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Bemerkungen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit

15. Zur Frage der Arbeitslosenversicherung

Die bedeutsame Rolle, die das Telephon in den Arbeitsnachweisen von vornherein gespielt hat, ist soeben erwähnt worden. Aber einst-weilen leistet das Telephon der Arbeitsvermittlung noch nicht entfernt die Dienste, die es leisten könnte. Daß der Unternehmer, der Arbeits-kräfte braucht, zum Telephon greift, so oft dies wünschenswert ist, ist jetzt wohl an jedem Orte, der einen größeren Arbeitsnachweis besitzt, eine der regelmäßigen Formen geschäftlichen Verkehrs geworden.

(…)

Wenn aber das Esslinger Arbeitsamt einen Mechaniker unterbringen will und erfahren hat, daß in Kannstadt Mechaniker gesucht werden, so soll nicht bloß der Lohn verabredet, es sollen auch einzelne Quali-täten des Bewerbers oder der Stelle besprochen, es soll der Lohn von persönlichen Eigenschaften (ob jung, ob alt) abhängig gemacht, es soll vor allem festgestellt werden, ob in dem Augenblick die Vakanz auch wirklich noch vorhanden ist. Ein Netz von Arbeitsnachweisen erfor-dert bequeme Benutzung des Telephon-Netzes.

(S. 325-327) (…)

Sozialpolitik und Verwaltungswissenschaft. Aufsätze und Abhandlun-gen, Band I. Arbeitsmarkt und Arbeitsnachweis. Gewerbegerichte und Einigungsämter. Berlin 1902.

15. Zur Frage der Arbeitslosenversicherung

Bruno Borchardt

In Nr. 17 und 18 der "Neuen Zeit" wird die Frage der Arbeitslosenver-sicherung vom Genossen Molkenbuhr behandelt, und zwar tritt Mol-kenbuhr für eine allgemeine, von Reichswegen zu schaffende und ü-ber das ganze Reich sich erstreckende Versicherung sämmtlicher Lohnarbeiter gegen Arbeitslosigkeit ein. Es ist das eine Forderung, gegen welche meines Erachtens gerade die Elite der Arbeiterschaft, die gewerkschaftlich organisirten Arbeiter, scharfen Widerspruch er-heben müßten, weil ihre Erfüllung, falls sie möglich wäre, die

Ent-wicklung der beruflichen Organisationen und damit der gesammten Arbeiterschaft aufs Schwerste schädigen müßte.

Nach dem Vorschlag Molkenbuhrs soll in der Regel ein Arbeiter dann berechtigt sein, die Unterstützung zu beziehen, wenn er entlassen wurde, wobei Molkenbuhr jedoch konzedirt, daß allenfalls Diejenigen ausgeschlossen werden können, welche die Entlassung durch grobes Verschulden herbeigeführt haben. Dafür sollen auch solche Arbeiter an der Unterstützung theilnehmen, welche zwar selbst gekündigt ha-ben, aber für diese Kündigung einen wichtigen Grund hatten. Um missbräuchliche Anwendung dieser Bestimmungen auszuschließen, will Molkenbuhr die Entscheidung im einzelnen Falle Gerichten nach Art der Gewerbegerichte anheimgeben. Aber abgesehen davon, daß bei den augenblicklichen Machtverhältnissen bei einer etwaigen Ein-führung einer allgemeinen Arbeitslosenversicherung der Einfluß der Arbeiter sicherlich möglichst beschränkt würde - Molkenbuhr erkennt das in seinem Schlusssatz ebenfalls an -, müßte schon der Umstand, daß die eventuelle Entlassung gleichzeitig den Verlust der Unterstüt-zung nach sich ziehen könnte, die Stellung des Arbeiters dem Unter-nehmer gegenüber bei jedem Konflikt, auch wenn er den unbedeu-tendsten Anlaß hat, ganz ungemein schwächen.

Daß den gewerkschaftlich organisirten Arbeitern an einer solchen In-stitution nichts gelegen sein kann, liegt auf der Hand. Die vornehmste Aufgabe der Gewerkschaften liegt gerade darin, die Machtstellung der Arbeiter gegenüber den Unternehmern zu stärken; die Gesammtheit der Berufskollegen, welche hinter dem Einzelnen steht, verleiht ihm eine gleichberechtigte Stellung gegenüber seinem Arbeitgeber, der ihn nicht nach Laune annehmen und entlassen und nicht mit ihm nach Ge-fallen die Arbeitsbedingungen festsetzen kann.

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Eine Einrichtung, deren Tendenz auf eine Schwächung der Machtstel-lung der Arbeiter hinausläuft, welche dem Arbeiter einen Theil seines Selbstbewußtseins raubt, ihn demüthiger und gefügiger macht, kann niemals zum Wohle der Arbeiter ausschlagen und ist von den Ge-werkschaften aufs Entschiedenste zu verwerfen.

Zu den moralisch erniedrigenden Folgen der allgemeinen Arbeitslo-senversicherung kommt noch eine weitere, für die Gewerkschaften geradezu zerstörende Wirkung; die Heranzüchtung des Strikebruchs.

