Geschlechtliche Konnotationen in den disziplinären Kulturen der
Ingenieurwissenschaften?
Ableitungen aus der Untersuchung zu Studieninteressen und –motivationen von Studentinnen an der Technischen Universität Berlin.Geschlechtliche Konnotationen in den disziplinären Kulturen der
Ingenieurwissenschaften?
Ableitungen aus der Untersuchung zu Studieninteressen und –motivationen von Studentinnen an der Technischen Universität Berlin.Universitätsverlag der TU Berlin
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Umschlaggestaltung: Svea Esins, TU Berlin Foto/Buchcover: TU‐Pressestelle / Sabine Böck ISBN: 978‐3‐7983‐2289‐9 (Druckausgabe) ISBN: 978‐3‐7983‐2290‐5 (Online‐Version) Druck/ ENDFORMAT Printing: Gesellschaft für gute Druckerzeugnisse mbH Köpenicker Str. 187‐188, D‐ 10997 Berlin Vertrieb/ Universitätsverlag der TU Berlin Publisher: Universitätsbibliothek Fasanenstr. 88 (im VOLKSWAGEN‐Haus), D‐10632 Berlin Tel.: (030) 314‐ 76131; Fax.: (030) 314‐ 76133 E‐Mail: publikationen@ub.tu‐berlin.de http://www.univerlag.tu‐berlin.de © Verlag der TU Berlin 2010 Alle Rechte vorbehalten.
Vorwort
In letzter Zeit sind eine Reihe von Initiativen zu verzeichnen, die junge Frauen für die sogenannten MINT‐Fächer begeistern sollen, um einerseits dem drohen‐ den Fachkräftemangel zu begegnen und andererseits die sich hartnäckig hal‐ tende These zu widerlegen, Frauen hätten weniger Technikverständnis als Männer. Bei all diesen Aktivitäten ist allerdings nicht abschließend geklärt, wel‐ che Mechanismen tatsächlich eine Wirkung entfalten um eine Steigerung des Frauenanteils in MINT‐Studiengänge zu erreichen.
Die vorliegende Untersuchung widmet sich der Fragestellung nach geschlechtli‐ chen Konnotationen in den disziplinären Kulturen der Ingenieurwissenschaften und beleuchtet dabei mehrere Aspekte im Kontext der Geschlechter‐ und Hochschulforschung. Motiviert durch die Projektarbeit mit Studentinnen an der Technischen Universität Berlin war es für die Autorin Viola Bösebeck das Ziel, einen Beitrag zum Verständnis der Studiensituation in den disziplinären Kultu‐ ren der Ingenieurwissenschaften zu leisten. Die vorliegende Publikation dieser Untersuchung basiert auf der Diplomarbeit der Autorin.
Das Geleitwort zu dieser Studie verfasste Petra Lucht, die in ihrer Funktion als Gastprofessorin an der mathematisch‐naturwissenschaftlichen Fakultät der Technischen Universität Berlin die Diplomarbeit der Autorin begutachtet hat. Petra Lucht ist z.Zt. als wissenschaftliche Assistentin am "Zentrum für Interdis‐ ziplinäre Frauen‐ und Geschlechterforschung" (ZIFG) der Technischen Universi‐ tät Berlin tätig. Ihre Arbeitsschwerpunkte in Forschung und Lehre sind die Ge‐ schlechterforschung zu Naturwissenschaften und Technik, die soziologische Theoriebildung, qualitativ orientierte Sozialforschung und Visuelle Soziologie. In ihrem Habilitationsvorhaben befasst sie sich mit Vorstellungen des Sozialen, die im Zuge neuerer Technologie‐Entwicklungen entworfen werden.
Während bereits vielfältige Studien vorliegen, die sowohl den Stellenwert un‐ terschiedlicher Fachkulturen als auch die Relevanz von Geschlecht in verschie‐ denen Karrieregruppen untersuchen, deren Akteur/innen bereits im Wissen‐ schaftssystem integriert sind (vgl. Vogel und Hinz, 2004; Heintz et al. 2004), liegt der Fokus dieser Untersuchung auf den Studentinnen. Ausgangspunkt ist
dabei die Hauptannahme, dass die Ausbildung eines Fachhabitus und einer Fachkultur bereits während des Studiums erfolgt: Hier wird die Wissenschafts‐ kultur innerhalb der Lehre und in Kommunikationsprozessen an der Hochschule vermittelt, hier werden wissenschaftliche Paradigmen formuliert und vorge‐ lebt, die die Studierenden nicht nur in eine wissenschaftliche sondern auch ei‐ ne fachspezifische Denkweise hinein sozialisiert. Folgen wir dieser Annahme, ist davon auszugehen, dass geschlechtliche Konnotationen und andere soziale Ka‐ tegorien auch in der Wissensproduktion und in der Wissensweitergabe schon vorhanden sind und entsprechend im Studienverlauf ausgebildet werden. Es ist weiterhin anzunehmen, dass geschlechtliche Konnotationen im Wissen‐ schaftsfeld in verschiedenen sozialen Konstellationen unterschiedlich stark ver‐ treten sind bzw. bedeutsam werden. Wesentliche Fragen, denen sich Viola Bösebeck in diesem Buch stellt, sind: „Wo und wie zeigen sich diese Konnota‐ tionen und ihre möglichen Differenzen bereits in der wissenschaftlichen Aus‐ bildung und Wissensvermittlung? Welche Wahrnehmungen haben Studentin‐ nen und welche Konsequenzen haben diese für ihre Studieninteressen und ‐motivationen?“ Die vorliegende Studie zur Untersuchung der Situation von weiblichen Studie‐ renden wurde im Rahmen des Projekts Zielgerade an der TU Berlin ab Sommer 2007 konzipiert und durchgeführt. Im Wintersemester 2008/09 wurde eine In‐ terviewphase angeschlossen, während der die Daten der Studie generiert wur‐ den. Viola Bösebeck war in dem Zeitraum studentische Koordinatorin des Pro‐ jekts Zielgerade und hat in Zusammenarbeit mit ihren Kolleginnen den Leitfa‐ den für die Interviews entwickelt und die Auswertung der Ergebnisse sowohl für das Projekt als auch für ihre Diplomarbeit vorgenommen.
