schließlich der Einwirkung einer elektrischen Kontaktvorrichtung unterworfen werden, derart, dass mit letzterer verbundene Zähl- oder Registrierwerk durch die Karten oder Streifen entsprechend den auf denselben zum Ausdruck gebrachten statistischen Angaben, welche zusammengestellt werden sollen, beeinflusst

wer-den und demnach durchaus genaue Ergebnisse anzeigen.“ (zitiert nach Naumann 2001: 78)

Es besteht Uneinigkeit darüber, ob die Erfindung dieses Systems, mit dem bereits Babbage und Byron experimentiert hatten, eindeutig Hollerith zugeschrieben werden kann. Es wird vermutet, dass Hollerith weniger durch die auch mit Lochkarten gesteuerten automatischen Webstühle als vielmehr durch die Art und Weise, wie in den USA Eisenbahnfahrkarten ge-locht wurden, zu seiner Erfindung inspiriert wurde50 (Cambell-Kelly & Aspray 1996: 22).

Doch auch, wenn Lochkarten bereits anderweitig zur Speicherung von Personenmerkmalen bekannt waren, verstand Hollerith es, seine Entwicklung zu seinem wirtschaftlichen Vorteil auszunutzen. Er gründete eine Firma mit dem Namen Tabulating Machine Company, die ab 1924 unter dem Namen International Business Machines (IBM) weltbekannt und im Bereich der Computertechnologie und elektronischen Datenverarbeitung marktbeherrschend werden sollte.

Auch wenn es sich bei dem von Hollerith entwickelten Artefakt nicht um eine Rechenma-schine im Sinn Babbages handelte, erlaubte dieses doch die Automatisierung zahlreicher Ar-beitsschritte und somit die Freisetzung von Arbeitskraft für höhere Aufgaben. Angestellte, die bisher Daten verwaltet und aufbereitet hatten, konnten sich nun verstärkt der Auswertung, Interpretation und Diskussion der Daten widmen. Außerdem leitete Holleriths Entwicklung als erster Schritt einer Automatisierung der Datenverwaltung auch indirekt die Entwicklung neuer, komplexerer Datenanalyseverfahren der modernen Statistik ein: Nur weil bestimmte Verwaltungsprozeduren (Datenmanagement) durch das Lochkartensystem erheblich be-schleunigt werden konnten, wurde es überhaupt möglich, neuartige Fragen an die Daten zu stellen und neuartige Rechenverfahren zu deren Beantwortung zu entwickeln.

Holleriths Konstruktion wurde 1890 bei der elften amerikanischen Volkszählung erfolgreich eingesetzt. 62.622.250 Lochkarten wurden benötigt, um die Informationen der Befragten A-merikaner zu speichern. Jede Karte enthielt 18 bis 20 Lochungen. Bei der Sortierung und Auswertung der Daten wurden zwölf Zählmaschinen eingesetzt, die scherzhaft als Statistik-Klaviere bezeichnet wurden. Schon sechs Wochen nach Abschluss der Datenerhebung stan-den die ersten Ergebnisse fest, zwei Jahre später wurstan-den die Endergebnisse in einem insge-samt 2378seitigen Werk veröffentlicht. Trotz der stark gewachsenen Datenmenge war man

50 Um zu vermeiden, dass Fahrkarten von einer Person auf eine andere übertragen werden konnten, wurden in dafür vorgesehene Felder Merkmale des Käufers eingelocht. Es handelte sich dabei um Merkmale wie Ge-schlecht, Statur, Wuchs, Haarfarbe oder Augenfarbe.

dank der Hollerith-Maschine mehrere Jahre früher fertig als noch bei der zehnten Volksbefra-gung. Die erzielten Einsparungen bezifferte man mit $529.000. Noch im Jahr 1890 erhielt Hollerith für seine Bemühungen die Ehrendoktorwürde der Columbia University51.

Bemerkenswert an den Beiträgen sowohl Babbages und Byrons als auch Holleriths ist, dass sie aus zivilen Beweggründen entstanden. Während in Babbages Fall ein britischer Erfinder- und Feingeist hinter der Entwicklung des Analytical Engine stand, war es in Holleriths Fall das Anliegen des US-Zensus-Büros, seine Volksbefragungen effizienter auszuwerten. Erst im 20. Jahrhundert begann die Dominanz des militärischen Einflusses auf die Geschichte der Computerentwicklung.

Warum sind Holleriths Ideen zum Lochkartensystem Ausdruck der Maschinen-Metapher?

Die notwendigen Bedingungen, um hier als Vision für ein technisches Artefakt betrachtet zu werden, erfüllt Holleriths Lochkartenmaschine deshalb, weil es sich bei dieser um ein vom Menschen angetriebenes mechanisches Gebilde handelte, das menschliche Fähigkeiten erwei-terte, indem es die Geschwindigkeit erhöhte, mit der statistische Daten verarbeitet werden konnten.

