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3 Die Herausbildung der kapitalistischen Produktionsweise

3.6 Destruktivität und Irrationalität der ökonomischen Kategorien - die

3.6.4 Entfremdungsprozesse

Marx sah, daß durch die kapitalistische Produktionsweise eine Reihe von

Entfremdungsprozessen ausgelöst werden.111 Er bezeichnete damit Vorgänge, die generell und kollektiv zum Tragen kamen. Diese Entfremdung bildete differente Formen an: die

Selbstentfremdung, die Entfremdung zwischen Menschen und die zwischen Mensch und Natur sowie die Entäußerung (vgl. Marx 1971, S. 188).

Als selbstentfremdet wird ein gespaltener Mensch verstanden, welcher zum einen eine

empirische Form der Individualität aufweist und zum anderen ein menschliches Gattungswesen (mögliche Persönlichkeitsform aufgrund der Potenzen der Gattung Mensch) ist (vgl. Marx 1971, S. 238 ff.). „Selbstentfremdung besagt, daß keine Identität zwischen den beiden

Subjektivitätsformen besteht, daß sich der empirische Mensch von seinem Gattungswesen entfremdet hat.“ (Conert 1998, S. 98)

111 Auch verschiedene andere Autoren (Rosseau, Schiller, Schelling, etc.) dokumentierten die

Empfindungen, Phänomene und Auseinandersetzungen, um die aufkommende Entfremdung durch die Einführung und Ausweitung der kapitalistischen Produktion und der bürgerlichen Gesellschaft. Die Wandlungen riefen für sie soziale Entwurzelung, radikale Veränderungen der Subsistenzgrundlagen, neue Werte, Normen und Verhaltenskodexe hervor.

Eine Folge dieser Selbstentfremdung ist die Entfremdung des Menschen von den Menschen.

Diese Entfremdung zwischen den Menschen wird durch das Konkurrenzdenken und der Profitorientierung vergrößert.112

Mit Entäußerung ist gemeint, daß Menschen zu ihnen gehörende Selbstverständlichkeiten und Fähigkeiten auf andere übertragen und sie sich ihnen somit entäußern.113 Durch die

Produktionsweise trat den Menschen die eigene Arbeit zusehends als fremdes Eigentum entgegen, welches dem Kapitaleigner gehört.

Ein weiterer Aspekt der Entfremdung bezieht sich auf die Tätigkeit und das Produkt. In der warenproduzierenden Gesellschaft gilt es als selbstverständlich die erzeugten Waren zu veräußern. Hier besteht der Entzug darin, daß die ArbeiterInnen ihre Kreativität, ihre Innovation und andere Fähigkeiten in das Produkt stecken, sie über dieses Produkt aber nicht verfügen können (vgl. Conert 1998, S. 112). So vollzieht sich eine Entfremdung zwischen ArbeiterInnen und dem eigenen Arbeitsprodukt.

Entfremdung erfolgt also auf einer materiellen Ebene,114 aber zugleich auch auf einer

immateriellen. Marx erkannte in diesem Zusammenhang die Problematik, die entsteht, wenn ein Mensch vieles von sich in eine Produktion gibt und dabei nicht den Gegenstand selbst erhält oder den Wert des Produktes, sondern nur einen geringen Teil davon.

Außer den bereits dargestellten Entfremdungen, welche das Verhältnis zu den Produkten der Arbeit darlegen, sieht er die Entfremdung durch den Akt der Produktion. Die ArbeiterInnen sind den Bedingungen des Arbeitsprozesses ausgesetzt und können diese nicht mehr bestimmen und gestalten. Durch die zunehmende Mechanisierung nehmen reduzierte und restringierte Arbeitsbedingungen, welche das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung, Phantasie, Kreativität etc. begrenzen und einengen, in einem enormen Ausmaß zu. Der Mensch wird in diesem Vorgang strikt von der Maschine konditioniert.

Selbstbewußtsein durch Arbeit

In der kapitalistischen Produktionsweise wird die Arbeit der übergreifende und gemeinsame Bezugspunkt (neben der Konkurrenz) für die Menschen, ungeachtet ihrer jeweiligen Tätigkeit und Stellung.

Marx erkannte, wie im sich neu entwickelnden Verständnis vom Selbstbewußtsein des

Menschen, Arbeit ein zentrales Moment wurde. Arbeit wurde als positives Wesensmerkmal des Menschen gefaßt (vgl. Hegel 2000; Marx 1971, S. 269). Marx kritisierte, daß die negativen

112 Diese Wirkung widerspricht der Marxschen Hoffnung auf kollektive soziale und politische Aktionen (vgl.

Marx 1971, S. 534) gegen die kapitalistische Produktionsweise. Diese Hoffnungen wurden nicht erfüllt, weil sie den Grundprinzipien und Anforderungen der bestehenden Ökonomie entgegenstehen.

