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6.  Auswertung

6.2  Dimension der epistemischen Praktiken

Die hier untersuchten Fachdisziplinen sind nicht als reine Laborwissenschaften  zu identifizieren, arbeiten allerdings auch nur bedingt im Feld. Mara beschreibt  das Konstruieren von „Versuchsständen“ und Testen von Prototypen im Labor  anhand der Wirksamkeit von chemischen Stoffen für die Medizin und anhand  des Verschleißes von Materialien, die im medizinischen Bereich zur Anwendung  kommen („Impffaktor“; „Verschleiß von Injektionsnadeln“). im Maschinenbau,  Alba nennt das Berechnen von Gleichungen („iterative Lösungsverfahren“) in  der Mathematik, Donata das Programmieren von Datenbanken („Logistik in ei‐

nem Bio‐Fast‐Food‐Restaurant“) am Computer in der Informatik, u. a. Lediglich  Nele berichtet von Projekten, in denen die Blickrichtungen von Autofahrer/‐

innen unter realitätsnahen Bedingungen auf einer Teststrecke gemessen wer‐

den. Ausgehend von den Beschreibungen der Studentinnen sind der Maschi‐

nenbau,  Verkehrswesen  und  auch  Elektrotechnik  zu  den  „har‐

ten/angewandten“ Wissenschaften zu zählen. Ihre Verfahren bedienen sich der  naturwissenschaftlichen Methoden der Mathematik und Physik. Ergebnis sind  konkrete Artefakte oder Produkte, die im „Feld“ ggf. getestet und angewendet  werden. Mathematik und Informatik arbeiten stärker auf Basis mathematisch‐

logischer Beweisverfahren und können somit näher in Richtung „harte/reine“ 

Ingenieurwissenschaften verortet werden (Becher 1987; Schaeper 1997). Ten‐

denziell gilt für die untersuchten Fachdisziplinen, dass ihr epistemischer Raum,  zumindest dem Selbstverständnis nach, als weitestgehend abgeschlossen gilt. 

Das begründet sich dadurch, dass auf Methoden der Naturwissenschaften (Ma‐

thematik und Physik) gesetzt wird, deren Verfahren mit prinzipieller Wieder‐

holbarkeit und mit einem hohen Grad an Objektivität assoziiert sind. Alle Stu‐

dentinnen nennen als Kernfächer im Grundstudium Mathematik und Physik.  

Die Grundlagenfokussierung in den Ingenieurwissenschaften 

Die mathematisch‐naturwissenschaftliche (Czichos & Hennecke 2004) Fundie‐

rung der Ingenieurwissenschaften drückt sich inhaltlich und strukturell in der  Gestaltung des Grund‐ und Hauptstudiums aus. Es ist ausnahmslos deutlich,  dass eine klare Trennung zwischen Grund‐ und Hauptstudium besteht. Wäh‐

rend im Grundstudium die mathematisch‐naturwissenschaftlichen Grundlagen  erlernt (vgl. Kapitel 3.2) werden, können die Studentinnen diese Kenntnisse 

erst im Hauptstudium zur Vertiefung bringen und anwenden. Studentin Tita  verdeutlicht den Status der Grundlagen im Selbstverständnis der Ingenieurwis‐

senschaften. 

Tita: (…) Wenn du dir jetzt vorstellst, du musst einen Tisch bauen, d.h. du musst aber  erstmal die Werkzeuge kennen lernen. Du weißt, was ein Schraubenzieher ist  und du weißt, was ein Hammer ist. Und genau das lernen wir im Grundstudium 

‐ wir lernen die Werkzeuge kennen, (…) damit wir im Hauptstudium den Tisch 

zusammenbauen können.“ (Elektrotechnik) 

Im Zitat wird zweierlei deutlich: Das handwerkliche Begriffsrepertoire, verweist  auf den Ursprung der Ingenieurwissenschaften. Die in der Lehrstruktur veran‐

kerte Trennung von Grundlagen und Anwendung deutet auf die von Paulitz  (2008a)  und  Faulkner  (2008)  aufgezeigte  Spannung  zwischen  künstlerisch‐

handwerklicher  und wissenschaftlich‐denkender  Tätigkeit  hin.  Offensichtlich  kann es keine Gleichrangigkeit zwischen beiden methodischen Ansätzen geben. 

