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6.  Auswertung

6.5  Diskussion der Ergebnisse

6.5.1  Dimension der epistemischen Praktiken

Über die epistemischen Praktiken wurden Aussagen zweiter Ebene zur Unter‐

suchung herangezogen. Es wurden nicht die eigentlichen wissenschaftlichen,  forschenden und sozialen Praktiken beobachtet, sondern aus den Erzählungen  der Studentinnen wissenschaftsinterne Werte abgeleitet. Die beschrieben Wer‐

te drücken die Orientierung der wissenschaftlichen Tätigkeiten aus und zwar,  dass die Methoden und Verfahren der Ingenieurwissenschaften sehr stark den  Idealen der Rationalität und Objektivität verpflichtet sind. Sie verfolgen ein Ide‐

al, dass mit Eindeutigkeit und Wiederholbarkeit assoziiert ist und von einem  positivistischem Wissenschaftsverständnis ausgeht. Kontextualisiertes Wissen  (gesellschaftsbezogen, ökologiebezogen, interdisziplinär bezogen) wird gerade‐

zu aktiv ausgegrenzt. Die Tätigkeiten sind stark ergebnisorientiert und nicht auf  den Prozess ausgerichtet. Die beschriebenen Merkmale zeigen in dieser Unter‐

suchung keine Anzeichen, die eine Veränderung der von den kritischen Natur‐

wissenschaftsforscherinnen  als  männlich  beschriebener  Objektivität  (Rübsa‐

men  1983;  Keller  1986)  vermuten  lassen.  Die  populäre  Gleichsetzung  von  Männlichkeit und Objektivität wird über verschiedene Wege reproduziert, so‐

gar inszeniert.  

 

Leitmotiv Objektivität 

Zunächst ist der Rückgriff auf die mathematisch‐naturwissenschaftlichen Ver‐

fahren und die immer wiederkehrende Betonung ihrer Bedeutung zu nennen. 

Ich habe gezeigt, dass unverkennbar ist, wie die Ingenieurwissenschaften stets  darum bemüht sind, ihre Methoden und Verfahren ähnlich denen der Natur‐

wissenschaften zu konstituieren. Fast scheint es, als ob das von der „historisch‐

sozialen Aspektstruktur des erkennenden Subjekts“ (Mannheim, 1965 [1929],  S. 249) losgelöste mathematisch‐naturwissenschaftliche Wissen weiterhin den  Status Quo darstellt. Das durch die Naturwissenschaften vertretene Objektivi‐

tätsideal ist über unterschiedliche Wertigkeitszuschreibungen für praxisorien‐

tierte und wissenschaftlich–kognitive Tätigkeiten definiert. Die ‚alte‘ Assoziati‐

on von Mann und Geist, wie sie in den 80er Jahren von Merchant (1987) und  Keller (1986) diskutiert wurde (vgl. von Braun & Stephan 2005; Walter 1998),  ist in der Darstellung kognitiver Tätigkeiten („Analysieren, Berechnen, Prinzip  verstehen“) und Fähigkeiten („abstraktes und technisches Denken“) als Kern‐

techniken der Ingenieurwissenschaften wiederzufinden. Die mit Emotionalität  und Weiblichkeit konnotierten praktischen Tätigkeiten (Paulitz 2005) werden  durch das Delegieren dieser und das Ausschließen aus der Lehrpraxis degra‐

diert.  

Kein Hinweis hingegen ließ sich für genuin ingenieurwissenschaftliche Metho‐

den finden. Da die Ingenieurwissenschaften in enger Beziehung zu Wirtschaft  und Industrie bestehen, konkrete Lösungen und Produkte für gesellschaftliche  und ökologische Anwendungsfelder produzieren, könnte ihnen ein Potential in  Hinblick auf eine verändertes Verständnis von Wissenschaftlichkeit und Objek‐

tivität zugestanden werden. Insbesondere der Rekurs auf die wissenschaftli‐

chen Kontroversen und soziale Praxen, wie mit den Laborstudien belegt (Knorr  Cetina 1991; Heintz 1993b; Latour 2007), sollte hier ein offeneres Verständnis  ermöglichen.  Gemeint  ist,  Objektivität  mit  anderen  Aspekten  der  sozialen  Sphäre zu assoziieren, wie Genderforscherinnen in Thesen wie „Frauen for‐

schen anders“ (Schiebinger [1999] 2000) es ausdrücken.118 Wie Schinzel für die  Informatik feststellt (Schinzel 2001), ist auch hier geschildert, dass das Mitden‐

ken gesellschaftlicher und ökologischer Bezüge, wie es Frauen zugeschrieben  wird, explizit ausgeschlossen wird.119 Bereiche des epistemischen Selbstver‐

ständnisses der Ingenieurwissenschaften werden weiblich konnotiert, um sie  symbolisiert auszugrenzen. Denn ähnlich wie Lucht für die Physik feststellt,  üben Männer die Ingenieurwissenschaften nicht jenseits des „Sozialen“ aus  (Lucht 2004, S. 315). Die eindimensionalen Vorstellungen von wissenschaftli‐

cher Objektivität werden durch das Ausgrenzen der Anwendungsbezüge repro‐

duziert; die weibliche Konnotation der Anwendungsbezüge und Praxis werden  manifestiert.  

Dafür sprechen auch die vermittelten paradigmatischen Werte der Ingenieur‐

wissenschaften, die Optimalität, Kürze und Abstraktion zum Qualitätsmaßstab  setzen.  