113 Vgl. dazu auch Hobbes Vertragslehre (1999) und Rousseau's Gesellschaftsvertrag (2000).

114 Zur Entfremdung trägt auch das Geld bei. „Das Geld ist das dem Menschen entfremdete Wesen seiner Arbeit und seines Daseins, und diese fremde Wesen beherrscht ihn, und er betet es an.“ (Marx 1971, S.

204)

Seiten dieses Verständnis von Menschsein nicht gesehen werden. Negativität tritt

beispielsweise durch die Verdinglichung und der damit einher gehenden Entäußerung auf (vgl.

Marx 1971, S. 276 ff.). Marx verstand darunter folgendes: Der Mensch setzt durch sein Tun einen Gegenstand. Dieser Gegenstand ist kein wirkliches Ding, nichts Selbständiges, sondern etwas Gesetztes. In der Dinglichkeit kann der Mensch keine Sinnlichkeit erfahren. Sinnlichkeit ist eine praktische menschliche Tätigkeit (vgl. Marx 1971, S. 340). Die Aneignung der

Dinglichkeit erfolgt über Wissen und Erkennen. Darüber erhält der Mensch Informationen über die Nichtigkeit der Dinglichkeit. Diese Nichtigkeit hat sowohl positive als negative Seiten. Der Mensch tritt in Verbindung zu den Dingen sowohl in der Form von Bejahung als auch in Form von Verneinung. In der Arbeit und der Schaffung von Dingen weiß der Mensch um sein entäußertes menschliches Selbstbewußtsein und zugleich wird das entäußerte

Selbstbewußtsein in der Arbeit bestätigt. Arbeit wird zum Selbsterzeugungsakt des Menschen (vgl. Marx 1971, S. 281).

Der Mensch wird zum Arbeiter, Arbeit ist der sich abhanden gekommene Mensch. Der Wert des Menschen wird durch den Markt bestimmt, die Ökonomie kennt den Menschen nur als Arbeiter bzw. als Funktion. Die Produktion produziert den Menschen als Ware und sie produziert ihn als entmenschtes Wesen (vgl. Marx 1971, S. 303). Der Mensch wird in diesem Verhältnis Ware (Humankapital) und somit dem kapitalistischen Verwertungsprozeß unterworfen.115

Menschliche Bedürfnisse

Marx sah sowohl wie die Art der menschlichen Bedürfnisse die neue Produktionsweise bestimmte, als auch, daß die menschlichen Bedürfnisse selbst Gegenstand der Produktion wurde. In der neuen Produktionsweise ging es darum Bedürfnisse zu wecken. Für Marx wuchs auf diesem Wege die wechselseitige Abhängigkeit, der Betrug und die gegenseitige

Ausplünderung. Mit der Zunahme von Produkten nahmen diese Phänomene zu. Der Mensch wurde ihm zufolge immer ärmer, je mehr Macht das Geld bekam und die Bedürfigkeit der Menschen wuchs.

Er merkte an, daß das Bedürfnis den Reichtum zu steigern, der zentrale und eigentliche Sinn der Ökonomie ist. Die Zunahme an Reichtum wird die einzige Eigenschaft der Ökonomie, Maßlosigkeit und Unmäßigkeit ihr Maßstab, die Steigerung der Quantität ihre Dynamik. Nicht Zufriedenheit, Genußfähigkeit und Ruhe wird in dieser Form zum menschlichen Bedürfnis gemacht, sondern Einbildung, Unzufriedenheit, Leere, Abstumpfung, Verschwendung und Entfremdung. Auf diese Weise bleibt für Marx das Streben nach Reichtum erhalten (vgl. Marx 1971, S. 255).

115 Marx formuliert hierzu eine weitergehende Kritik, indem er die paradoxe Ungesellschaftlichkeit sieht, welche darin besteht, daß Menschen in dem Zusammenleben zu Rechtspersonen werden, was in der kapitalistischen Produktionsweise bedeutet, Repräsentant einer Ware zu sein und aufgrund dieser Stellung erhält der Mensch Rechte.

Für die Ökonomie wird der Mensch als Individuum gefaßt, welches voller Bedürfnisse steckt.

Aus diesem Selbstverständnis entsteht ein Verhältnis der wechselseitigen Abhängigkeiten.

Jeder wird für den anderen zum Mittel zur Befriedigung der Bedürfnisse.

Die Entfremdung von menschlichen Bedürfnissen hatte zweierlei Komponenten. Einerseits vollzieht sich eine Raffinage der Bedürfnisse und ihrer Mittel, anderseits eine Verwilderung und Abstraktion der Bedürfnisse. Die menschlichen Bedürfnisse nach frischer Luft, Licht, Bewegung nehmen ab, der Mensch lebt in zunehmenden Maß unter sehr elenden Bedingungen. Die menschlichen Bedürfnisse und die menschlichen Tätigkeiten werden auf das notwendigste beschränkt. Die Masse der Arbeiter werden zu unsinnlichen und bedürfnislosen Wesen reduziert, ihre Tätigkeiten zu abstrakten mechanischen Bewegungen.