Darüber hinaus entsteht der Eindruck von sequentiertem und standardisiertem  Arbeiten. Mit „Schraubenzieher“ und „Hammer“ werden in einer festgelegten  Reihenfolge die Teile des „Tisches“ systematisch zusammengefügt, wobei die  Benutzung der Werkzeuge (Bewegungsabläufe, Handhabung) zuvor festgelegt  sind. Die Interpretation führt zu einem Bild hoher Standardisierung und festge‐

legter Verfahren in den Ingenieurwissenschaften. 

So wird die Sequentierung der Studieninhalte und der Studienphasen Bedin‐

gung für den erfolgreichen Verlauf des Hauptstudiums (Studien‐, und Diplom‐

arbeit), aber auch für die berufliche Qualifikation, wie es die Maschinenbauerin  Mara betont.  

Mara: Man kann alles parallel machen [Kurse und Studien‐/Diplomarbeit; Anm. d. 

Autorin]. Nur die Sache ist die, dass man sich halt nicht so gut auskennt, weil  man manche Kurse ja noch nicht besucht hat und meistens die Professoren ei‐

nen nicht unbedingt nehmen wollen, wenn man noch nicht so viel Ahnung hat. 

(…) Es sind ja schon dann wichtige Projekte, die auch die Doktoranden natür‐

lich verwenden für ihre Arbeiten und deswegen muss man schon ein bisschen  Ahnung haben. (…) Das ist im Maschinenbau schon wichtig, da es so viel gibt,  dass du die Grundlagen einfach hast, (...) damit du was konstruieren kannst,  sonst (…) geht das halt nicht.“ (Maschinenbau)  

Die uneingeschränkte Kenntnis der Grundlagen ist die Hürde, die zu nehmen  ist, um Teil der Scientific Community zu werden.100 Auch wird deutlich, dass es  nur eine geringe Fehlertoleranz gibt, denn es handelt sich um „wichtige Projek‐

te“. Die Mitarbeit von Studierenden an diesen Projekten, um ihnen frühzeitig  Einblick in mögliche Anwendungsfälle zu geben, wird vermieden, denn sie wür‐

de vermutlich die Exaktheit der eigenen wissenschaftlichen Tätigkeit gefähr‐

den.  

Angesprochen ist hier die bekannte Problematik der fehlenden Kontextualisie‐

rung bzw. das Einführen der Studierenden in Anwendungsszenarien. Folglich  stellen mehrere Studentinnen fest, dass eine Kontextualisierung oder Verknüp‐

fung zu möglichen Anwendungsfällen trotz Beispielen nicht hinreichend statt‐

findet und den Lernprozess beeinträchtigt.  

Casja: Also unser Professor hat dann schon mal so’n Transrapid, (…) der auch mit  magnetischen Feldern (…) angetrieben wird, also er hat das schon versucht,  soviel Praxis reinzubringen wie es ging, aber es war immer schon oft so, dass  man denkt, was rechnen wir hier eigentlich, was machen wir überhaupt.“ 

(Elektrotechnik)

Es ergibt sich der Eindruck, dass auf Beispiele verzichtet wird, um den epistemi‐

schen Raum begrenzt zu halten. Ein Abrücken von den epistemischen Praktiken  (Berechnen mit Mathematik und Physik) würde das Objektivitätsideal der inge‐

nieurwissenschaftlichen  Methoden,  das  der  wissenschaftlichen  Profilierung  dient, minderwertiger erscheinen lassen.  

Auf die Frage, ob man durch frühere Spezialisierung oder Novellierung der Stu‐

dienstruktur bessere Studienbedingungen schaffen könnte, äußert die Studen‐

tin des Maschinenbaus widersprüchliche Ansichten. 

