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Bemerkungen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit

13. Zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit

Georg Sydow

Am 15. Oktober hat der Reichstag die Berathungen über die sozial-demokratische Interpellation: "Welche Maßregeln gedenkt der Herr Reichskanzler zu ergreifen, um den Folgen der wirtschaftlichen Krisis, die sich in Betriebseinschränkungen, Lohnkürzungen und vornehm-lich in Arbeiterentlassungen bemerkbar machen, zu begegnen und dem dadurch hervorgerufenen Nothstand weiter Volksschichten ent-gegenzuwirken?" wiederaufgenommen.

(…)

In Uebereinstimmung haben alle Untersuchungen einen mit der Krisis im Vorjahre einsetzenden und, mit einigen Ausnahmen, über das ge-samte Reich sich erstreckenden Mangel an Arbeit ergeben, wie er in ähnlichem Umfange bisher kaum jemals für längere Zeit beobachtet worden ist. Einmüthig haben alle Parteien die dringende Nothwendig-keit wirksamer Präventiv- und Repressivmaßregeln anerkannt, um so mehr, da auch die augenblickliche Lage des Arbeitsmarktes zu opti-mistischen Hoffnungen für die Zukunft nur wenig Veranlassung giebt.

(…)

So ist das Gesamtbild, das sich dem Beobachter bietet, ein wenig er-freuliches, und gebieterisch drängt sich daher die Frage immer wieder von Neuem in den Vordergrund, wie hier zu bessern, wie hier zu hel-fen sei. Zwar ist der Weg im Allgemeinen angegeben: Nothstandsar-beiten, Arbeitsnachweise, Arbeitslosenversicherung sind die Mark-steine, die ihn bezeichnen, aber wie viel Zeit wird noch vergehen, wieviel aufopfernde Arbeit wird es noch kosten, bis diese Steine fest in das Gefüge der deutschen Sozialgesetzgebung gefügt sind!

Am meisten zur Anwendung gelangen bisher die Nothstandsarbeiten.

Sobald eine mit größerer Arbeitslosigkeit verbundene wirthschaftliche Krisis ausbricht, werden vom Reich, den Einzelstaaten, den Gemein-den eine Reihe von Arbeiten angeordnet, um der Arbeitslosigkeit zu steuern. Diese Art improvisirter Nothstandsarbeiten erfüllen aber ihren Zweck nur höchst unvollkommen, es fehlt bei ihnen an einem einheit-lichen Plane, an einem systematischen Vorgehen, sie werden einge-stellt, sobald die Krisis vorüber ist. Damit aber wird das Uebel nicht an seiner Wurzel gepackt; sollen die Nothstandsarbeiten ihre

sozialpo-litische Aufgabe erfüllen, so dürfen sie nicht nur einen repressiven, so müssen sie vor allem einen präventiven Charakter tragen. Nicht erst im Augenblick der Krisis dürfen sie beginnen, sondern sie müssen fortlaufend geführt, sobald die Nachfrage nach Arbeit steigt, verstärkt, sobald sie nachlässt, vermindert werden. Vor allem aber müssen sie, und darauf wird bisher weitaus zu wenig Gewicht gelegt, wirklich nützliche, fruchtbare Arbeiten umfassen, und soweit angängig den in-dividuellen Kenntnissen und den Fähigkeiten des Arbeiters angepaßt werden. Erde schaufeln und Steine klopfen, nur weil augenblicklicher Arbeitslosigkeit abgeholfen werden soll, machen die Nothstandsarbei-ten zu einem Akt der Armenpflege und verschieben vollständig ihre sozialpolitische Bedeutung. Muß es nicht für den gelernten Arbeiter, der, obwohl arbeitswillig, ohne sein Verschulden arbeitslos ist, etwas Demüthigendes haben, wenn er durch den Druck der Noth zu einer Arbeit gezwungen wird, die mit seiner beruflichen Ausbildung nicht im Geringsten im Einklang steht? Muß es nicht jede Arbeitsfreudig-keit von vornherein lähmen, wenn er mit dem bohrenden Gefühl be-ruflicher Erniedrigung an sein Tagwerk geht?