Zielgerade wurde zunächst in den Geisteswissenschaften entwickelt und im Rahmen der Offensive Wissen durch Lernen (OWL) zu einem strategischen Pro‐ jekt im Mint‐Bereich innerhalb der Technischen Universität Berlin weiterentwi‐ ckelt. Der ursprüngliche Ausgangspunkt war die Vermeidung von hohen Ab‐ bruchquoten von Studentinnen.
Durch die stete Weiterentwicklung widmet sich das Projekt gegenwärtig der strategischen Studienorganisation und bietet den Studentinnen neben der Un‐ terstützung bei der Netzwerkbildung überfachliche Kompetenzen, Beratungen und Strategieentwicklung an. Konkrete Ziele sind die Förderung der Studienmo‐
tivation, eine bessere und schnellere Orientierung in der Fachkultur und die Entwicklung einer klaren Perspektive auf die Berufsqualifikation für Studentin‐ nen der Technischen Universität Berlin.
Als Frauenförderprojekt bildet Zielgerade mit dem Projekt IMEPTUS einen Projektverbund mit dem Ziel einem möglichen Drop‐Out nach Beendigung des Bachelor‐Studiums entgegenzuwirken und damit den Übergang in einen Mas‐ ter‐Studiengang zu erleichtern. Weiterhin sollen den weiblichen Studierenden bereits während des Studiums Einblicke in die Forschung gewährt werden um ihnen einen frühzeitigen Eintritt in die Wissenschaft als Karriere‐ und Arbeits‐ feld zu ermöglichen.
Besonders bewährt innerhalb des Konzeptes hat sich die Verknüpfung von qua‐ litativen Analysen und der Weiterentwicklung von zielgruppenorientierten An‐ geboten in Beratung und Weiterbildung. Mit Hilfe der Durchführung von Tie‐ feninterviews kann Zielgerade die Studiensituation von Studentinnen gerade in den Fächern, in denen der Prozentsatz traditionell niedrig ist, erfassen und durch deren Auswertung gezielte nachfrageorientierte Angebote kreieren. Des Weiteren können neue „Maßnahmen“ für die Rekrutierung von Studentinnen und deren Verbleib entwickelt werden. Gleichzeitig wird den Interviewten eine häufig erstmalige Möglichkeit zur Reflexion des Studienverlaufs und der Studi‐ enbedingungen gegeben. Weitere Informationen zum Projekt sind im Internet abrufbar unter: http://www.zielgerade.tu‐berlin.de.
Perspektivisch strebt die Technische Universität Berlin einen langfristigen Kul‐ turwandel mit dem Ziel einer geschlechtergerechten Hochschule an. Bereits etablierte Maßnahmen (beispielsweise die Integration von Genderaspekten in der Lehre naturwissenschaftlicher und technischer Studiengänge, vgl. Stein‐ bach und Jansen‐Schulz, 2009) tragen genauso wie die im Projekt Zielgerade gewonnenen Forschungseinsichten ihren Teil dazu bei, dieses Ziel zu verwirkli‐ chen. Berlin, im Dezember 2010 Svea Esins
Geleitwort
Petra Lucht
Paradoxe Anforderungen an Studentinnen des Ingenieurwesens
Frauen‐ und Geschlechterforschung zu Naturwissenschaften und Technik findet aktuell zu einem historischen Zeitpunkt statt, an dem zumeist nach realisierba‐ ren Maßnahmen zur Erhöhung von Frauenanteilen in diesen Feldern gefragt wird. In der öffentlichen Diskussion ist die angestrebte Chancengleichheit auch in den Natur‐ und Technikwissenschaften politischer Konsens. Entsprechend finden sich vielfältige Förderangebote, ‐maßnahmen und ‐projekte für Mäd‐ chen und Frauen.1 Der momentan so einheitlich wirkende Konsens schließt al‐ lerdings an eine wechselvolle Geschichte von Frauen in Naturwissenschaft und Technik an:2 Die unter dem Dach der bundesdeutschen MINT‐Initiative ver‐ sammelten, heterogenen Projekte und Initiativen haben nicht selten eine län‐ ger zurückgehende, wechselvolle und jeweils spezifische Historie. Der aktuell konstatierte Fachkräftemangel insbesondere im Bereich der Ingenieurwissen‐ schaften3 bewirkt, dass immer neue Fördermaßnahmen und ‐initiativen ange‐ stoßen werden. Für diese Initiativen wird in der Regel eine deutlich messbare Erhöhung der Beteiligung von Frauen an den MINT‐Fächern als ein Erfolgskrite‐ rium angesehen.4 Höhere Frauenanteile zu Studienbeginn schlagen sich jedoch zumeist nicht in entsprechend höheren Frauenanteilen unter den Absol‐ vent/innen oder den Berufstätigen nieder. Daher sind Untersuchungen der Ausbildungs‐, Studien‐ und Arbeitsbedingungen für Frauen in den Natur‐ und
1 „komm‐mach‐mint“. Nationaler Pakt für Frauen in MINT‐Berufen. http://www.komm‐
mach‐mint.de/
2 Zur Historie der bundesweiten Treffen bzw. Kongresse von Frauen in Naturwissenschaft
und Technik vgl. Götschel (2001).
3 Vgl. Verein Deutscher Ingenieure (2010).
4 Wenn der Aufwärtstrend der letzten 20 Jahre fortgesetzt werden könnte, würde eine
paritätische Beteiligung von Frauen an ingenieurwissenschaftlichen Studiengängen erst in etwa 100 Jahren erreicht (Wissenschaftsrat 2007). Um diese Perspektive auf quantifi‐ zierbare Daten zu ergänzen, sind qualitativ orientierte Konzepte für entsprechende För‐ derprojekte m. E. unabdingbar. Ein Beispiel für ein solches Konzept, das von den Wün‐ schen und Zielen von jungen Frauen ausgeht, ist der partizipative Ansatz des Techno‐ Clubs der Technischen Universität Berlin (Greusing 2009).