      

100   Mit Engler ist zu deuten, dass es sich hier um einen Initiationsritus handelt. Erst mit er‐

folgreichem Beweis der Grundlagenfestigkeit in den Klausuren, dürfen die Studierenden  näher in die Scientific Community eintreten. Ähnlich hat Engler bereits für die Begrü‐

ßungsveranstaltungen der Erstsemester in verschiedenen Fachgebieten Inszenierungen  der Initiation beobachtet und beschrieben (Engler 1999; vgl. auch Erlemann 2004, S. 72  und 91). 

Mara: "Also, man braucht die (Grundlagen) einfach alle. Da kann man, da kommt  man eben nicht drum rum, man muss das einfach wissen, diese Grundlagen,  sonst weiß man nicht, wo man überhaupt anfangen soll zu suchen " (Maschi‐

nenbau) 

Zunächst stimmt die Studentin der Grundlagenfokussierung zu. Nur eine ge‐

naue Kenntnis des Grundlagenrepertoires bringt die Kompetenz, spätere Auf‐

gabenstellungen zu bewältigen. Sie hat diese Fokussierung als Profilierungsmaß  der Ingenieurwissenschaften bereits akzeptiert und ist in diesem Sinne als Mit‐

glied der Scientific Community sozialisiert. Im weiteren Gesprächsverlauf be‐

nennt sie allerdings die negativen Folgen für die Studienmotivation und fordert  die zuvor zurückgewiesene frühere Heranführung an anwendungsorientiertes  Arbeiten. 

Mara: „Und, dass man die Vorlesungen, die ich jetzt im Hauptstudium hatte, auch  schon im Grundstudium mit hat. (…) Weil das das ist, was einen später interes‐

siert, und ich find das eigentlich total schade, dass man das erst so spät mitbe‐

kommt. Also(…), {inzwischen}, dass so viele Leute abspringen und so. Und für  mich, ich wusste halt, dass ich das durchziehen möchte und so. Deswegen war  das für mich jetzt kein Problem, es jetzt erst am Schluss zu haben. (…) Und ich  finde man hat jetzt für die Hauptstudiumsfächer nicht so viele Grundlagen ge‐

braucht.“ (Maschinenbau)

Aus dem Zitat wird deutlich, dass die wissenschaftliche Ausbildung nicht an di‐

verse Interessenspektren der Studierenden oder Gesellschaft anknüpft, son‐

dern dass es darum geht, das wissenschaftliche Selbstbild aufrecht zu erhalten. 

Das Professionsinteresse wird symbolisch unterstrichen, z.B. durch die  hohen  Leistungsanforderungen, die Mara und auch die anderen Studentinnen bereit‐

willig erfüllen. Für die Ingenieurwissenschaften sind demnach nur Studierende  geeignet, die eine sehr hohe Leistungsbereitschaft zeigen. Allerdings zeigen  neueste Studien, dass die leistungsstärksten Schüler/innen die reinen Natur‐

wissenschaften und Wirtschaftswissenschaften wählen und nicht die Ingeni‐

eurwissenschaften (acatech 2009, S. 31). Insofern scheint es keine Kongruenz  zwischen  wissenschaftlichem Selbstbild und Außenwahrnehmung  zu  geben,  außer in Bezug auf die hohen Leistungsanforderungen (acatech 2009, S. 40). 

Das heißt trotz des Rückgriffs auf das mathematisch‐naturwissenschaftliche 

Methodenrepertoire erreichen die Ingenieurwissenschaften nicht den gleichen  Rang wie die Natur‐ oder Wirtschaftswissenschaften, zumindest in der gesell‐

schaftlichen Wahrnehmung. 

Der Hinweis darauf, dass Mara im Hauptstudium nicht alle Grundlagen wieder  benötigt hat (vgl. Zitat, S. 171), nährt die Interpretation, dass die Vermittlung  eines wissenschaftlichen Selbstbildes im Vordergrund steht. Die Konsequenzen  für die Studienmotivation aus der Überfrachtung mit Grundlagen ist eine hohe  Abbruchquote bei den Studierenden (vgl. Zitat, S. 118). 