Aber auch die politischen Verbände, die die Nothstandsarbeiten ein-richten, handeln bei solcher Handhabung gegen ihr Interesse. Sie ü-bernehmen neue finanzielle Lasten, ohne die Kräfte, die sich ihnen zur Verfügung stellen, rationell auszunutzen. Daher muß ihr Bestreben dahin gerichtet sein, die Nothstandsarbeiten produktiv zu machen, und hier müssen Reich, Staat und Gemeinde zusammenwirken, sich ge-genseitig zu unterstützen.

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Der Mangel an einheitlicher Organisation und gesetzlicher Unterstüt-zung ist auch das Haupthinderniß, welches sich einer gedeihlichen Entwicklung der Arbeitsnachweise, des zweiten Präventivmittels zur Milderung der Arbeitslosigkeit entgegenstellt. Gemeindearbeitsnach-weise, solche von Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbänden, Wohl-fahrtsinstitutionen, gewerbsmäßige Stellenvermittelungen bestehen in buntem Nebeneinander und machen sich gegenseitig Konkurrenz. Da-her muß die weitere Eindämmung der gewerbsmäßigen Stellenvermit-telung und die Centralisirung des Arbeitsnachweises in jeder Gemein-de als das nächste Ziel ins Auge gefasst werGemein-den.

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Die allmähliche Ausdehnung des Arbeitsnachweises über das ganze Reich zu einem lückenlosen Netz, in dem sich Arbeitsangebot und -Nachfrage mit mathematischer Genauigkeit ausgleichen, wäre das letzte Ziel. Aufhebung der Telephongebühren, Ermäßigung der Eisen-bahnfahrpreise werden zu seiner Verwirklichung gefordert werden müssen. Eins der wesentlichsten und wichtigsten Ergebnisse der Centralisirung des Arbeitsnachweises wäre bei Anwendung der glei-chen Verwaltungsgrundsätze die Vervollkommnung der Statistik des Arbeitsmarktes. Damit aber wäre ein neues bedeutsames Mittel ge-funden, die Lage auf dem Arbeitsmarkte zu beobachten und vorbeu-gende Maßregeln zu treffen. An der Hand der Kurve der Arbeitslosig-keit, wie sie nach den jetzigen unvollkommenen statistischen Daten Dr. Jastrow aufzustellen versucht hat, könnte jede Krisis in ihrer Ent-stehung beobachtet, in ihrer Entwicklung verfolgt werden. Glücklicher Weise besteht ja Aussicht, daß wir durch das Kaiserliche Statistische Amt in nicht zu ferner Zeit eine regelmäßige derartige Uebersicht er-halten werden.

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Noch am tiefsten im Stadium der Entwicklung zurück ist die Arbeits-losenversicherung. Doch auch hier sind in neuester Zeit wesentliche Fortschritte gemacht worden.

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Die Nothwendigkeit der Zwangsversicherung wird allgemein aner-kannt; die Differenzen ergeben sich aus der Frage, wer als Träger der Versicherung herangezogen werden soll. Die Gewerkschaften, die Be-rufsgenossenschaften, Reich, Staat, Gemeinde werden in Vorschlag gebracht. Am annehmbarsten erscheint noch immer der an dieser stel-le wiederholt vertretene Vorschlag der Herren Sonnemann und Ri-chard Roesicke, ein Gesetz zu schaffen, das den Kommunen das Recht giebt, für ihr Gebiet die obligatorische Arbeitslosenversicherung ein-zuführen. Die Ausdehnung dieser Versicherung auf das Reich ist eine Aufgabe, die der praktischen Erfahrung vorbehalten bleiben kann.

Soziale Praxis. Centralblatt für Sozialpolitik, 12. Jahrgang, Nr. 4, 23.

Oktober 1902, Sp. 92-94.

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