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3 Die Herausbildung der kapitalistischen Produktionsweise

3.3 Die christliche Religion und ihre Bedeutung für die moderne

3.3.1 Armut und Reichtum

In den bisherigen ökonomischen Vorstellungen wurde die Einkommensverteilung als Gegensatz von arm und reich verstanden. Erst durch die Industrialisierung wurden Einkommensklassen gebildet (Grundeigentümer: Rente, Kapitaleigentümer: Profite, Arbeiter: Löhne). Arm ist in der Neuzeit, wer nicht zu diesen Klassen gehört.

In der christlichen Tradition sind Reichtum und Armut eine weltliche Ungleichheit und

menschliches Schicksal.49 Die äußeren und materiellen Güter anzustreben war aber kein Ziel, welches erreicht werden sollte. In der Unterscheidung von arm und reich ging es zum einen um die Sicherung der Existenz und zum anderen um ein standesgemäßes Auskommen. Alles was darüber hinausreichte, sollte den Armen gegeben werden.

In dieser karitativen Ökonomie herrschte ein Sozialtransfer vor, der die Existenz der Armen sicherte. Dieser Sozialtransfer richtete sich nicht danach, was die Armen benötigten, sondern wieviel der Reiche entbehren konnte und wollte.50 Diese Christenpflicht wird beim jüngsten Gericht belohnt und durch die Nächstenliebe konnte der Mensch sich einen guten Stand im

49 Nur radikalchristliche Gemeinschaften forderten die Aufhebung der arm/reich Differenz.

50 Dieser Transfer hatte mehrerlei Bedingungen. Erstens durften die Armen über die Gaben nicht frei verfügen, sondern die Reichen definierten die Zwecke ihrer Gaben. Zweitens durften die Armen nicht

"reicher" werden, weil es sonst für die Reichen unmöglich geworden wäre, kontinuierliche Demut und Barmherzigkeit zu beweisen. Drittens war die Transferleistung daran gebunden, daß die Reichen reich bleiben mußten, da sie sonst nichts abgeben konnten (vgl. Priddat 1990).

Jenseits erkaufen. Das Handlungsmotiv war moralisch und konnte nicht eingefordert werden.

Die Kirche fungierte dabei als sittliche Institution. Es gab kein allgemeines Wohlstandskriterium, das Transfereinkommen der Armen war abhängig vom Schuldbewußtsein der Reichen.

Diese karitative Ökonomie hatte trotzdem eine statische Struktur. Das standesgemäße Einkommen und der standesgemäße Konsum hingen von der gesellschaftlichen Ordnung der Hierarchie der Stände ab. Es konnte nicht einfach das Niveau des standesgemäßen

Einkommens angehoben werden, denn die Gerechtigkeit erforderte eine gewisse Proportionalität.

Dieses Konzept kam durch den Handelsreichtum und die Territorialökonomie des späten Mittelalters erheblich ins Wanken. Die Reichtums- und Armutsfrage erhielt eine andere

Dimension. Verschiedene Theoretiker (z.B. Locke) transformierten diese karitative Ökonomie in die klassische Ökonomie. Ausschlaggebend wurde die eigene Leistungsfähigkeit, die es nun zu berücksichtigen galt. Karitative Leistungen sollten nur noch im äußersten Notfall geleistet werden. Das Geben von Almosen blieb zwar erhalten, es vollzog sich jedoch ein

grundsätzlicher Wechsel: Einkommen war kein gnädiges Geschenk Gottes mehr, sondern ein Ergebnis der eigenen Arbeit. Der Mensch sollte nun Lohn für den Fleiß seiner Arbeit erhalten.

"Nicht mehr der Mensch als blosser Christ, sondern der, der - als tätiger Christ - arbeitet, hat Ansprüche auf das superfluum. Die menschliche Würde ist kein Mass mehr an sich und für sich, sondern gebunden an die Kompetenz der Arbeit, die eine doppelte Bedeutung erhält: zum einen als Mit-Arbeit am Schöpfungsprozess ..., zum anderen als tätige Selbsterhaltung durch Arbeit. Damit sind neue Maßstäbe gestellt: wer arbeitet, schafft Eigentum. Die Armen

erscheinen als Kooperateure, die das superfluum der Reichen, d.h. der Eigentümer mitschaffen, das ihnen aber jetzt als Einkommen für ihre Arbeit zufließt."(Priddat 1990, S. 10)