Verhältnis praxisorientierter und wissenschaftlich‐kognitiver Wissensvermitt‐

lung und Arbeitstechniken 

Der Wunsch nach stärkerer Anwendungsorientierung im Sinne von praktischer  Arbeit wird von mehreren Studentinnen genannt. Es wird Praxis laut Lehrplan  in Form von Labor oder Praktika „versprochen“, aber die monotone Lehrstruk‐

tur auch in diesen Veranstaltungen nicht durchbrochen. besonders problema‐

tisch erscheint dies, weil praxisnahes Studieren explizit, den Studienwunsch  beeinflusst (vgl. Zitat Alba). 

Tita: „Ich würde gerne mehr praktische Sachen machen. Mehr Labor und (und zwar )  richtiges Labor. In (…) Elektrotechnik 1 und 2 war ja mit Labor, aber es nennt  sich Labor, ist aber kein Labor. Da wird ja wieder nur Theorie beigebracht. Wir  rechnen. Die Geräte zum Schaltungsbau und so sind zwar am Rand des Klassen‐

zimmers zu sehen, aber wir nutzen die meisten gar nicht.“(Elektrotechnik) 

Tita: „Nein, jetzt habe ich vielleicht zwei mal irgendwas Richtiges in die Hand be‐

kommen. Ich weiß auch nicht, ob das was Richtiges ist oder nicht. Und zwar  haben wir da einen Operationsverstärker gebaut. Und wenn ich jetzt diese  Schaltung raus nehme, dann weiß ich nicht, wie das noch geht, oder wie man  das berechnen kann. Früher habe ich nur (…) kennen gelernt, wie man Sachen  auf einer Platte einlötet. Mehr nicht!“ (Elektrotechnik) 

Alba: „Also, im Gegensatz zu einem Master mit nur einem naturwissenschaftlichen  Fach eben auch Ingenieurswissenschaften anzugucken, irgendwie ein bisschen  mehr, ein bisschen mehr rumzuprobieren.“ (Mathematikerin) 

In diesen Aussagen stellt sich der Eindruck ein, dass praxisorientiertes Lernen,  den Wissenskanon ‚verunreinigen‘ würde. Praxisorientiertes Arbeiten kollidiert 

mit  dem  mathematisch‐naturwissenschaftlichen  Ideal  von  Objektivität  und 

‚Reinheit‘ des Wissens. Dabei ist die Reinheit mit Männlichkeit assoziiert. An‐

wendungsorientiertes Wissen erscheint von geringerer Wertigkeit für die Inge‐

nieurwissenschaften. 

Die direkte Gegenüberstellung der Aussagen von Tita und Alba offenbart zu‐

dem, dass die Vorstellungen über ingenieurwissenschaftliches, also praxisorien‐

tiertes Lernen und Arbeiten nicht mit der Realität übereinstimmen, denn gera‐

de dies findet hier kaum statt. 

Die Hierarchie der wissenschaftlichen Tätigkeiten oder Arbeitsleistungen wird  auch deutlich, wenn ein grundsätzlicher Blick darauf gerichtet wird, welche Ar‐

beitstechniken die Studentinnen beschreiben. 

So  können  als  wesentliche  Arbeitsleistung  kognitive  Techniken  identifiziert  werden. Praktisches Arbeiten (z.B. Anfertigen von Modellen oder Prototypen)  spielt, wie gesagt, eine untergeordnete Rolle, sodass es an andere Akteure de‐

legiert wird.  

Viola: „Bist du denn auch ein praktischer Typ? Also, ihr werdet ja auch gelegentlich  mal ‚basteln‘, wie ich das jetzt beschreiben würde.  

Mara: Ja, man lässt eher basteln. (Lachen)  Viola: Achso. 

Mara: Also, man konstruiert und gibt das dann der Werkstatt. Also, aber doch, man  macht das alles‐ man baut das schon selber zusammen ‐ die Einzelteile.“ (Ma‐

schinenbau) 

Casja: „Na ja, Basteln ist ja wirklich so ein kleiner Prozentsatz. Das macht ja kaum  jemand wirklich, was bauen. Das ist sogar selten, dass man das im Studium  macht. (…). Ja okay, in Elektronische Schaltung haben wir mal eine Sache auf‐

gebaut und jetzt für meine Studienarbeit habe ich auch mal löten müssen,... 