Technikwissenschaften wichtig, um zu verstehen, wie der Studien‐ und Berufs‐ alltag von Frauen in diesen Feldern aussieht.
Viola Bösebeck widmet sich mit ihrer Studie eben diesem Alltag von Frauen in ingenieurwissenschaftlichen Studiengängen. Sie entfaltet ihre Untersuchung vor dem Hintergrund aktueller Ansätze der Frauen‐ und Geschlechterforschung zu den Natur‐ und Technikwissenschaften. In der Diskussion der Ergebnisse der von ihr durchgeführten qualitativen Interviewstudie mit Studentinnen der In‐ genieurwissenschaften trifft die Autorin recht punktgenau den Nagel auf den Kopf: Es gelingt Viola Bösebeck, widersprüchlich erscheinende, geschlechts‐ konnotierte Anforderungen an Studentinnen im Studienalltag als Paradoxien herauszuarbeiten, die nicht mittels herausragender, fachlicher Leistungen oder besonderer Einstellungen zu Studium und Beruf vom Individuum lösbar sind. Zumeist werden diese Widersprüchlichkeiten im Alltagswissen über Geschlecht quasi „geglättet“ und auf geschlechtsstereotype dualistische Vorstellungen vom Ingenieurwesen reduziert. Den besonderen Beitrag der Untersuchung von Frau Bösebeck zur Frauen‐ und Geschlechterforschung für den Bereich Natur‐ wissenschaften und Technik sehe ich insbesondere in der Vermeidung dieser Reduktion. Stattdessen entfaltet die Autorin eine plausible und auf Paradoxien hin zugespitze Auswertung und Interpretation der Interviews mit Studentinnen der Ingenieurwissenschaften vor dem Hintergrund des zuvor entfalteten Stands der Forschung.
Das Ingenieurstudium ist eine fortwährende Theaterprobe: „Gendered Scripts“
Die quantitativ messbaren Frauenanteile in den Ingenieurwissenschaften zu kennen, hilft kaum weiter, wenn es darum geht, grundlegende Mechanismen der Exklusion und der mangelnden Integration von Frauen in diese Felder zu verstehen. Teilweise kommt es nach ersten Erfolgen einer Erhöhung von Frau‐ enanteilen zu einer Stagnation oder sogar eines Rückgangs dieses Trends.5 Es ist daher von großem Interesse, die Studiensituation von Studentinnen hin‐ sichtlich der Vermittlung der Fachkultur der Disziplin zu untersuchen. „Fachkul‐ tur“ bezeichnet dabei nicht ein besonderes Fachwissen, sondern bezieht sich auf Einstellungen, soziale Verhaltensweisen, Wahrnehmungs‐ und Handlungs‐
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muster. Diese kulminieren im disziplinspezifischen „Habitus“, der zwar auf im‐ plizite Weisen angeeignet wird, nichtsdestotrotz aber einer Reflexion zugeführt werden kann (Bourdieu 1988). Studierende und Nachwuchswissenschaftler/‐ innen erwerben dem gemäß im Laufe ihrer Wissenschaftssozialisation nicht nur Fachkenntnisse, sondern werden auch in den „Fachhabitus“ hinein sozialisiert. Am Fachhabitus kann das „doing gender“ in der Praxis erfasst werden, d.h. Konstruktionen von „Geschlecht“ kommen in Form des fachbezogenen Habitus zum Tragen (Heintz et al. 2004). In der Regel fallen das öffentlich vermittelte Bild vom Naturwissenschaftler oder Ingenieur und die natur‐ bzw. ingenieur‐ wissenschaftliche Praxis jedoch auseinander. Aus der Frauen‐ und Geschlech‐ terforschung heraus werden hier immer wieder neue Anstrengungen unter‐ nommen, vielfältige Vorstellungen von ingenieurwissenschaftlicher Praxis zu vermitteln – basierend auf Studien, die mittels ausgedehnter ethnografischer Untersuchungen oder auch qualitativer Interviews empirisch fundiert werden. Es sind die persönlichen Geschichten der Beteiligten am Wissenschafts‐ und In‐ genieurwesen, die hier interessieren und plastisch die Praxis vor Augen stellen sollen.6 Vor diesem Hintergrund möchte ich die Ergebnisse der Untersuchung von Viola Bösebeck noch einmal mit folgendem Bild verdeutlichen: Mit Hark (2005) ver‐ stehe ich die Organisationsstrukturen der Wissenschaft als Hinterbühne, die die Möglichkeiten der Existenz von Wissenschaft quasi unsichtbar bereitstellen. Demgegenüber wird auf der Vorderbühne von Wissenschaft das an die Öffent‐ lichkeit vermittelte Bild der Fachkultur sichtbar, hier treten die in die Fachkultur hinein sozialisierten Wissenschaftler/innen mit einem vorgegebenen Fachhabi‐ tus auf die Bühne. Viola Bösebeck hat nun weder die Hinterbühne der Organi‐ sationsstrukturen noch die Vorderbühne bzw. die in Theateraufführungen zur Darstellung gelangenden, typisierten Vorstellungen von Fachkultur und Fach‐ habitus untersucht. Vielmehr ist es etwas Drittes, das die Autorin mit ihrer Un‐ tersuchung in den Fokus der Betrachtung zu rücken vermag. Es sind die Reflexi‐ onen der Theaterspielerinnen auf die Theaterproben, auf das Script des Stücks, das später zur Aufführung gebracht werden soll. Es ist das wiederholte Einstu‐ dieren des Stücks – also die zahlreichen vom Ensemble durchgeführten Thea‐ terproben –, die Bösebeck unter die Lupe nimmt. Als erfahrene Beobachterin
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des eigenen Feldes, nämlich als Soziologiestudentin technikwissenschaftlicher Ausrichtung, befragt sie gezielt die teilnehmenden Theaterspielerinnen, also die interviewten Studentinnen der Ingenieurwissenschaften nach den „gendered scripts“. Anhand der Interviews erfahren wir etwas darüber, von welchen Fehlern und Irrwegen die Einübung der Fachkultur im Verlaufe des Studiums geprägt ist, welche Randbemerkungen von Kommiliton/innen und von Dozent/innen diese Einübung der Rollen begleiten.