Die Ökonomie erhielt auf diese Weise eine produktionstheoretische und rechtliche Basis. Die Neudefinition der Christenpflicht lautete, daß ein Teil des Gewinnes investiert werden sollte und die Armen zur Erhaltung und Vervollkommnung des Eigentums mitarbeiten müssen. Der karitative Almosentransfer verwandelte sich in einem ökonomischen Transfer.51 Die Reichen waren nun gefordert zu errechnen, wie hoch ihre Investitionen in Beschäftigungen sein sollten und welche Gewinne zu erwarten sind.52 Gewinn- und Reichtumssteigerung wurden legitimiert, solange sie zur Eigentumsnutzung verwendet wurden, Gewinnmöglichkeiten verbesserten sukzessiv die Beschäftigungsmöglichkeiten. Das Geld sollte nicht gehortet werden, sondern durch eigenen Gebrauch oder durch Gebrauchsgelegenheit für andere in Umlauf gebracht werden. Die Folge waren freie Zinspolitik und die Aufhebung des Wucherverbotes. Damit wurden die Voraussetzung für Investitionsmöglichkeiten geschaffen, welche weit über die bisherigen Möglichkeiten hinausreichten.

51 Angemerkt sei, daß seit dem Abbau der Sozialstaatlichkeit Elemente des karitativen Sozialtransfer wieder auftauchen (vgl. Reich 1993).

Die Standesaufteilung arm/reich wurde ersetzt durch die Unterscheidungskriterien Arbeit und Eigentum. Verschiedene Eigentumsdefinitionen und -legitimationen wurden entwickelt.53 Als Eigentümer galt jener Mensch, der Eigentum durch tätige Bearbeitung erhält. Für Eigentümer wurde legitimiert, andere zur Mitarbeit zu beschäftigen, wenn sie persönlich nicht in der Lage waren, ihr gesamtes Eigentum selbst zu bearbeiten. Hier gab es differente Konstrukte, die begründeten warum Arbeiter, obwohl sie mit ihrer Arbeit jeweils einen Teil des Eigentums bewahrten, nicht das Eigentum bekamen.

Armut erhielt in der neuen Standesaufteilung einen anderen Platz und eine neue Konnotation.

Arm war jetzt nur noch der Mensch, welcher nicht arbeitete. Gab es legitime Gründe, wieso ein Mensch nicht arbeiten konnte, wurde ihm nach den Regeln der karitativen Ökonomie weiterhin geholfen. Waren allerdings keine anerkannten Gründe vorhanden (selbstverschuldete Armut), bekam der Mensch keine Unterstützung oder wurde zur Arbeit gezwungen (vgl. Foucault 1994).

Sich zu weigern, den christlichen Stand der Arbeit einzunehmen, wurde nun als Versündigung gegen das Selbsterhaltungsgebot und als Verweigerung Gott zu dienen, gesehen (vgl. Weber 1996). "Die (alten) Armen der Caritas-Ökonomie erschienen ... als ungerechte Beansprucher des allgemeinen Reichtums, da sie nicht arbeiten wollen, obwohl sie können. Sie gelten - am neuen Arbeits-Ethos gemessen- als faul, im Status gleich den Indianern Amerikas, die sich nicht in die Pflicht nehmen lassen, ihr Land effizient und umfassend zu kultivieren, weshalb den englischen Christen geboten sei, deren Ländereien zu kolonialisieren oder durch intensiven Handel zu nutzen. Der faule Arme ... rückt in die gefährliche Nähe der Heiden, die Gottes Schöpfungspläne mißachten."(Priddat 1990, S. 12).

Eine neue Arbeitsmoral installierte sich, die karitativ-moralische Tradition des religiös motivierten Einkommens wurde aufgehoben.54 Moralisch war nun Kapital für Beschäftigung bereitzustellen. Modern sein hieß in diesem Konnex, Arbeit zu geben und kein Almosen. Sittlich handelten die Reichen, welche investierten. Modern war außerdem, seine privaten Interessen zu verfolgen und dadurch den Reichtum der Nation zu steigern.

Die arm/reich Differenz verwandelte sich in eine funktionale Kapital/Arbeit Differenz. Durch die immanente Wachstumsdynamik des Kapitals wurde versprochen, daß Einkommen aller Gesellschaftsmitglieder zu steigern (vgl. Smith 1999). Im Wachstum der Produktion wurde die neue Verteilungslösung gesehen, welche von der christlichen Ökonomie zwar beansprucht, aber nicht eingelöst werden konnte (vgl. Priddat 1990).

52 Die Berechnungen und Ausgangsüberlegungen waren an die Lehren des Merkantilismus gebunden (vgl.

Priddat 1990, S. 11 f.).

53 Vgl. Morus, Hobbes, Locke, Fichte, Hegel etc.

54 Vgl. dazu die neuen Staatsvertragskonzeptionen und -theorien mit ihren Ansätzen zur sozialen Frage und zur Arm/Reich-Problematik (Hobbes, Morus, Locke).