Sonst kommt man, man bastelt halt nicht! Das ist so die Vorstellung von Vie‐

len, dass ein Elektrotechniker bastelt.“ (Elektrotechnik) 

Die kognitive Ausrichtung wird in den Beschreibungen der Tätigkeiten bei der  Auseinandersetzung mit den Studieninhalten deutlich. Es werden Begriffe wie 

„Berechnen“, „Analysieren“, „Prinzip verstehen“, „Konstruieren“, „abstraktes 

oder technisches Denken“, „Programmieren“ usw. genannt.101 Dieses Begriffs‐

spektrum ist deutlich der Kognition zuzuordnen. Darüber hinaus tragen Begriffe  wie „Berechnen“, „Analysieren“ oder „abstrakt Denken“ eine stark rationale  Bedeutungskomponente.  

Die Studentinnen werden folglich mit einem Idealbild wissenschaftlicher Tätig‐

keit konfrontiert, die praktische, kreative oder handwerkliche Tätigkeiten weit‐

gehend ausschließt und in ihrem Rang durch Delegation an z.B. Werkstattmit‐

arbeiter abstuft. In  Bezug auf ihren Lernerfolg  führt das eindimensionierte  Spektrum der zu erlernenden Fähigkeiten zu Belastungen und wirkt negativ auf  die Studienmotivation. 

Die von den Studentinnen beschriebenen Arbeitstechniken oder ‚Denkstruktu‐

ren‘ („technisches, abstraktes Denken“) verweisen auf die Struktur oder Ord‐

nung des Wissenskorpus. Der Wissenskorpus weist eine Struktur auf, die sich  nicht durch Vernetzungen oder Verbindungen definiert. Die frontale Wissens‐

vermittlung und repititive Wissenswiedergabe in Klausuren führt zu einem Bild,  in dem nicht das Lernen von Zusammenhängen gefordert ist. Die Studentinnen  beschreiben Arbeits‐ und Lerntechniken, mit denen sie sich im Wissenskorpus  zu orientieren versuchen. Dabei geht es darum, dass Wissen zu ordnen und sich  durch  Erinnerungstechniken  darin  zurechtzufinden,  nicht  den  Transfer  von  Theorie und Praxis zu erschließen. 

Mara: „Ich kann mich halt meistens schon daran erinnern, das hatten wir damals in  Strömungslehre angesprochen. Also, wenn ich zum Beispiel (…) irgendwas, ein  Bauteil, irgendwas, das Drehmoment berechnen soll, (…) dann weiß ich halt in  Mechanik haben wir schon mal sowas (gemacht) oder in Konstruktionslehre  habe ich schon mal sowas gehört.“ (Maschinenbau)  

Die Ordnungstechniken gehören zum Beispiel in der Informatik auch explizit zur  wissenschaftlichen Tätigkeit:  

Donata: „Es geht halt nur immer um die Datenfluten und die Bewältigung von der  Datenflut. Ja, deswegen muss man sich da halt überlegen, wie es zu ordnen ist,  zu berechnen ist na ja und dann überlegt man sich halt Strategien.“( Informa‐

tik) 

      

101   Weitere ingenieurwissenschaftliche Tätigkeiten, vgl. Faulkner 2008. 

Das Orientieren im Wissenskorpus und das Nutzen des erlernten Wissens er‐

folgt ebenso sequentiert wie das Erlernen. Es ist zu vermuten, dass eine kom‐

plexe Systematisierung, die auf Zusammenhänge verweist, nicht gegeben ist. 

Verdeutlicht wird dies auch durch die mehrfach genannte Feststellung, dass  Verstehen nicht das Lernziel darstellt (s.u. Zitat Mara). 

Das Verstehen komplexer Zusammenhänge stellt sich somit als Problem dar. 

Eine Elektrotechnikerin stellt die hohen Anforderungen am Beispiel der neuen  Bachelor‐Studierenden dar und macht so die verstärkten Konsequenzen im  Rahmen des Bologna‐Prozesses deutlich.  