Paradoxe – geschlechtskonnotierte – Anforderungen an Ingenieurstudentin‐ nen
Besonders bemerkenswert an der Arbeit von Viola Bösebeck ist nun, dass es ihr gelingt, paradoxe Anforderungen an Ingenieurstudentinnen herauszuarbeiten. Anstatt Geschlechterstereotype zu zementieren, stellt sie heraus, wie Studen‐ tinnen der Ingenieurwissenschaften mit Geschlechterstereotypen umgehen bzw. wie Studentinnen ihren Umgang mit diesen paradoxen Anforderungen be‐ schreiben. Ausgehend von der wörtlichen Bedeutung von „Konnotationen“ – Mitbedeutungen – analysiert Bösebeck, in welcher Weise die ingenieurwissen‐ schaftliche Praxis auf unterschiedlichsten Ebenen von geschlechtskonnotierten Vorstellungen durchzogen ist, die situativ aufgerufen oder aber negiert wer‐ den. Paradoxien, widersprüchliche Deutungen von Alltagssituationen werden anhand des erhobenen Materials aufgegriffen und deren Gleichzeitigkeit poin‐ tiert herausgearbeitet. Viola Bösebeck gelingt es auf diese Weise, das komplexe Wechselspiel von tradierten und gebrochenen Geschlechtskonnotationen auf‐ zugreifen, anstatt die auffindbaren Widersprüchlichkeiten und Paradoxien ent‐ lang tradierter, geschlechterstereotyper Vorstellungen sozialwissenschaftlich zu typisieren oder zu kategorisieren.7 Damit hebt sich ihr Beitrag deutlich von differenztheoretisch geleiteten Studien der Frauen‐ und Geschlechterforschung ab, die von einer Technikdistanz oder von einem „anderen“ Zugang von Frauen zu Technik ausgehen. Auch in einer wechselseitigen Ko‐Konstruktion von „Technik“ einerseits und „Geschlecht“ andererseits gehen diese Paradoxien
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Dies stellt eine immer wiederkehrende Herausforderung der Geschlechterforschung dar, nicht selbst mit der eigenen Forschung geschlechterstereotype Vorstellungen zu zementieren (vgl. Paulitz 2010 für Technik).
nicht auf.8 Zu diesen gehören Darstellungen der eigenen Leistung, der The‐ menwahl oder auch des Freizeitverhaltens.
Insgesamt gelingt es der Autorin, die mittlerweile beeindruckende Vielfalt an Ansätzen der Frauen‐ und Geschlechterforschung zugespitzt zusammen zu füh‐ ren. Ihre eigene empirische Untersuchung schließt an die aktuelle Fachkultur‐ forschung an und bietet Einblicke in die derzeit an Studentinnen der Ingeni‐ eurwissenschaften herangetragenen paradoxen Anforderungen. Ich wünsche der Arbeit eine breite Rezeption. Berlin, im Dezember 2010 8 Für eine systematisierende Aufarbeitung unterschiedlicher Ansätze der Frauen‐ und Ge‐ schlechterforschung zu Technik vgl. Wajcman (2008).
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis ... XV Abbildungsverzeichnis ... XVII Tabellenverzeichnis ... XVII Abkürzungen ... XVIII 1. Einleitung ... 19 2. Theoretische Grundlagen zur Wissensproduktion – die antipositivistische Wende ... 24 2.2 Geschlechtliche Codes und die Wissensordnung... 33 2.3 Von Fächern, Disziplinen und Kultur ... 38 2.3.1 Disziplinäre Kulturen... 40 2.4 Zusammenfassung ... 47 3. Die disziplinären Kulturen der Ingenieurwissenschaften ... 50 3.2 Ebene der epistemischen Praktiken in den Ingenieurwissenschaften .. 50 3.3 Ebene der Arbeitsteilung und des Sozialklimas ... 63 3.4 Wissenschaft und Gesellschaft ... 67 3.5 Zusammenfassung ... 72 4. Studentinnen in ingenieurwissenschaftlichen Fächern – Beiträge zur Ausbildung von Studienmotivationen und ‐interessen ... 74 4.2 Kindheit und elterliche Prägung ... 75 4.3 Jugend und schulische Prägung ... 78 4.4 Studienfachwahl und Studium ... 86 4.5 Zusammenfassung ... 90 5. Methoden ... 93 5.2 Auswertungsmethoden ... 100 5.2.1 Die Erhebungsphase ... 102 5.2.2 Das Auswertungsverfahren ... 102 5.3 Das Feld... 108 5.3.1 Die Stichprobe ... 1096. Auswertung ... 114 6.2 Dimension der epistemischen Praktiken ... 114 6.2.1 Zusammenfassung: epistemische Praktiken in den Ingenieurwissenschaften ... 137 6.3 Dimension der Arbeitsteilung und des Sozialklimas ... 138 6.3.1 Zusammenfassung: Arbeitsteilung und Sozialklima ... 157 6.4 Wissenschaft und Gesellschaft ... 159 6.4.1 Zusammenfassung: Wissenschaft und Gesellschaft ... 177 6.5 Diskussion der Ergebnisse ... 179 6.5.1 Dimension der epistemischen Praktiken ... 179 6.5.2 Dimension der Arbeitsteilung und des sozialen Klimas ... 183 6.5.3 Wissenschaft und Gesellschaft ... 185 7. Zusammenschau und Ausblick ... 188 Literaturverzeichnis ... 194 Anhang ... 210 I. Interviewleitfaden ... 210 II. Einverständniserklärung ... 215 III. Transkriptionsregeln ... 216 V. Akquise Lehrpersonal ... 218
