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Ein vertiefter Blick in das „Übergangssystem“

Im Dokument 2008 Qualität in Schule und Betrieb (Seite 65-68)

Fachtagung Berufliche Förderpädagogik

1 Ein vertiefter Blick in das „Übergangssystem“

Die drängende Bedarfssituation ist durch das Konsortium Bildungsberichtserstattung zutreffend cha-rakterisiert worden. Bei dem Übergangssystem mit seiner Steigerung der Neuzugänge von rund 341.000 im Jahr 1995 auf rund 488.000 im Jahr 2004 handele es sich um „die möglicherweise folgenreichste und auch problematischste Strukturverschiebung“ im deutschen Bildungswesen“ (Konsortium 2006, S. 80).

Die Expansion des Übergangssystems sei eine „ernsthafte bildungspolitische Herausforderung“ (a.a.O., S. 82). Diese Herausforderung zielt auch auf die Benachteiligtenförderung, auf das real vorhandene Ge-samt-System (vor-) beruflicher Förderung für benachteiligte Jugendliche, das vertieft wissenschaftlich durchdrungen werden muss.

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Ausgehend von einer breit angelegten Untersuchung des Deutschen Jugendinstituts (DJI) berichtete Birgit Reißig über Wege benachteiligter Jugendlicher nach der Schule und skizzierte dabei erste An-forderungen für ein regionales Übergangsmanagement. Dieses sei aus mehreren Gründen geboten.

Zuallererst muss bedacht sein, dass die politischen Folgen von Ausbildungs- und Arbeitslosigkeit vor allem Kommunen treffen. Hier sitzen aber auch die Fachleute, die die unmittelbare Situation kennen.

Angesichts der Tatsache, dass die Zuständigkeiten für benachteiligte Jugendliche in Deutschland auf verschiedenen Ebenen angesiedelt sind (z. B. beim Bund und beim Land) und die Koordination und Ko-operation auf lokaler/regionaler Ebene gefordert ist, sollten diese Ebenen deutlich gestärkt werden.

Das Forschungsprojekt verfolgt nun die Frage, wie inzwischen die Übergangswege und Übergangsver-läufe benachteiligter Jugendlicher aussehen. Die Basiserhebung per Fragebogen bezog sich bundesweit auf 126 Schulen mit verschiedenen Förderstrategien. Ansprechpartner sind 14 – 17jährige Schülerinnen und Schüler in Abschlussklassen von Haupt- und Gesamtschulen (Hauptschulzweig), also Jugendliche mit schwierigen Startvoraussetzungen für den Übergang Schule – Ausbildung. In Follow-up-Untersu-chungen per Telefoninterview wurden weitere Daten erhoben. 1.322 Jugendliche nahmen von 2004 bis 2006 an den Befragungen teil. Ergebnisse: Bei den Bildungs- und Ausbildungswegen kommen Haupt-schulabsolventinnen und -absolventen trotz unterschiedlicher Ausgangsaspirationen und cooling-out-Prozessen (ursprünglich gingen 26% in eine Ausbildung; 26 % gingen ins BVJ und 35% gingen weiter zur Schule) nach gut zweieinhalb Jahren zu über 54 % in eine Ausbildung. Trotz der differenzierten Analyse der verschlungenen Wege der Jugendliche bleibt offen, welche Ausbildungsberufe und welche Formen der Ausbildung (betriebliche, außerbetriebliche, schulische) erreicht wurden.