Tita: „(…) Sie sitzen in derselben Vorlesung wie ich! Und zwar Pflicht und nicht die,  die daran interessiert sind, sondern die, die laut Lehrplan da sitzen müssen. Die  tun mir einfach sehr leid. Ich begreife ja nicht mal den Stoff, wo ich im höheren  Semester bin und die müssen es im zweiten begreifen. Die Klausur ist sowohl  für Diplom als auch für Bachelor. Es ist die gleiche Klausur.“ (Elektrotechnik)  

Mara: „Also, man soll auch gar nicht alles verstehen und alles‐, na, vielleicht wär´s  schon schön, was man durchmacht, dass man das versteht. Aber, es soll ein‐

fach dazu dienen, dass man weiß, wo man gucken muss später.“ (Maschinen‐

bau) 

Das Repertoire an Fähigkeiten und Kompetenzen, dass die Studentinnen ver‐

mittelt bekommen, schließt an die Sequentierung der Studieninhalte an. Es  handelt sich nicht um ein holistisches Konzept von Kompetenzentwicklung. Es  werden eine Reihe als bewährt und mit Wissenschaftlichkeit assoziierter Fähig‐

keiten geschult, die es ermöglichen, Inhalte zu abstrahieren, losgelöst von ihren  Kontexten zu betrachten und vor allem nicht zu hinterfragen. Dieser Kompe‐

tenzkanon ist als Vermittlung „objektiver Arbeitstechniken“ zu verstehen. Da‐

bei gehe ich anders als Erlemann nicht davon aus, dass die intuitiven Elemente,  das Verinnerlichen im „Verständnis“ als dazugehörige Komponente verankert  sind (Erlemann 2004, S. 94). Praktisches Arbeiten ist von niederem Rang, erhält  seine Berechtigung nur noch aus der historischen Entwicklung der Ingenieur‐

wissenschaft, gehört aber nicht zum wissenschaftlichen Kanon und somit nicht  zur Ausbildung der Studierenden. 

Lehrstrukturelle Merkmale des wissenschaftlichen Objektivitätsideals 

Das auf der inhaltlichen Trennung von Grundlagen und Anwendung inszenierte  Bild der hoch rationalen und objektiven Ingenieurwissenschaften, wird struktu‐

rell durch die Lehrveranstaltungs‐formen gestützt. Die Lehrstruktur im Grund‐

studium stützt sich im Wesentlichen auf die Vorlesung, in der der Professor In‐

halte vorträgt bzw. Berechnungsverfahren („Beweise“) an die Tafel schreibt, die  die Studierenden abschreiben. In der vertiefenden Übung erhalten die Studie‐

renden die Möglichkeit, die Berechnungen selbst zu üben. Insgesamt scheinen  kaum innovative Konzepte der Lehrveranstaltungsgestaltung und Lerneinheiten  zu bestehen. Die Studentinnen berichten nur von denen aus der Literatur be‐

kannten und kritisierten Formen der Vorlesung und Übung (vgl. Kapitel 3.2). 

Selten  genannt  werden  Gruppenarbeiten  und  Projekte  (deren  inhaltlich‐

strukturelle Ausgestaltung aber unklar bleibt und die meist im Hauptstudium  stattfinden). Es wird also vermieden, kontextualisiertes Wissen interaktiv mit  Einfluss alltagsweltlicher Bezüge früh im Studium zu erarbeiten. Die Studieren‐

den werden auf ihren Platz in der wissenschaftlichen Gemeinde verwiesen, zu‐

nächst müssen sie die kognitiven Regeln der Community, die Grundlagen und  insbesondere Disziplin, internalisieren. Mara beschreibt, wie auch die anderen  Studentinnen, die typischen Lehrveranstaltungen.  

Mara: „Also, eine typische Lehrveranstaltung ist, dass man erstmal eine Vorlesung  hat, wo einem theoretisch alles erläutert wird und Beweise vor allem durchge‐

führt werden. Dass es so ist, was der Professor behauptet und …   Viola: Das sind dann mathematische Beweise?  

Mara: Zum Beispiel. Also, ja, es ist, ja immer irgendwie überall Mathematik mit drin  auch wenn´s nur‐, oder Mechanik und da muss man auch Beweise machen. 

