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Entwicklung von Begabung auf Grundlage des Aktiotop-Modells

5 Bildungs- und Lernkapital: Ressourcen zur Erreichung von Leistungs- Leistungs-exzellenz

5.1 Entwicklung von Begabung auf Grundlage des Aktiotop-Modells

Das Aktiotop ist der „Ausschnitt der Welt, mit dem ein Individuum handelnd interagiert und an den es sich handelnd adaptiert“ (Ziegler & Stöger 2009, 12). In einem Aktiotop wird Begabung nicht als stabile Eigenschaft, die bspw. durch den Intelligenzquotienten gemessen werden kann, sondern als ein Resultat des Zusammenspiels mehrerer Komponenten betrachtet: Die physi-schen und kognitiven Handlungen eines Individuums werden einerseits durch die Umwelt, an-dererseits durch das Handlungsrepertoire, den subjektiven Handlungsraum und die persönli-chen Ziele beeinflusst, wie folgende Darstellung zeigt:

Abbildung 9: Komponenten des Aktiotops (Ziegler, 2009)

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Das optimale Zusammenspiel der Dimensionen eines Aktiotops führt nach Ziegler (2009) dazu, in einem Bereich Leistungsexzellenz zu erreichen.

Unter dem Handlungsrepertoire verstehen Ziegler und Stöger (2016) sämtliche Handlungen, die ein Individuum zu einem gegebenen Zeitpunkt grundsätzlich durchführen könnte. Zum Bei-spiel hat eine gesunde, erwachsene Person die Möglichkeit, unendlich viele Sätze aus Wörtern zu bilden.

Der subjektive Handlungsraum repräsentiert persönliche Meinungen über sich selbst, die nicht immer realistisch sind, da viele Personen ihr Handlungsrepertoire nicht richtig einschätzen. Als geläufiges Beispiel werden hier Mädchen und Frauen in MINT genannt, die ihre Fähigkeiten und Kompetenzen unterschätzen (Stöger & Ziegler, 2009). Es ist von erheblicher Relevanz, dass die Individuen ein ausgeprägtes Wissen über ihre eigenen Fähigkeiten haben, denn zieht man wieder das Beispiel der Frauen in MINT heran, so hat eine falsche Einschätzung des Hand-lungsrepertoires negative Folgen. Beispielsweise trauen sich viele Mädchen aufgrund ihres niedrigen Fähigkeitsselbstkonzepts nicht an herausfordernde Aufgaben in Mathematik, sodass sie im Lernprozess stagnieren.

Das Gelingen oder Misslingen individueller Lernprozesse und somit auch das Erreichen von Leistungsexzellenz werden zudem durch die gesetzten Ziele eines Menschen bestimmt. Wichtig ist es hierbei, sich funktionale Ziele zu setzen, welche die Person in ihrer Entwicklung voran-bringen, aber trotzdem nicht übermäßig überfordern. Tritt Letzteres ein, ist die Gefahr eines Handlungsabbruchs groß, da die Motivation bei utopischen Zielen schnell sinkt. Setzt sich eine Person jedoch nach Erreichung eines Ziels immer wieder ein neues, das herausfordernd und dennoch erreichbar ist, so sind diese ein Ansporn und die Person kann sich immer weiterentwi-ckeln.

Die vierte Komponente des Aktiotop-Ansatzes ist die Umwelt. Grundsätzlich lassen sich lern-förderliche sowie -hinderliche Umwelten unterscheiden. Ein Individuum kann je nach Umwelt ein unterschiedliches Verhalten sowie Persönlichkeitseigenschaften zeigen (Ziegler & Stöger, 2016). Zur Differenzierung dieser Umwelten verwendet Ziegler (2009) den Begriff der Sozio-tope. Er unterteilt diese in verschiedene Typen, die sich darin unterscheiden, ob Lernen in dieser Umwelt grundsätzlich möglich ist und wie sehr es wertgeschätzt wird. Diese Valenz kann po-sitiv, neutral oder negativ sein. Die Entwicklung von spezifischer Begabung kann lediglich in

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einem entsprechenden lernförderlichen Umfeld geschehen. Hierzu gehören thematische Sozio-tope, LernsozioSozio-tope, infrastrukturelle Soziotope und Professionssoziotope.

- In Thematischen Soziotopen nimmt Lernen einen hohen Stellenwert ein, allerdings ist es nicht möglich. Als Beispiel kann das gemeinsame Abendessen der deutschen Fuß-ballnationalmannschaft genannt werden. Die Spieler tauschen sich über neu gelernte Spielzüge aus, allerdings ist es nicht möglich, diese während des Essens aktiv durchzu-führen.

- Das Klassenzimmer ist ein geläufiges Beispiel für ein Lernsoziotop, denn hier ist Bil-dung erwünscht und möglich. Die Lehrkraft motiviert die Schüler zum Lernen und stellt die passenden Materialien wie bspw. Bücher und Arbeitsplätze zur Verfügung. In Bezug auf die MINT-Bildung können ein naturwissenschaftliches Museum oder der Physik-saal als Lernsoziotope genannt werden (Ziegler et al., 2010).