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Der grundlegende Aufbau der Ingenieurwissenschaften: Eigene Darstellung. ...51 Abbildung 2: IngenieurInnen und das Labor. ...52 Abbildung 3: „Ich finde Mathematik interessant, weil...“ Werte für „stimme voll und ganz zu“ und „stimme eher zu". Eigene Darstellung. ...55 Abbildung 4: Unterschiedliche Lösungsstile von Frau und Mann bei einer mathematisch‐physikalischen Aufgabe. ...62 Abbildung 5: Hierarchisches Setting im Hörsaal. ...63 Abbildung 6: Gendersensitive Technikgestaltung? ... 71 Abbildung 7: Leistungskurswahl nach Geschlecht. Eigene Darstellung. ...88 Abbildung 9: Kommunikationsmodell der qualitativen Inhaltsanalyse. ...103 Abbildung 10: Skizze eines schiefen Wurfs. ...133 Abbildung 11: Darstellung eines Ersatzschaltbildes. ...136 Abbildung 12: Spulen in verschiedenen Ausführungen. ...136Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Leistungskurswahl nach Geschlecht in den Ingenieurwissenschaften. Eigene Darstellung...80 Tabelle 2: Soziale Orientierung von Studierenden. Eigene Darstellung. ...89 Tabelle 3: Auswertungssystematik. ...99 Tabelle 4: Fragestellungen an die Interviewpartnerin auf Basis eines Kommunikationsmodells. ...104 Tabelle 5: Darstellung des Kategoriensystems ...107Abkürzungen
EPOR Empirisches Programm des Relativis‐ mus STS Science and Technology Studies TU Technische Universität Berlin VDI Verein Deutscher Ingenieure WR Wissenschaftsrat
1. Einleitung
Die deutsche Hochschullandschaft befindet sich permanent im Wandel. Nicht nur die aktuelle Umstrukturierung der Studienstrukturen im Rahmen des Bo‐ logna‐Prozesses, sondern auch hochschulpolitische und ‐finanzielle Aspekte sind stetig in der Diskussion. Und auch die Frauenförderung an Hochschulen durchläuft Wandlungsprozesse. 2008 hat sich in Berlin die offizielle Zulassung von Frauen zum Studium zum 100. Mal gejährt. Allerorts wird von gleichbe‐ rechtigten Bedingungen in Bildung, Ausbildung und Studium für Jungen und junge Männer, Mädchen und junge Frauen gesprochen. Mehr noch: „Diversity“ und „Gendermainstreaming“ werden zu neuen Zauberwörtern im Hochschul‐ management ebenso wie in der Didaktik. Jeder Mensch soll in Deutschland mit seinem individuellem Fähigkeitenprofil und seinen individuellen Merkmalen, egal ob Rasse, Ethnizität, Behinderung oder eben Geschlecht gleiche Chancen erhalten und zu einem wertvollen Teil der Gesellschaft werden können. In die‐ ser Studie wird empirisch einem Problemfeld in diesem Zusammenhang nach‐ gegangen und danach gefragt, ob wir wirklich auf dem Weg zu gleichberechtig‐ ten Chancen und zur Anerkennung von Diversity sind. Das Jubiläum der Studienberechtigung von Frauen sollte also Anlass zu Freude geben, jedoch verweist das Beispiel der Ingenieurwissenschaften nach wie vor auf akute Schieflagen. Unter Gleichstellungsgesichtspunkten zeigen sich die In‐ genieurwissenschaften (wieder9) als kritisches Feld: Nur zwischen ca. 8% und 29% der Studierenden sind hier weiblichen Geschlechts.10 Sämtliche Maßnah‐ men zur Neuregulierung des Systems Hochschule müssen diesem Themenbe‐ reich immer wieder neue Aufmerksamkeit schenken. Es stellt sich die Frage, wo Fördermaßnahmen anknüpfen und wie sie gestaltet werden müssen. Denn be‐ trachtet man die Veränderungen der Studentinnenanteile in den Ingenieurwis‐
9 Zu Beginn des Frauenstudiums ist der Anteil von Frauen in einigen natur‐ und ingeni‐
eurwissenschaftlichen Fächern durchaus beträchtlich gewesen. Insbesondere gilt das auch für wissenschaftliche Karrierenachweise wie Promotion und Habilitation (Costas, Roß & Sucht 2000).
10 Quelle: Verein Deutscher Ingenieure (VDI): „MonitorIng“; http://www.
vdi.de/5109.0.html (20.09.2009). Die Daten beziehen sich auf das Jahr 2007 und beru‐ hen auf Berechnungen nach dem Statistischen Bundesamtes. In den „harten“ Ingeni‐ eurwissenschaften beträgt der Frauenanteil: Bauingenieurwesen 24%; Bergbau‐ und Hüttenwesen 18%; Elektrotechnik 8%; Maschinenbau 17%; Verkehrstechnik und Nautik 9%; Vermessungswesen 29%.
senschaften11, ist sogar ein Misserfolg zu verzeichnen: Lag der Frauenanteil 1993 bei 20,19 %, sind es im Jahr 2007 nur noch 14,55%.12 Der Blick richtet sich schon länger auf die Fachinhalte, ‐didaktiken und die disziplinäre Kultur im Feld Hochschule (Arnold & Fischer 2004, Heintz, Merz und Schumacher 2004; Zim‐ mermann, Kamphans & Metz‐Göckel 2008), sie werden auch in dieser Studie zum Thema gemacht. Die mit ihnen verknüpften Studienbedingungen sind auch Angriffspunkt des Projekts Zielgerade an der Technischen Universität Berlin, das sich bemüht diese für Studentinnen vor allem in den Ingenieurwissenschaf‐ ten verbessern und sie zum (erfolgreichen) Studienabschluss begleiten will.13 Insbesondere ist während der Projektarbeit die Frage nach den fachkulturellen Rahmenbedingungen aufgekommen, zu der diese Studie einen Beitrag leisten möchte.
Das Spektrum an Fragen, das hier aufgefächert werden kann, ist sehr breit. An‐ gesetzt werden kann bei der Sozialisation junger Mädchen, die bereits im El‐ ternhaus beginnt und sich über die Schule bis in die Berufs‐ und Karrieresituati‐ on junger Frauen fortsetzt. In dieser Studie wird das Studium junger Frauen in den Fächern Informatik, Elektrotechnik, (anwendungsorientierte) Mathematik, Maschinenbau und Verkehrswesen untersucht; sie schließt somit an die be‐ nannten Untersuchungen an, die einen konkreteren Blick in die disziplinäre Kul‐ tur werfen.