Die Nationalökonomie war für Marx also gleichzeitig eine Wissenschaft der Entsagung und des Reichtums.116 Ihr Lehrsatz war die Selbstentsagung und die Entsagung des Lebens und der menschlichen Bedürfnisse. "Je weniger du ißt, trinkst, Bücher kaufst, in das Theater,...gehst, denkst, liebst, theoretisierst, singst, machst, fühlst etc. um so mehr sparst du, um so größer wird ... dein Kapital. Je weniger du bist, je weniger du dein Leben äußerst, um so mehr hast du, um so größer ist dein entäußertes Leben, um so mehr speicherst du auf von deinem entfremdeten Wesen. Alles ... was dir der Nationalökonom an Leben nimmt und an Menschheit, das alles ersetzt er dir in Geld und Reichtum und alles was du nicht kannst, das kann dein Geld: es kann essen, trinken, ins Theater gehen, ... es macht sich die Kunst, die politische Macht, ... es kann dir das alles aneignen: es kann das alles kaufen; es ist das wahre Vermögen. Alle

Leidenschaften und alle Tätigkeit muß also untergehen in der Habsucht." (Marx 1971, S. 258)

Für Marx war die entfremdete Arbeit im Kapitalismus ein wesentlicher Kritikpunkt. Diese Form der Arbeit sollte für ihn in der nachkapitalistischen Produktionsweise überwunden werden.

Welchen Charakter und welche Form Arbeit117 dann annehmen könnte, geht aus seinen Werken nicht eindeutig hervor, hier bestehen sehr divergierende Interpretationsmöglichkeiten (vgl. Conert 1998, S. 171; Marx 1971,S. 234 ff.; Kurz 1995, S. 105 ff.).

Natürlich stellt sich die Frage, wovon entfremdet sich der Mensch. Die Beantwortung dieser Frage wird konstituiert und konstruiert sein von der jeweiligen Konzeption und deren erkenntnistheoretischen Fundierung (religiös, ontologisch-philosophisch,

normativ-anthropologisch). Daß die Suche nach einer Anwort von hoher Relevanz ist, zeigt die schlichte

116 Diese Gleichzeitigkeit findet in der Nationalökonomie auch ihren Niederschlag in den Theorien. Eine Seite empfiehlt den Luxus und lehnt die Sparsamkeit ab (Malthus), die andere Seite lehrt das Gegenteil (Ricardo, Say).

117 Arbeit ist für Marx eine "ewige Naturnotwendigkeit, um den Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur, also das menschliche Leben zu vermitteln." (Marx/Engels 1986, S. 57) Dieser Prozeß der Vermittlung ist aber bestimmt von Annahmen, Veränderungen, etc. "Arbeit" stellt sich in jeweiliger Zeit und Gesellschaft unterschiedlich dar. Arbeit ist somit keine Kategorie "an sich", sondern ebenso wie Ware und Geld vermittelter Ausdruck einer Gesellschaft und ihrer Wirtschaftsweise.

Tatsache, daß sich der Mensch in den bestehenden Verhältnissen nicht vollkommen entfalten kann. Das heißt, es sind Potenzen beobachtbar und wahrnehmbar, welche Unstimmigkeiten bis hin zu Ablehnungen auf unterschiedliche Weise deklarieren. Potentiale und Bedürfnisse des Menschen finden keine ausreichende bzw. überhaupt keine Realisierung in der bestehenden Gesellschaft.

Der Marxsche Ansatz gibt zur Bestimmtheit des Menschen keine endgültige Anwort. Seine Überlegungen reichten von anthropologischer Determiniertheit bis hin zur strikten Ablehnung dieser Vorstellung (vgl. Conert 1998, S. 128). In dieser Entwicklung lag für ihn die Erkenntnis, daß die Subjektform sozialer Individuen einer gesellschaftlichen Prägung ausgesetzt ist. Er lehnte damit die universelle und zeitlose Determinierung ebenso ab wie die „Relevanz ontogenetischer Übertragung von Persönlichkeitsmerkmalen“ (Conert 1998, S. 128).

Das Marxsche Entfremdungsparadigma hat eine zunehmende Aktualität erhalten, auch wenn es heute unter anderen Begriffen - der Verlust von sozialen Umgangsweisen, ethischen Normen, Gleichgültigkeit - diskutiert wird (vgl. Conert 1998, S. 127). Die Folgen der Entfremdung werden noch an weiteren Stellen dieser Arbeit referiert.