• Keine Ergebnisse gefunden

Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung

Karl Oldenberg

In der Geschichte der mit der Arbeitslosigkeit zusammenhängenden Reformbestrebungen spielt der vom Freien Deutschen Hochstift im Oktober 1893 nach Frankfurt a. M. berufene sociale Kongreß eine gewisse Rolle, - weniger wegen der neuen Gedanken, die auf ihm ausgesprochen wurden, als weil die praktische Möglichkeit des Zu-sammenarbeitens der bürgerlichen und der proletarischen Klasse an dieser Reform hier mit Evidenz zu Tage trat. „Arbeitslosigkeit und Arbeitsvermittlung in Industrie und Handelstädten“ war das einzige Thema der zweitägigen Verhandlungen.

(…)

Im Gegensatz zu den Kongressen des Vereins für Socialpolitik setzte sich die Versammlung fast ausschließlich aus Praktikern zusammen:

Magistratsvertretern, Gewerbeinspektoren, Statistikern, Philanthropen ec., auch einzelnen Arbeitgebern; namentlich aber war eine Elite der gewerkschaftlich organisierten Arbeiterwelt mit Einschluß der social-demokratischen reichlich vertreten. Das Erscheinen der letzteren - in der socialdemokratischen Presse vor und nach dem Kongresse ein Ge-genstand lebhafter Diskussionen, energisch befürwortet vom Leiter der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands, als Canos-sagang später mit den schärfsten Worten verurteilt von Bebel - war an sich ein Ereignis. Der radikale Flügel der bürgerlichen und die, wenn nicht gemäßigtere, so doch realistischere Richtung der Arbeiterpartei vermochten hier einmal sich die Hand zu reichen, wenn sie beide den Arm einander weit entgegenstreckten. In der Einladung zum Kongres-se war ausdrücklich erklärt worden, daß die Zusammenkunft Bespre-chungen „im Sinne fortschreitender Entwicklung des staatlichen und socialen Lebens ermöglichen,“ und daß „bei allen die Arbeiter betref-fenden Fragen diese als gleichberechtigte Teilnehmer an den Vorbe-reitungen und Verhandlungen mitwirken“ sollten. Dem Organisati-onsausschusse gehörte neben vier anderen Herren auch ein als solcher bezeichneter Vertrauensmann des (socialdemokratischen) Gewerk-schaftskartells Frankfurt a. M. an. Den Arbeitern wurde ihr Entgegen-kommen auch dadurch erleichtert, daß sie einen sympathischen An-knüpfungspunkt fanden in den Lautenschlagerschen Bestrebungen.

Lautenschlagers Denkschrift über die Arbeitsvermittlung (…) hatte einer Anregung entsprochen, die von den socialdemokratischen Stutt-garter Gewerkschaften selbst ausging: unterstützt durch des Verfassers persönliche Beliebtheit in der Stuttgarter Arbeiterschaft, scheint sie weithin in Arbeiterkreisen Anhang gefunden und z. B. in Frankfurt a. M. die wenige Jahre vorher einem ähnlichen Projekte entschieden feindlichen Arbeiter völlig umgestimmt zu haben (erst die Schwierig-keiten, die dem vereinbarten Arbeitsnachweisstatute seitens der Auf-sichtsinstanz hier bereitet wurden, bewirkten einen zweiten Um-schwung der Stimmung).

(…)

Der namentlich vom Leiter der gewerkschaftlichen Generalkommissi-on Legien kGeneralkommissi-onsequent festgehaltene Standpunkt war der: wir Arbeiter fordern grundsätzlich einen Arbeitsnachweis, der von der Stadt be-zahlt und ausschließlich von den Arbeitern verwaltet wird; aber die von Lautenschlager gewollte Verwaltung durch ein Gewerbegericht (zumal durch ein Gewerbegericht mit dem Vorsitzenden Lautenschla-ger) ist ein annehmbarer vorläufiger Kompromiß.

(…)

Wer die gewerkschaftlichen Arbeiterkämpfe der neueren Zeit verfolgt hat, kennt auch die Rolle des Zankapfels, welche der Arbeitsnachweis vielfach da gespielt hat, wo der Gegensatz der zwei Parteien zu einer gewissen Reife gediehen war. Jede Partei wollte einen eigenen Ar-beitsnachweis in der Hand haben und obendrein die andere zur Benut-zung desselben zwingen. Nur selten und meines Wissens ohne blei-benden Erfolg kam es zu Anläufen einer gemeinsamen Verwaltung des Nachweises, wie bei den Leipziger Buchdruckern; erst seit kurzem gedeiht ein solcher Nachweis bei den Berliner Brauern.