In Kapitel 2 wird der theoretische Ausgangspunkt der Frage nach möglichen ge‐ schlechtlichen Konnotationen14 im (Fach‐)Wissen der Ingenieurwissenschaften
11
In den gängigen Statistiken und wissenschaftlichen Untersuchungen werden Natur‐ und Ingenieurwissenschaften oft in einem Atemzug genannt. Unter dem hier verhandelten Stichwort der disziplinären Kultur zeigt sich schnell, dass eine Zusammenfassung nicht unzweifelhaft ist. Auch die Statistiken weisen unterschiedliche Frauenanteile auf, so dass unterschiedliche Bedingungen unterstellt werden müssen. Diese Untersuchung fo‐ kussiert eindeutig die Ingenieurwissenschaften. In Anbetracht der Literaturlage kann al‐ lerdings nicht immer auf eine gemeinsame Nennung verzichtet werden.
12 Die Berechnungen basieren auf den Daten des Statistischen Bundesamtes wie sie vom
VDI (Verband deutscher Ingenieure) veröffentlicht wurden (http://www.vdi‐ monitoring.de/; (09.06.2009)). Der relativ hohe Anteil im Jahr 1993 ist vermutlich im Zu‐ sammenhang mit der deutschen Wiedervereinigung zu erklären. 13 Ich bin in diesem Projekt im Zeitraum 2007 bis 2009 studentische Projektkoordinatorin gewesen. 14 Eine Definition des Begriffs folgt im Kapitel „ Geschlechtliche Codes und die Wissensordnung“.
skizziert. Die Fragestellung knüpft somit an aktuelle Thesen zu geschlechtsco‐
diertem Wissen an. Ausgehend davon, dass Wissen sozial konstruiert ist, ist
festzustellen, dass auch wissenschaftliches Wissen nicht rein objektiv ist, son‐ dern gesellschaftliche Strukturen dieses mitprägen. Im Wissen sind gesell‐ schaftliche Ordnungen verankert, die durch die Wissensvermittlung und ‐ nutzung reproduziert werden. Das Wissen bezieht sich somit nicht nur auf sei‐ nen „lexikalisch“ festgelegten Inhalt, sondern transportiert auch Wertungen oder Hierarchien in Form von „Mitbedeutungen“. Die Frauen‐ und Geschlech‐ terforschung diskutiert in diesem Zusammenhang geschlechtliche Codierungen des Wissens und formuliert einen engen Zusammenhang von Wissens‐ und Ge‐ schlechterordnung (Lucht & Paulitz 2008, von Braun & Stephan 2005) (Kapitel 0). Ich gehe davon aus, dass (vermeintliche) geschlechtliche (und soziale) Kon‐ notationen in engem Zusammenhang mit der disziplinären Kultur stehen; sie werden in Kapitel 3 genauer beleuchtet werden. Studierende werden im Laufe ihrer Ausbildung in die disziplinäre Kultur der Wissenschaften hinein sozialisiert und beginnen meist ab dem Hauptstudium die geprägte Fachkultur zu interna‐ lisieren (Engler 1993, Huber 1991, Multrus 2004). Die vorliegende Studie bezieht zwei Perspektiven aufeinander. Zum einen wird ein theoretisches Gerüst entwickelt, in dem die Bedeutung geschlechtlich kon‐ notierten Wissens in Bezug auf ihren disziplinären Ursprung hin untersucht werden kann (Kapitel 0). Es wird danach gefragt, welche Beschreibungsebenen einen Zugang dazu bieten, im Wissen verankerte sozial‐kulturelle Einschreibun‐ gen zu erfassen. Hierfür wird ein Beschreibungskonzept nach Heintz et al. (2004) und Arnold & Fischer (2004) entwickelt, das die Dimensionen der epi‐ stemischen Praktiken, der Arbeitsteilung und des sozialen Klimas sowie das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft zum Ausgangspunkt nimmt. Wis‐ sen wird darin auf den gesamten kulturellen Kontext bezogen und beschränkt sich nicht auf das Fachwissen. Zahlreiche Untersuchungen geben Beispiele für die prekäre Geschlechterordnung in den Natur‐ und Ingenieurwissenschaften, beziehen sich aber meist auf Akteur/innen, die sich bereits aktiv forschend im wissenschaftlichen Umfeld bewegen, also ihre Erstausbildung abgeschlossen haben.15 Im Anschluss an Studien zur Fachkultur ist aber festzustellen, dass be‐
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Zum Beispiel sind zu nennen: Janshen & Rudolph 1988; Zuckermann, Cole & Bruer 1991; Erlemann 2002; Beaufaÿs 2003; Lucht 2004.