Insofern entlehnt das ingenieurwissenschaftliche Paradigma meiner Interpreta‐

tion nach mathematisch‐naturwissenschaftliche Verfahren und Methoden mit  den bekannten Ausgrenzungen von Emotionalität, Sozialität, Rasse, Geschlecht,  usw., um ihren Status als Wissenschaft zu stützen (Paulitz, 2008b). Diese Ab‐

grenzung bedeutet die Reproduktion der geschlechtlichen Konnotationen, in  der Jungen und Männer Wissenschaft zum Selbstzweck („interne Kohärenz“) 

      

118   Thesen wie diese entstammen der sich seit den 80er Jahren entwickelnden feministi‐

schen Naturwissenschaftskritik. Dazu zählen Kellers Analyse des psychoanalytischen  Forschungsstils der Genetikerin Barbara McClintock, aus der sie den Begriff der ‚dyna‐

mischen Objektivität‘ entwickelte (Keller, 1986). Weiterhin nennt Heinsohn das Konzept 

‚strenger Objektivität‘ von Sandra Harding (1994), in dem ganz bewusst „die soziale  Verortung und Historizität naturwissenschaftlichen Wissen zum Ausgangspunkt“ wer‐

den (Heinsohn 2005, S. 25). Letztlich noch zu nennen ist Donna Haraways ‚situiertes  Wissen‘, das an den Körper gebunden ist und partikular (Heinsohn 2005). Herausgeho‐

ben wird die Körperlichkeit, die im Konzept des dem Geiste entsprungenen Wissens oh‐

ne Relevanz war. Insofern spielt Weiblichkeit oder Männlichkeit oder ‚anderes‘ eine be‐

sondere Rolle. 

119   Ähnliches stellt Erlemann für die Physik fest. Sie argumentiert zwar keine weibliche  Konnotation, stellt aber ähnlich fest, dass die epistemischen Praktiken der Physik nicht  zur Anwendung an gesellschaftlichen Fragestellungen geeignet sind (Erlemann 2004, S. 

83). 

akzeptieren, während dies für Mädchen und Frauen weniger gilt und sie stärker  auf Anwendung der  Wissenschaft zielen („externe  Kohärenz“)  (Bessenrodt‐

Weberpals 2006, S. 221). 

Allerdings lässt sich deuten, dass die Entlehnung nicht ohne Widersprüche von‐

statten geht und im Zusammenhang zum Professionalisierungsprozess der In‐

genieurwissenschaften  steht. Die  strukturelle Trennung  von  Grundlagen  im  Grundstudium und Anwendung im Hauptstudium kann als ein Schritt zur Loslö‐

sung  von  den  mathematisch‐naturwissenschaftlichen  Verfahren,  die  zum  Selbstzweck120 in ihren „Mutterwissenschaften“ (z.B. Mathematik und Physik)  betrieben  werden,  interpretiert  werden. Sie  werden  zunächst  zum „Werk‐

zeug“121 herabgestuft und erst im Hauptstudium erfahren die Studierenden die  eigentlichen ingenieurwissenschaftlichen Verfahren, ihre Anwendungskontexte  und Theorien. Das Sozialisationsritual des Vordiploms ist dabei eine soziale  Praktik, die die klare Abgrenzung unterstreicht und den Studierenden die Wer‐

tigkeit der Methoden und Verfahren verdeutlicht (vgl. Engler 1999; vgl. auch  Erlemann 2004, S. 91). Bis dahin sind die Studierenden allerdings mit dem posi‐

tivistischen Ideal einer abbildbaren Realität vertraut (sie kennen die objektiven  Arbeitstechniken, Medien und Sprache) und projizieren dies für die Naturwis‐

senschaften geltende Bild in die Ingenieurwissenschaften. Eine Gefahr, das po‐

sitivistische Bild der Ingenieurwissenschaften122, ihrer Verfahren und Methoden  durch  disziplinübergreifende  Bezüge  zu  verunreinigen  besteht  nicht  mehr. 

Nachgewiesen habe ich in diesem Zusammenhang, dass Interdisziplinarität kei‐

ne wissenschaftskonstituierende soziale Praktik ist, sondern als ‚Zuarbeit‘ defi‐

niert wird. Das Bild der sich im Prozess der Professionalisierung und Institutio‐

      

120   Die Studentin der Angewandten Mathematik schreibt der Mathematik diese Eigenschaft  zu: Alba: „Ich hatte die Wahl zwischen einem normalen Mathemaster und irgendwas  anderem. Und Mathemaster fand ich irgendwie zu‐, ich find Mathe als Selbstzweck ir‐

gendwann nicht mehr so aufregend. (Lachen)“ (Mathematikerin, Z. 78). 

121   Damit einher geht auch die fortlaufende Loslösung vom historisch im Handwerk liegen‐

den Ursprung der Ingenieurwissenschaften (Greif 1996;Neef, 1982). Die mit dem Hand‐

werk verbundenen Tätigkeiten (Praxis) sind gegenüber den kognitiv‐wissenschaftlichen  Tätigkeiten mit minderem Wert assoziiert (Paulitz 2005). 

122   Ähnlich hat Lucht für die Physik die Differenz zwischen Undergraduate und Graduate‐

Studium in den USA festgestellt (Lucht 2004, S. 318).  

nalisierung befindlichen Ingenieurwissenschaften wird verstärkt durch Hinwei‐

se auf eine fehlende Systematik und Verzahnung eines ingenieurwissenschaftli‐

chen Methodenkanons, was durch die statusgebundene Darstellung „epistemi‐

scher Autorität“123 (Lucht 2004; vgl. auch Beaufaÿs 2003) verschleiert wird: In  Person des Professors wird eine auf Wissen legitimierte Autorität dargestellt,  die die Grenzen der ingenieurwissenschaftlichen Wissensterritorien aufrecht‐

erhält.