(…)

Würde dieser Nachweis demokratisch organisiert, d. h. den Arbeitern der wesentliche Einfluß eingeräumt, so hätten die betreffenden Indust-rien eine fast socialdemokratische Verfassung. Im entgegengesetzen Falle, wenn die Arbeitgeberschaft den Nachweis verwaltet, läge wie-der jene selbe Knebelung wie-der Arbeiter vor. Die Arbeitgeber könnten nicht nur willkürlich einzelne Arbeiter existenzlos machen, sondern ganze Arbeitergruppen und -parteien in Verruf erklären, mit ihrem Arbeitgeberverstande das geistige Leben der Arbeiterschaft beherr-schen und die Arbeitsbedingungen diktieren. Im ersteren Falle würden

dagegen die Arbeiter - man denke an die bei den französischen Ar-beitsbörsen gemachten Erfahrungen - erstens in ihrem eigenen Kreise die schroffste Disciplin ausüben, missliebigen und eigenwilligen Indi-viduen die Beförderung versagen oder sie chikanieren: sie würden zweitens gegenüber den Arbeitgebern eine censorische Gewalt üben, einzelne Arbeitgeber zurücksetzen, die Entlassung ihnen missliebiger Werkmeister und Arbeitsgenossen fordern, politische Konzessionen ertrotzen; sie würden drittens, solange die Konkurrenz zwischen den Arbeitgebern noch nicht erloschen ist, über die Verteilung des Ar-beitsertrags zwischen Unternehmern und Arbeitern dekretieren, über die Dauer der Arbeit und die Gestaltung des Arbeitsverhältnisses ü-berhaupt bestimmen können. Sie würden ungünstige Arbeitsstellen einfach unbesetzt lassen und im Streikfall den „Zuzug fern halten“. In einer völlig socialistisch organisierten Volkswirtschaft würde die Per-sonalienfrage, d. h. die Organisation des Arbeitsnachweises, der Schlüssel zur socialen und politischen Macht sein und über die Herr-schaft der einen oder anderen Klasse entscheiden.

(…)

Daß aber öffentliche Arbeitsnachweise selbst bei unparteilicher Lei-tung ihre schweren Nachteile haben, von denen die privaten Nachwei-se in der Hand von InteresNachwei-senten teilweiNachwei-se frei sind, das lernt man aus den Erörterungen und Mitteilungen Drages. Der Arbeitsnachweis soll ja mehr sein als eine mechanische Vermittelungsstelle. Der Vermittler muß nicht nur einen Ueberblick über die unendlich mannigfaltige Ar-beitsteilung des betreffenden Gewerbes und über die verschiedenen Bedürfnisse der verschiedenen Betriebsformen, sondern auch einen menschenkundigen Blick beweisen; er muß dem richtigen Arbeitgeber den richtigen Mann zuführen.

(…)

Dringend erwünscht ist ferner eine eingehende Erkundigung über die Persönlichkeit des Arbeitgebers wie des Arbeiters, auch über die Leis-tungen des letzteren.

(…)

Wird aber auf die Ermittelung von Personalnotizen verzichtet, so las-sen die besseren Arbeiter und darum auch die Arbeitgeber den Nach-weis links liegen, wie die Erfahrung lehrt. Der NachNach-weis bleibt auf minderwertige und ungelernte Arbeitskräfte oder gar auf Dienstmäd-chen beschränkt, wie so manche gemeinnützige Arbeitsvermittlungen.