Und dann danach hat man meistens eine Übung dazu, wo man das auch prak‐

tisch rechnen lernt oder praktisch umzusetzen versucht. Und dann macht man  meistens Hausaufgaben dazu, um das zu vertiefen. So ist es mehr oder weni‐

ger…“ (Maschinenbau)

Das Zitat verdeutlicht einen besonderen Aspekt, der deutlich macht, dass Ob‐

jektivität nicht wissensimmanent ist. Die Aussage „Dass es so ist, was der Pro‐

fessor behauptet“ macht deutlich, dass die wissenschaftliche Definitionsmacht  nicht aus der Struktur des Wissens entsteht, sondern in der vermittelnden oder 

forschenden Person begründet liegt und ein soziales Phänomen darstellt. Der  Professor ist Träger der Objektivität und demonstriert seine hierarchische Posi‐

tion, er demonstriert „epistemische Autorität“ (Lucht 2004). Die Inszenierung  des Erkenntnisprozesses steht meiner Ansicht demnach nicht im Vordergrund  (Erlemann 2004, S. 56), sondern vielmehr wird die Objektivität von Erkenntnis  durch das Setting (Vorlesungsaal, Tafel,…) und die autoritäre Person des Pro‐

fessors untermauert. Das ist auch durch ein Zitat bei Erlemann verdeutlicht: „So  was von fad hab ich überhaupt noch nicht gesehen. Also der das ist echt  furchtbar. Er steht da vorne und murmelt was in seinen Bart hinein und tut so,  als würde er das gerade neu erfinden“ (Erlemann 2004, S. 56, vgl. auch Darstel‐

lungen auf S. 131). 

Paradigmatische Übereinstimmung und Problemlösungsstrategien 

Die  Kategorie  paradigmatische  Übereinstimmung  wurde  aus  dem  Disziplinenclustering nach Whitley (1982), der den Begriff „task uncertainity“ 

nutzte, abgeleitet (Heintz et al. 2004). Dabei geht es darum, die Methoden und  Verfahren danach zu bestimmen, wie sehr sie von einem großen Teil der wis‐

senschaftlichen Gemeinde geteilt werden. Gemessen wird dies an den unter‐

schiedlich hohen Rückweisungsraten von Publikationen, wobei eine niedrige  Rückweisungsrate wie in den Naturwissenschaften auf eine hohe paradigmati‐

sche Übereinstimmung deutet. Die Problemlösungsstrategien werden zudem  qualitativ danach bemessen, welchen wissenschaftskulturellen Werten sie un‐

terliegen. In Debatten zwischen Disziplinen kann abgelesen werden, ob die  Werte mehr (z. B. Exaktheit, Erkenntnisorientierung,…) oder weniger mit Ob‐

jektivität assoziiert sind (Heintz etal. 2004), woraus ihre wissenschaftsinterne  Stellung und Bewertung abzulesen ist. 

Die Aussagen der Studentinnen lassen sich nur an Letzteres anknüpfen. An ei‐

nigen Stellen kann gedeutet werden, an welchen Werten die ingenieurwissen‐

schaftliche Tätigkeit gemessen wird. 

   

Qualität der Lösungsstrategien 

Bei den Darstellungen der Bearbeitung ihrer Hausaufgaben, Klausurvorberei‐

tungen oder Projektarbeiten betonen die Studentinnen zunächst eine starke  Ergebnisorientierung. Das Entwickeln eines funktionsfähigen Produkts oder das  Finden der Lösung ist auch, was sie intrinsisch motiviert. Sie empfinden Spaß  und Stolz. Tita und Mara beschreiben diese Momente.  

Tita: „Es macht eigentlich immer Spaß, wenn man ein Problem gelöst hat, (…) und  davor ist es einfach nur Anstrengung. Man muss sich dann viel zwingen, sich  einfach hinzusetzten und das Problem zu bearbeiten und am Ende dann den  Spaß zu haben, d.h. das Erfolgserlebnis ist halt der Spaß daran. Und im Großen  und Ganzen kann ich jetzt nicht allgemein sagen, wo ich‐, (was) mir mir am  meisten Spaß (macht), (das) kann ich nicht. Es macht nur Spaß, wenn der Erfolg  da ist.“(Elektrotechnik) 

Viola: „Aber es ist auch schon so, wenn man dann eine Lösung gefunden hat, dass‐. 