reits während des Studiums eine bewusste oder unbewusste Auseinanderset‐ zung mit der vorherrschenden Geschlechterordnung im Rahmen der Sozialisa‐ tion stattfindet. Ich vermute, dass Studierende als „neue Generation“ in einem besonderen Spannungsverhältnis zu Wissens‐ und Geschlechterordnung ste‐ hen. Ihre wissenschaftliche Ausbildung dient der Selektion und Rekrutierung von zukünftigen Teilnehmer/innen dieses kulturellen Feldes. Als neue Genera‐ tion sind Studierende in besonderer Form mit den bestehenden Wissens‐ und Geschlechterordnungen konfrontiert und bieten insofern ein vielversprechen‐ des Untersuchungsfeld für die Analyse im Wissen verankerter Deutungsmuster. Zur Identifikation geschlechtlicher Konnotationen werden empirisch die Selbst‐ darstellungen und Wahrnehmungen von Studentinnen vor allem hinsichtlich ih‐ rer Studienmotivation und ‐interessen mit den Beschreibungsdimensionen der disziplinären Kulturen verknüpft. Auf dieser Ebene wird ein deskriptiver Zugang zu geschlechtlichen (und sozialen) Konnotationen geprüft und mit dem Theo‐ rieentwurf verknüpft. Da die Studienfachwahl ebenso wie der Verbleib im ge‐ wählten Fach selten nur ein Abwägen rein sachlicher Argumente ist, sondern vielmehr auch von motivationalen Gründen beeinflusst, erscheint der Zugang über Studienmotivation und ‐interessen sinnvoll. Sowohl intrinsisch‐ideelle (Leidenschaft, Fachinteresse, eigene Begabung) als auch extrinsisch‐ utilitaristische (Berufsperspektiven, Einkommen) Aspekte spielen eine Rolle. Die vorliegende Studie will diese Elemente nicht direkt aus den identifizierten Merkmalen der disziplinären Kulturen ableiten, sondern mögliche Zuordnungen illustrieren, die als argumentative Stütze für die Identifikation der geschlechtli‐ chen und sozialen Konnotationen herangezogen werden können. Die Selbstbe‐ schreibungen und Wahrnehmungen der Studentinnen über ihre Studieninte‐ ressen und ‐motivationen drücken aus, wie weit diese bereits mit den der dis‐ ziplinären Kultur verbunden sind; hier zeigt sich die Ausgeprägtheit ihrer fachli‐ chen Identität und „Selbstbilder“/‐konzepte (Walter, 1998)16. Bisherige Befun‐
16 Die theoretischen Konzepte und Diskussionen zu den Begriffen der Identität und zu
Selbstbild/‐konzept werden in dieser Studie nicht umfassend diskutiert. Mir erscheint es aber dennoch sinnvoll, sie zu verwenden, da sie sich an mehreren Stellen als anschluss‐ fähig bzw. für weitere Untersuchungen wichtig erweisen könnten. Identität wird hier verstanden als „am Schnittpunkt von gesellschaftlicher Interaktion und individueller Biographie stattfindender Prozess der Konstruktion und Revision von Selbstbildern“
(Metzler‐Lexikon Literatur‐ und Kulturtheorie 2004, S. 277). Besonders bedeutsam ist hier für mich das Moment der Interaktion, denn über diese werden die sozialen und ge‐ schlechtlichen Konnotationen konstruiert, revidiert und reproduziert. Weitestgehend
de zur Entwicklung von Studieninteressen und ‐motivation werden in Kapitel 4 dargestellt.
Anhand der Darstellungen der Studentinnen sollen Deutungsmuster herausge‐ arbeitet und daraus (soziale und) geschlechtliche Konnotationen in der Wis‐ sen(schaft)skultur der Ingenieurwissenschaften abgeleitet werden. Es wird her‐ ausgearbeitet, inwieweit ein patriarchalisches Objektivitätsideal die Wissen‐ schaftskultur kennzeichnet und welche Folgen das für Frauen in diesen Diszipli‐ nen hat. Aus dieser Perspektive wird konkret nach Studieninhalten und ‐ methoden sowie deren Vermittlung gefragt und dies in Zusammenhang mit den Studienmotivation und den Studieninteressen der Studentinnen gebracht. Dies wird schließlich mit der in Kapitel 3 dargestellten disziplinären abgeglichen. Der empirische Zugang mittels Interviews gibt weiterhin Einblick in die latenten Ein‐ stellungen und Erfahrungen der Studentinnen zur Gleichstellung und spiegelt insofern das zeitgenössische „Differenzwissen“ (Wetterer 2003) über die Ge‐ schlechterordnung.
angelehnt ist die Definition der an George Herbert Mead: „(…) Identität als die reflexive Fähigkeit des Subjekts, sich zu sich selbst und anderen gegenüber zu verhalten. Die Personwerdung wird dabei als Prozess aufgefasst, in dessen Verlauf man die Erwartun‐ gen der Interaktionspartner wahrnimmt, sie internalisiert und auf sie reagiert“ (Brockhaus Psychologie, 2009, S. 259). Der Begriff Selbstbild/‐konzept soll verwendet werden, weil mir in seinen Definitionen immer das Moment der Leistungsbezogenheit auffiel. Die Leistungsbezogenheit spielt bei Studentinnen der Ingenieurwissenschaften immer eine besondere Rolle, so dass auch dieses Konzept als sehr anschlussfähig er‐ scheint. Das Selbstkonzept „bezeichnet die Einschätzungen, die eine Person über ihre eigene Persönlichkeit, über ihre Leistungsfähigkeit und über ihr Verhalten hat, gewöhn‐ lich verbunden mit einem Werturteil“ (Brockhaus Psychologie, 2009, S. 259). Es ist ge‐ prägt durch über soziale Interaktionen, in denen Selbst‐ und Fremdbild verglichen wer‐ den, ebenso wie auch über durch die Kultur.
2. Theoretische Grundlagen zur Wissensproduktion – die anti
positivistische Wende
Der folgende Abschnitt geht grundlegenden Annahmen über Wissenschaft und Ent‐ stehungsprozessen wissenschaftlichen Wissens nach. Es wird nachgezeichnet, wa‐ rum den Naturwissenschaften im Gegensatz zu den Geisteswissenschaften ein be‐ sonders hoher Grad an Objektivität unterstellt wird. Dieses Verständnis bildet die Basis für das Konzept geschlechtlicher Codes im Wissen.
Ausgangspunkt der Überlegungen, die darauf abzielen, Wissen nicht allein in Form von Tatsachen und Fakten zu begreifen, sondern auch als Träger von gesellschaftli‐ chen Symboliken, ist die Trennung der Wissenschaft in zwei konträre Bereiche oder auch „zwei Kulturen“ (Snow [1959] 1967): Naturwissenschaften vs. Geisteswissen‐ schaften (und später auch Sozial‐, Kulturwissenschaften). Diese Trennung beruht insbesondere auf den unterschiedlichen Erkenntnismodi und entstand zur Zeit der Industrialisierung, als deren gesellschaftliche Wirkung zur Diskussion stand (Lepe‐ nies 1985, S. 258).