Eine deutliche Verbesserung des regionalen Übergangsmanagements beginnt in der Schule. Die ein-zelne Schule ist als Handlungsträger relevant, etwa durch die Gewinnung von Betriebspraktika; dazu sollten vor Ort Betriebe und Einrichtungen als außerschulische Lernorte für Jugendliche gewonnen und Wege in eine Ausbildung eröffnet werden. Ein Case-Management ist nötig, das kontinuierliche Einzel-fallbetreuung für benachteiligte Jugendliche anbietet und an den Voraussetzungen und Bedürfnisse der Jugendlichen anknüpft, aber auch die lokalen Angebotsstrukturen kennt und einbaut. Dazu müssen die Schnittstellen des Übergangs in den Blick genommen und besser abgestimmt werden. Kompetenzfest-stellungsverfahren bieten die Chance, die Ressourcen benachteiligter Jugendlichen sichtbar zu machen und als Grundlage für die weitere Förderung nutzen. Und schließlich ist an Ausbildungsassistenz zu denken, in der Betriebe unterstützt werden, um sie für Ausbildungsangebote auch für benachteiligte Jugendliche zu gewinnen. Allerdings: Ohne einen politischen Konsens über die Einrichtung und die Ziele eines regionalen Übergangsmanagements und ohne die Schaffung entsprechender Strukturen bleibt Übergangsmanagement Stückwerk.

Mit dem Thema: „Abbrüche“ beleuchtet Dietmar Heisler wichtige Tendenzen im Übergangsgangssys-tem. Ein „Abbruch“ von Ausbildung oder von Maßnahmen in der Benachteiligtenförderung ist berufspä-dagogisch bisher nur tentativ bearbeitet worden. Abbrüche bei Jugendlichen werden üblicherweise eher als ein negatives Ereignis beschrieben. Hinzu kommt als entscheidende systemische Tatsache, dass in der beruflichen Benachteiligtenförderung der Abbruch von Ausbildung oder von Maßnahmen als Quali-tätsindikator gesehen wird, mit dem die Träger seitens der Bundesagentur für Arbeit auf ihre Qualität hin beurteilt werden. Heisler erweitert demgegenüber den Blickwinkel. Er bringt neben der Sichtweise der beteiligten Pädagoginnen und Pädagogen kontrastiv auch die Erfahrungen von solchen Jugendlichen ein, die eine Maßnahme oder eine Ausbildung abgebrochen haben. Mit diesem Perspektivenwechsel wird das Abbruchgeschehen systematisch erweitert und in den komplexen Zusammenhang

persön-licher Dispositionen, aber auch in das schwierige Gefüge des Übergangssystems eingestellt. In dem Vortrag wurde deutlich, dass aus dem Gesamt von Ausbildungs- und Maßnahmeabbrechern ein Teil Ju-gendlicher übrig bleibt, der nicht wieder in das berufliche Bildungssystem zurückkehrt. Abbruch in einer Bildungskarriere ist immer auch ein kritisches Lebensereignis. Ähnlich wie Birgit Reissig kommt Dietmar Heisler zu dem Ergebnis, dass Praktika für die Berufswahlorientierung eine große Rolle spielen. Dabei hat die Berufsberatung der Arbeitsagentur „kein gutes Image“. Insgesamt deuten seine Befunde darauf hin, dass subjektive Faktoren (Konflikte am Arbeitsplatz, Devianz, Drogenkonsum, etc.) und objektiven Bedingungen zusammen spielen, wenn Jugendliche sich veranlasst sehen, eine Maßnahme vorzeitig zu beenden, oder wenn ihnen gekündigt wird.

Diese Sichtweise erweitert den Horizont für eine systemische Betrachtung der Übergangsprozesse:

Während die Pädagogen offenbar dazu neigen, den Jugendlichen selber die Probleme bei einem Ab-bruch zuschieben, artikulieren die Jugendlichen das gesamte Bedingungsgefüge und die Dynamik des Abbruchgeschehens. Der problematisierenden Sichtweise der professionellen Pädagogen sollte die Sichtweise der Jugendlichen gegenübergestellt werden. Damit bleibt zentral der Eindruck, dass die Entwicklungsdynamik des Jugendalters im derzeitigen „Übergangssystem“ immer weniger abgefangen werden kann. Es machen sich Tendenzen geltend, die auf eine Ausdifferenzierung oder gar eine Abdrän-gung von Jugendlichen aus den berufsvorbereitenden Maßnahmen hinweisen.