Was bedeutet das für dich? 

Mara: (.) Wenn ich eine Lösung gefunden habe für ein Problem, oder? Ja, ich weiß  nich. Man muss halt Stolz sein darauf, was man gemacht hat. Also, wenn ich  stolz‐ also meist bin ich stolz bin, wenn das was Gutes is.“ (Maschinenbau) 

Um auf die paradigmatischen Übereinstimmungswerte zurückzukommen, eig‐

net sich Donatas Beschreibung der Ergebnisorientierung in der Informatik mit  den Verfahren des Vergleichens. 

Viola: „Wonach beurteilt man dann die Qualität der verschiedenen Lösungswege? 

Donata: Vorteile und Nachteile abwägen: Man guckt sich halt zwei Lösungen an und  sagt bei dem einem hätten wir jetzt hier den Vorteil, dann würden wir uns das  sparen, und bei dem anderen, schön aber macht das gleiche wie das andere  und bei dem anderen würde man halt noch was sparen, also nehmen wir das  andere, das erste.“ (Informatik) 

Es wird hier, wie auch in den folgenden Zitaten deutlich, dass neben der star‐

ken  mathematisch‐naturwissenschaftlichen  Fundierung  kulturelle  Werte  in  Hinblick auf das zu erreichende Ergebnis genannt werden. Die Strategien zur  Lösung des Problems sollen „optimal“, „kurz“, abstrakt gedacht und exakt in  der Sprache sein (vs. einem eloquenten Sprachstil). Am Beispiel von Schaltun‐

gen und Signalen beschreibt eine Elektrotechnikerin die zentralen Orientie‐

rungspunkte. 

Tita: „Es geht immer darum, bei jedem Problem, die optimale Lösung zu finden. Wie  kann eine Schaltung am besten gebaut werden, sprich leistungsverlustarm und  schnell natürlich auch? Wenn es um Signale geht, dann natürlich um die per‐

fekte Übertragung, d.h. 1:1, wenn ich ein Signal in ein System eingebe, dann  möchte ich halt das am Ausgang auch dasselbe Signal erhalten bleibt, darum  geht es.“ (Elektrotechnik) 

Neben den Eigenschaften „optimal“, „leistungsverlustarm“, „schnell“ und „per‐

fekt“, ist für ein gutes Ergebnis auch die ‚Länge‘ des Lösungsweges relevant, der  zum Ausschluss von Alternativen führt. 

Tita: „(…) und manchmal kann man halt ‐ viele Wege führen ja nach Rom ‐, aber man  muss halt den kürzesten Weg suchen, sonst braucht man vielleicht drei Seiten  für eine Aufgabe, obwohl man es auch in zwei Zeilen schaffen kann.“ (Elektro‐

technik) 

Die benannten qualitativen Merkmale auf dem Weg der Problemlösung sind  von großer Rationalität geprägt. Die Verfahren werden spezifisch auf den Ge‐

genstand ausgerichtet und es sollen möglichst keine Verluste produziert wer‐

den. 

Interdisziplinarität? 

Ebenso bedeutsam für das paradigmatische Selbstverständnis ist die Stellung  zu interdisziplinären Wissensbeständen und Zusammenarbeiten.  

Von fast allen Studentinnen werden Themen und Arbeitsbereiche benannt, die  meist interdisziplinäres Wissen verlangen (Medizin, Biologie, Umwelt, Verkehr,  Luftfahrt). Eine Elektrotechnikerin beschreibt beispielsweise sehr ausführlich  die Funktionsweise eines Operationsverstärkers für die medizinische Untersu‐

chung eines Organs. 

Tita: „Wenn jetzt dein Herzsignal gemessen wird, d.h. die Impulse werden gemes‐

sen, jedes Mal wenn Herzaktivität ausgeführt wird, dann kurz davor ist halt‐, ist  ein Strom und diesen Strom kann man dann messen. Und wenn man diesen  Strom misst, dann möchte man auch ablesen können, ist das nun? D.h. man