Wie soll es mit den Arbeitslosen gehalten werden, welche

nachgewie-sene Arbeit nicht annehmen? Bei den gegenwärtigen Machtverhältnis-sen könnte eine allgemeine ArbeitsloMachtverhältnis-senversicherung nur durchgeführt werden, wenn zugleich die Arbeitspflicht bei Verlust des Anrechts auf Weiterbezug der Unterstützung statuirt wird. Einen Passus, welcher die Verweigerung von Strikebrecherdiensten mit dem Verlust der Ar-beitslosenunterstützung bestraft, würde ein Reichsgesetz über eine et-waige Arbeitslosenversicherung sicherlich enthalten, und bei dem Stande der Entwicklung, den unsere Arbeiterschaft erst erreicht hat, würde dadurch das Gefühl der Solidarität vollständig untergraben werden - müssen wir doch gegenwärtig selbst in den bestorganisirten Berufen immer wieder gelegentlich Fälle von Strikebruch und Sperre-bruch konstatiren.

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Vom Standpunkt des Arbeiters und Sozialisten, der alle Maßregeln befürwortet, welche geeignet sind, die Arbeiterklasse in ihrer Kampf-stellung gegen die Unternehmer zu stärken, kommen wir also zu einer strikten Ablehnung der allgemeinen reichsgesetzlich zu regelnden Ar-beitslosenversicherung. Man kann die Frage jedoch auch von einem anderen Gesichtspunkt aus betrachten, der bei ihrer eventuellen Be-handlung im Parlament und in Stadtverordnetenversammlungen von den Vertretern der bürgerlichen Parteien jedenfalls in den Vorder-grund geschoben werden wird. Soweit sie sich überhaupt auf die Erör-terung der Frage einlassen, werden sie sicherlich nicht sagen: Wir wollen mit der Arbeitslosenunterstützung den Arbeiter in seinem Kampfe gegen den Unternehmer stärken. Sie werden höchstens zugeben, daß die Arbeitslosigkeit, welche ganz regelmäßig in jedem Jahre wiederkehrt und einen erheblichen, zuweilen sogar einen sehr großen Umfang erreicht, eine mit unserer gesammten Wirthschaft-sordnung verbundene schlimme Erscheinung ist, welche die soziale Fürsorge des Reiches und der Gemeinden herausgefordert.

Daß die herrschenden Klassen eine solche Verpflichtung bereits aner-kennen, ist auch ein Beweis für den Fortschritt, den die Gesellschafts-entwicklung unter dem Einfluß der allmälig erstarkenden sozialdemo-kratischen Arbeiterbewegung gemacht hat.

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Den Begriff des Arbeitslosen festzustellen, hat den Gewerkschaften natürlich ebenfalls Schwierigkeiten bereitet; es liegt eben in der Natur der Dinge, daß von einzelnen Leuten mit wenig entwickeltem Ehr-

und Solidaritätsgefühl versucht wird, solche Unterstützungseinrich-tungen ohne Noth auszubeuten - ganz zu geschweigen von direkt Ar-beitsscheuen. Es ist aber ein großer Unterschied, ob der Begriff des Arbeitslosen von Gesetzgebern fixirt wird, die in ihrer Mehrheit ge-neigt sind, jeden Arbeitslosen für einen Strolch zu halten und jeden Strike als ein strafwürdiges Verbrechen anzusehen, oder von den Ar-beitern selbst, die ein lebhaftes Interesse daran haben, ihre Kassen nicht von Unwürdigen ausbeuten zu lassen.

Die Strikeunterstützung wird überall von der Arbeitslosenunterstüt-zung getrennt gehalten, und in der That ist die Arbeitseinstellung und die Arbeitslosigkeit während eines Strikes ein ganz anderer Vorgang als die gewöhnliche Arbeitslosigkeit zufolge der schlechten Konjunk-tur auf dem Arbeitsmarkt oder besonderer Ereignisse, die eine oder mehrere Fabriken betreffen.

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Vor allem aber betonen wir ja, daß wir einen Ausbau der gewerk-schaftlichen Arbeitslosenversicherung mit Hilfe der größeren Zwangsverbände, der Kommunen, eventuell auch des Reiches, for-dern.

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Eine Unterstützung der auf die Arbeitslosenversicherung gerichteten Bestrebungen der Gewerkschaften seitens der Gemeinden würde diese Bestrebungen naturgemäß gewaltig fördern, in den schlecht gelohnten Berufen die Arbeitslosenunterstützung, soweit sie bereits vorhanden, wirksamer gestalten, wo sie noch nicht vorhanden, einen kräftigen Anstoß zu ihrer Einrichtung geben. Auch für die ungelernten Fabrik-arbeiter vermag ich kein Hinderniß zu entdecken, diesen Versiche-rungszweig in ihr Unterstützungswesen mit aufzunehmen, und was die Landarbeiter anlangt, so würde vielleicht die Unterstützung der ge-werkschaftlichen Arbeitslosenversicherung durch die Gemeinden für sie einen wesentlichen Schritt zum Vereins- und Versammlungsrecht bedeuten.

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Wenn bisher fast nichts geschehen ist, so liegt das zum Theile an der inneren Unmöglichkeit, neue, lebenskräftige Einrichtungen auf dem Gebiet der Arbeitslosenversicherung unter Uebergehung der Gewerk-schaften zu schaffen; die GewerkGewerk-schaften aber zu unterstützen, ist ein Gedanke, der in Deutschland fast unerhört scheint.

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Das Beispiel, das in Gent und nach dem Vorgang Gents in anderen Großstädten Belgiens gegeben ist, wo die Städte zu den Arbeitslosen-unterstützungen der Gewerkschaften beitragen, wird auch in Deutsch-land zur Beseitigung mancher Vorurtheile beitragen.

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Die Neue Zeit. 20. Jahrgang, Nr. 16 (lauf. Nr. 42), 2. Band, 1901–

1902, S. 486-493.

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