In der Tat haben sich im Übergangssystem neue Segmentationen und Ausdifferenzierungen in den Ziel-gruppen und den Systemelementen herausgebildet, so kann man mit Peter Straßer und Ivonne Mascioni sagen. Ihre exemplarische Analyse ausgewählter Modelle aus vier Bundesländern zeigt eine Entwick-lungsdynamik im schulischen Bereich. Allein die quantitative Ausweitung des Übergangssystems hat dazu geführt, dass auch die Schülerzahlen in den Berufsvorbereitungsklassen in den Bundesländern angestiegen sind. Das betrifft die Schulorganisation und den Unterricht an berufsbildenden Schulen.

Inzwischen gilt als gesichert, dass sich ca. ein Drittel des Unterrichts an berufsbildenden Schulen allein in Klassen der Berufsvorbereitung abspielt. Neben dieser Ausweitung und Ausdifferenzierung der schu-lischen Berufsvorbereitung zeigen sich als Tendenzen z. B. eine Dualisierung der schuschu-lischen Berufs-vorbereitung (also vermehrte Lernortkooperationen) oder auch eine Intensivierung der (externen) Koope-rationsarbeit. Auch wird in der schulischen Berufsvorbereitung vermehrt der Ansatz einer Zertifizierung beruflicher Fähigkeiten realisiert (Qualifizierungsbausteine); zudem lässt sich eine verstärkte Betonung der schulischen Abschlüsse beobachten (Hauptschulabschluss, Orientierung an Kerncurricula der Se-kundarstufe I in Niedersachsen). Als Grundtendenz arbeiten Straßer/ Mascioni die zunehmende indivi-duelle Förderung heraus: Auch im Berufsvorbereitungsjahr wird vermehrt Wert gelegt auf indiviindivi-duelle Beratung, auf neue Formen der Unterrichtsdifferenzierung oder auf den Einsatz schulformbezogener Materialien. Individuelle Förderung durch ressourcenerschließende Instrumente (Kompetenzdiagnostik) und daran anschließende Fördermethoden werden wichtiger und selbstverständlicher eingesetzt. Am Beispiel des Hessischen Modells EIBE (Programm zur Eingliederung in die Berufs- und Arbeitswelt) lassen sich diese Aussagen konkretisieren: Wichtige Elemente in diesem schulischen Modell sind: Netz-werkarbeit und Übergangskonferenzen, Einsatz individueller Förderplanung verbunden mit Qualifizie-rungsbausteinen und einer bewusst gestalteten Einbeziehung des sozialen Umfelds durch den Einsatz von Sozialpädagoginnen/en freier Träger im Schulumfeld. Vielfältig stellen sich hieran Fragen, wie die Qualifizierungsbausteine mit individueller Förderplanung und dem hohen betrieblichen Anteil verknüpft werden können.

Fachtagung Berufliche Förderpädagogik

Für die Entwicklung des Übergangsystems lässt sich hinsichtlich der schulischen Berufsvorbereitung festhalten: Es werden zukünftig höhere Anforderungen in der organisatorischen, personellen und fach-didaktischen Ausgestaltung von Lehr-Lernprozessen aufgrund zunehmender Theoriepraxisverzahnung erforderlich. Der Einbezug unterschiedlicher Lernorte bedingt (sozial)-pädagogische Betreuung bzw.

Bildungsbegleitung. Das aber führt unbedingt zu neuen Qualifikationsanforderungen an pädagogische Fachkräfte und Lehrende.

Die Vorträge und Diskussionen zeigten: Übergangsmanagement als Hauptaktivitätsfeld reicht ebenso wenig aus wie die Betonung betrieblicher Praktika als Einstieg in die Arbeitswelt. Wir müssen uns über die Komplexität eines Vorganges verständigen, der sich historisch neu darstellt. Die Ausdifferenzierung des Übergangssystems nimmt zu, Politik und Pädagogik sind ratlos. Auch die „Weinheimer Erklärung“, in die kommunale Expertise und Sachverstand vieler Fachleute eingeflossen ist, rückt lediglich das „Lo-kale Übergangsmanagement“ in den Mittelpunkt. Die Forderung an die Bildungspolitik zur Gestaltung eines kohärenten Fördersystems bleibt auf der Tagesordnung.

Im Dokument 2008 Qualität in Schule und Betrieb (Seite 65-68)