Überhaupt würde der Arbeitsnachweis als staatliches oder kommuna-les Organ einen veränderten Charakter gewinnen. Wie er auf die Be-vorzugung der besseren Arbeiter verzichten müßte, so würde es ihm andererseits schlecht anstehen, ältliche und kränkelnde Arbeiter zu-rückzusetzen. Er müßte es sich vielmehr angelegen sein lassen, gerade diese Elemente, die der Kommune ohnehin auf der Tasche liegen, un-terzubringen, vielleicht auch Familienväter zu bevorzugen. Er würde vermutlich sogar bemüht sein, auf eigene Hand eine Not-Arbeitsgelegenheit darzubieten, besonders in Zeiten volkswirtschaftli-chen Rückgangs - selbst auf die Gefahr hin, damit die populäre Vor-stellung von einem Rechte auf Arbeit zu nähren. Auch müssten die Arbeitgeber dann strafrechtlich gezwungen werden, keinen andern Arbeitsnachweis zu benutzen.

Ein solches rein büreaukratisch verwaltetes Amt würde natürlich tech-nisch miserabel funktionieren, und es könnte praktisch nur in Frage kommen, einen Mittelweg zwischen der rein mechanischen und der rein diskretionären Vermittlung zu finden. Ein Mittelweg wäre sowohl im Verfahren wie in der Organisation denkbar.

(…)

Das Gebiet der Arbeitslosenversicherung pflegte man bisher mit gu-tem Grunde als ausschließliche Domäne der zur Selbsthülfe geschaf-fenen Gewerkvereine anzusehen; es trägt einen fast ebenso individua-listischen Stempel wie der Arbeitsnachweis. Nur eine volles Vertrauen genießende Selbstverwaltungsbehörde, so sollte man meinen, kann über den Anspruch auf Arbeitslosengeld entscheiden; nur sie kann oh-ne übermäßige Härte den Arbeitslosen zum Suchen und Anoh-nehmen von Arbeitsgelegenheit anhalten.

(…)

Andererseits ist nicht zu übersehen, daß die Aufgabe des Staats ge-genüber den Arbeitslosen auch nach einer anderen Richtung als der der Versicherung liegt: nach der vorbeugenden Seite. Es gehört zu den gründlichsten Irrtümern, wenn man der großindustriellen Entwicke-lung lediglich eine Tendenz zuschreibt, die Schwankungen des Ar-beitsmarkts zu vermehren. Es ist vielmehr ein fundamentales Entwi-ckelungsgesetz, daß der Arbeitgeber an beständiger Beschäftigung seiner Leute um so mehr interessiert ist, je mehr er fixes Kapital

ver-wendet, daß also der Übergang von der Hausindustrie zu geschlosse-nen Arbeitsetablissements und die zunehmende maschinelle Ausges-taltung der letzteren die Arbeitsbeständigkeit steigert, daß ferner die immer endgültigere Gestaltung der durch den Dampf revolutionierten Handelsbeziehungen und insbesondere der kartellmäßige Zusam-menschluß einzelner Großindustrien dieser Tendenz zu Hülfe kommt.

Mit dem Interesse zugleich steigt aber auch die finanzielle Fähigkeit des Fabrikherrn, seine Arbeiter durch ungünstigere Perioden durch-zuwintern, und sein direktes Interesse an einem festen Arbeiterstam-me. Diese natürliche Tendenz des einzelnen Arbeitgebers gilt es, durch staatliche Prämien verschiedenster Art zu pflegen, - nicht durch Prämien auf den Großbetrieb, aber durch Prämien auf eine derartige heilsame Ausnutzung des Großbetriebs. Man würde z. B. einen großen Arbeitgeber, der seinem Personal dauernde Beschäftigung sichert und, wie dies schon jetzt vorkommt, bei Arbeitsstockung doch einen Teil des Lohnes weiterzahlt, etwa in der Benutzung des Arbeitsnachweises freier Stellen, andererseits zur Arbeitslosenkasse den einzelnen Ar-beitgeber nach dem Maße der von ihm jährlich vorgenommenen Per-sonalentlassungen heranziehen. Der weiter unten zu erwähnende Ano-nymus hebt derartiges mit Recht hervor. Bei ganz großen Arbeitge-bern und namentlich bei kartellierten Industriezweigen würde aus ei-ner privaten Fürsorge der bezeichneten Art von selbst eine Art Versi-cherung (SelbstversiVersi-cherung) gegen Arbeitslosigkeit werden. Ein dringenderes Bedürfnis bleibt dagegen die förmliche Versicherung bei der Kleinindustrie.

(…)

Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich. 19. Jahrgang, Neue Folge, Zweites Heft, Leipzig 1895, S. 252-258.

Outline

ÄHNLICHE DOKUMENTE