Die mit den Lochkartenmaschinen ausführbaren Operationen waren auf das Speichern, Sortie-ren und Verarbeiten von Daten begSortie-renzt. Die Einsatzmöglichkeiten des Artefakts waSortie-ren folg-lich sehr eingeschränkt. Auch steuerte nicht der Nutzer die Arbeitsweise der Lochkartenma-schine. Vielmehr schrieb diese vor, auf welche Weise Arbeitsschritte zu erledigen waren. Da-ten und die Anweisungen, wie mit diesen umgegangen werden sollte, wurde in KarDa-ten ge-stanzt, dann wurde die Operation gestartet, am Ende erhielt der Benutzer ein Ergebnis. Tauch-ten Fehler auf, musste die Prozedur vollständig wiederholt werden, der Benutzer der Maschi-ne besaß keiMaschi-ne Möglichkeit, in den einmal gestarteten maschiMaschi-nellen Verarbeitungsprozess einzugreifen. Zumindest bezüglich der frühen Lochkartensysteme, die im US-Zensus-Büro eingesetzt wurden, sind keine Ambitionen überliefert, die physische Größe der Artefakte zu minimieren. Alle diese Punkte deuten darauf hin, dass Hollerith nicht das Ziel verfolgte, seine Artefakte in die Arbeitsprozesse der Angestellten im Zensus-Büro zu integrieren. Die Loch-kartenmaschine revolutionierte vielmehr alle tradierten Arbeitsabläufe, die fortan an die Funk-tionsweise der neuen Technik angepasst werden mussten – ein Indikator, der hinreicht, um Holleriths Nutzungsvision der Maschinen-Metapher nach 2.1.1 zuzuordnen. Angestellte des

51 In Europa wurden die Daten der Volkszählungen auch sehr bald auf Lochkarten gespeichert und mit entspre-chenden Maschinen ausgewertet. Österreich spielte dabei eine Vorreiterrolle und führte bereits 1890 das neue System ein, während Deutschland eher zögerlich erstmals 1910 mit dem Hollerith-Verfahren arbeitete.

Zensus-Büros mussten Arbeits- und Rechenschritte, die sie üblicherweise manuell erledigten, in Rechenzentren auslagern. Eine Beschreibung der Arbeitsweise mit derartigen Artefakten durch Weizenbaum (1978) verdeutlicht den Aspekt ihrer physischen Größe und ihrer geringen Flexibilität:

„Die unförmigen, rasselnden Maschinenmonster beanspruchten riesige Stellflä-chen. Diese Maschinen konnten mit einem Kartenstapel zu einer bestimmten Zeit jeweils nur eine Operation durchführen. Sie konnten den Stapel z.B. nach einem bestimmten Schlüssel sortieren. Sollte der sortierte Stapel noch nach einem weite-ren Kriterium sortiert werden, so musste man von Hand einen Befehl in die Ma-schine eingeben, und der Stapel durchlief die MaMa-schine ein zweites Mal.“ (Weizenbaum 1978: 56)

Die Lochkartenmaschine Holleriths war ferner für die Benutzung oder besser: Bedienung durch Experten ausgelegt, die mit den Artefakten in speziellen Räumlichkeiten arbeiteten und sich zunächst eine gewisse Expertise im Umgang mit den Artefakten aneignen mussten. Nur wer, wie Hollerith selbst, ein detailliertes Verständnis für den gesamten Prozess der Daten-verwaltung- und -verarbeitung aufbrachte, konnte die technische Funktionsweise des Arte-fakts verstehen, was wiederum Voraussetzung der Bedienung und Steuerung war. Auch in Holleriths Person ist demnach die Identität von Entwickler und Benutzer repräsentiert – wo-mit die zweite hinreichende Bedingung erfüllt wäre, um Holleriths Idee der Nutzung seines Artefakts der Maschinen-Metapher zu subsumieren.

Schließlich ging es Hollerith eindeutig nicht um die Erweiterung menschlicher Tätigkeiten und Fähigkeiten zugunsten privater Zwecke der Benutzer, sondern zugunsten der ihm den Auftrag gebenden Institution, dem US-Zensus-Büro. Es ging Hollerith um die Effizienzsteige-rung der Angestellten im Zensus-Büro, um die Schaffung von Mehrwert, nicht um die persön-liche Entfaltung von Privatpersonen. Folglich sind auch bei Hollerith alle drei in 2.1.1 formu-lierten hinreichenden Bedingungen erfüllt, um seine Ideen der Nutzung seiner Lochkartenma-schine der MaLochkartenma-schinen-Metapher der Computernutzung zuzuordnen.

Im Dokument Ideengeschichte der Computernutzung (Seite 78-82)