- Aber auch wenn ein Überschuss an Materialien zur Verfügung steht, hat ein Kind, das in Texas lebt, deutlich weniger Möglichkeiten, ein Skisprung-Profi zu werden als jenes, das in Österreich aufwächst. Denn in Texas fehlt die nötige Infrastruktur für das inten-sive Training. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein österreichisches Kind Exzellenz im Ski-springen erreicht, ist größer, da Schnee und Sprungschanzen vorhanden sind. Dennoch bedeutet dies nicht, dass jedes österreichische Kind Skispringen lernt, allerdings hat es die nötige Infrastruktur aufgrund der Berge und des Schnees im Winter. Es gibt also infrastrukturelle Soziotope, in denen Lernen möglich ist, aber nicht zwingend durchge-führt werden muss. Ein Beispiel bezogen auf MINT stellt eine Bibliothek dar. Es ist möglich, sich Fachbücher aus dem MINT-Bereich auszuleihen, jedoch kann man sich auch für Unterhaltungsliteratur entscheiden (Ziegler et al., 2010).

- Schließlich gibt es noch Professionssoziotope. Der Unterschied zum Lernsoziotop be-steht darin, dass die Individuen das Gelernte hier auf den Beruf anwenden können und durch ihre Bildung Geld verdienen. Wenn bspw. eine Studentin nach jahrelangem, in-tensivem Studium in ihrem Fachbereich eine Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität erhält, dann wird sie für die weitere Bildung und Forschung bezahlt.

Im Gegensatz zu diesen Umwelten, die zur Entfaltung des Potenzials beitragen, gibt es auch Soziotope, in denen die Wahrscheinlichkeit, Leistungsexzellenz in einem Fachbereich zu er-bringen, geringer wird. Dazu gehören konkurrierende, antagonistische und Vermeidungssozio-tope.

- In einem konkurrierenden Soziotop ist Lernen nicht möglich, da in dieser Umwelt an-dere Handlungen erwartet werden. Das Kino ist bspw. eine solche Umwelt. Denn schaut

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man sich einen Unterhaltungsfilm an, so ist aufgrund der Dunkelheit und Lautstärke im Kinosaal Lernen kaum möglich.

- In antagonistischen Soziotopen sind keine Lernhandlungen in einer bestimmten Do-mäne möglich. Als Beispiel können hier junge Freundeskreise angeführt werden, die Physik nicht gerne mögen. Aufgrund der negativen Stereotype eines Physikers (Kessels, 2002) werden viele Schülerinnen, die gute Noten in diesem Fach haben, stigmatisiert.

Um nicht sozial ausgegrenzt zu werden, geben sich Begabte in diesem Fachbereich we-niger Mühe und führen wewe-niger Lernhandlungen durch.

- Umgekehrt ist in einem Vermeidungssoziotop das Klassenzimmer zwar ein Ort, an dem Lernen möglich ist, es wird aber in manchen Fällen als negativ gewertet. Auch hier können die Mädchen im MINT-Unterricht als Beispiel genannt werden. Einige Mäd-chen vermeiden es, im Physikunterricht mitzuarbeiten, aus Angst vor Ausgrenzung so-wie den Stereotypen zu entsprechen und demnach als unweiblich zu gelten (Ziegler &

Stöger, 2016).

Um Leistung in einem bestimmten Bereich zu entwickeln, ist es wichtig, fundiertes Wissen über die Soziotope zu haben und den Aufenthalt in lernhinderlichen Soziotopen möglichst zu vermeiden. Zudem müssen alle viel Komponenten des Aktiotops in sinnvoller Weise koadaptiv verändert werden (Stöger & Ziegler, 2009). Zielt man darauf ab, in einem Fachgebiet erfolg-reich sein, erfolg-reicht es bspw. nicht aus, in einer anregenden und unterstützenden Umwelt zu agie-ren, wenn die Protagonisten nicht motiviert sind und sich dementsprechend niedrige Lern- und Leistungsziele setzen.

Um Expertise in einer Domäne zu erreichen beziehungsweise ein effektives Handlungsreper-toire aufbauen zu können, muss sich eine Person permanent verändern. Dabei finden zwei ver-schiedene Regulationstypen statt. Einerseits werden homöostatische Regulationen benötigt, um Ist-Zustände aufrechtzuerhalten (Ziegler & Stöger, 2011). Der menschliche Körper ist auf Sta-bilität ausgerichtet, bspw. sollte die Temperatur oder der Blutdruck immer stabil sein (Ericsson, 2016). Auch die Emotionen werden reguliert und soziale Beziehungen zu bewahren. Allerdings kann mit den homöostatischen Regulationen allein keine Expertise erreicht werden. Komple-mentär dazu gibt es deshalb allostatische Regulationen. Unter diesem sogenannten Allostase-konzept versteht man, dass die Soll-Zustände immer wieder modifiziert und neu angepasst, also sich die Komponenten des Aktiotops verändert werden. Diese Allostase spielt bei der Entwick-lung von herausragenden Leistungen in einer Domäne eine große Rolle. Denn dabei geht es nicht um die Aufrechterhaltung des Ist-Zustands, sondern um die Weiterentwicklung und Ver-änderung (Ziegler & Stöger, 2011). Harder (2012) verdeutlicht das Prinzip der Allostase am

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Beispiel des menschlichen Körpers. Dieser ist auf die Zufuhr von Nährstoffen angewiesen, um leben zu können. Auch ein Aktiotop benötigt die Zufuhr vielfältiger Ressourcen, um Hand-lungskompetenz beizubehalten beziehungsweise zu verbessern und neue Soll-Zustände zu er-reichen (Vladut, Vialle & Ziegler, 2016). Für das Gelingen dieser Regulationen benötigt das Individuum also für jeden Lernschritt verschiedene Ressourcen, die in Bildungs- und Lernka-pital unterteilt werden können. Der Begriff ,KaLernka-pital‘ stellt ein Synonym zu den Ressourcen dar, die ein Individuum benötigt, um die Soll-Zustände aufrechtzuerhalten beziehungsweise neue Ziele zu erreichen (Ziegler & Stöger, 2011).