Eine Rekonstruktion der Erkenntniswege in diesen wissenschaftlichen Zweigen er‐ möglicht es, die Genese von Wissen zu erfassen und darüber hinaus gesellschaftli‐ che Bezüge mit in den Blick zu nehmen. Wissenschaftlichem Wissen wurde lange ein positivistischer Charakter zugeschrieben. Das heißt, wissenschaftliche Erkenntnis be‐ ruhte auf der Annahme, dass eine objektive Realität mittels logischer Verfahren zu erfassen, gewissermaßen ein Abbild der Welt produzierbar sei und so als wissen‐
schaftliche Tatsache gelte.17 Eine solche Auffassung von Wissenschaft drückt eine antisubjektive18 und antisoziale Haltung aus.
Bereits Karl Mannheim hat mit seinen Thesen zur Standortgebundenheit des Wis‐
sens dazu beigetragen, dieses positivistische Bild der Wissenschaften aufzulösen.19 Auf Basis der Prämisse von Karl Marx „das Sein bestimmt das Bewußtsein“ (Lucht 2004, S. 21) entwickelt Mannheim die These, dass auch das Wissen vom sozialen Standort der Person geprägt sei.20 Seine Wissenssoziologie ist die „Lehre von der so‐ genannten ‚Seinsverbundenheit‘ des Wissens“ (Mannheim 1965 [1929], S. 221). Da‐ rin ist das gesamte menschliche Denken mit sozialen Faktoren wie beispielsweise Religion oder Klasse verknüpft und in diesem Sinne immer ideologisch.21 Mit dem Begriff „Aspektstruktur der Erkenntnis“ beschreibt er, dass
„[…] an ganz entscheidenden Punkten außertheoretische Faktoren ganz verschiedener Art, die man als ‚Seinsfaktoren‘ zu bezeichnen pflegt, das Entstehen und die Gestaltung des jeweiligen Denkens bestimmen, […] daß diese das Entstehen der konkreten Wissensgehal‐
17 Dem zugrunde liegt der logische Empirismus, der davon ausgeht, dass Theorien durch die Be‐
obachtung eindeutig bestimmt sind. Es wurde also unterstellt, dass es nur eine Interpretati‐ onsweise von Beobachtungen und Daten gibt. Das meint auch, dass mit Daten und Beobach‐ tungen fehlerhafte Theorien ausgeschlossen werden können. Darüber wird eine scharfe Trennlinie zwischen Empirie und Theorie gezogen. Die Wahl der Theorie hat demnach keinen Einfluss auf die Wahrnehmung der empirischen Daten und Beobachtungen (Felt, Nowotny & Taschwer 1995, S. 123f). 18 Dies bezieht sich nur auf die feststehende wissenschaftliche Tatsache, denn das positivistische Wissenschaftsverständnis ging von einem „sensualistischen Empiriebegriff“ aus, in dem Erfah‐ rung ein individuell‐psychischer Prozess ist (Bayertz 1980, S. 211). 19
Zur Diskussion Mannheims und der Bedeutung seiner Ausführungen für die Entstehung der Wissenssoziologie vgl. Heintz (1993b).
20
Mannheim nannte weitere Faktoren neben den ökonomischen (Basis‐Überbau‐Modell) als Einflussfaktoren auf das Wissen: Generation, Lebenskreise, Sekten, Berufsgruppen, Schulen, usw. (vgl. Korte 1993, S. 128; Knoblauch 2005).
21 Dabei geht es ihm nicht um das Erkennen des richtigen oder falschen Bewusstseins wie in der
Ideologienlehre, zu der er die Wissenssoziologie abzugrenzen sucht, sondern um die ver‐ schieden gearteten Bewusstseinsstrukturen der Subjekttypen im historisch‐sozialen Raum. Diese Abgrenzung rührt aus seiner Kritik an Scheler, dessen Trennung von Real‐ und Idealfak‐ toren er für falsch hält, weil sie wie „Sein“ und „Sinn“ „nur gemeinsam in dynamischen histo‐ rischen Verbindungen“ vorkämen (Knoblauch 2005, S. 100). Er fragt folglich danach, welche historisch‐sozialen Bedingungen in das Wissen einfließen – nicht nach deren Konsequenzen (Mannheim 1965 [1929], S. 228/9). Allerdings weisen Felt et al. darauf hin, dass sein Interesse vor allem politischen Wissensbeständen galt (Felt et al. 1995,S. 23). Somit wird eine Verknüp‐ fung mit dem Faktor Macht und Herrschaft offensichtlich, die in der Geschlechterforschung immer eine bedeutende Rolle spielt.
te bestimmenden Seinsfaktoren keineswegs von bloß peripherer Bedeutung […] sind, son‐ dern in Inhalt und Form, in Gehalt und Formulierungsweise hineinragen.“ (Mannheim 1965 [1929], S. 230)
Die Seinsfaktoren sind Mannheims Ausdruck des Sozialen in der Wissensproduktion. Mit der Betonung der sozialen Komponente verfällt Mannheim vermeintlich in einen Relativismus der Wissensproduktion (vgl. zu dieser Kritik Heintz 1993b, S. 531). Dem begegnet er selbst durch die Aufstellung zweier Ausnahmen, allerdings ohne Be‐ ständigkeit seiner Argumente (Heintz 1993b): Zum seien sind Intellektuelle weniger von ökonomischen Verhältnissen beeinflusst, so dass sie eine gewisse Distanz zum Wissen einnehmen könnten (vgl. Lucht 2004, S.21; Heintz 1993b). Zum anderen sei‐ en in mathematischen Formeln (als Stellvertreter für die Naturwissenschaften) die historisch‐sozialen Geneseprozesse nicht mehr nachvollziehbar, so dass Naturwis‐ senschaften und Mathematik von der Seinsverbundenheit auszuschließen sind (vgl. Heintz 1993b).22 Durch diese zweite Aussage ist der epistemologische Sonderstatus der Naturwissenschaften bestimmt. In der konkreten Beschreibung der Differenz der epistemischen Praktiken zwischen Natur‐ und Geisteswissenschaften wird nicht nur eine Hierarchie der Wissenschaften deutlich, sondern auch Kritik daran geäußert: „Nur weil dieses Erkennen [in den exakten Naturwissenschaften] ganz besonders in seinen mathematisierbaren Teilen weitgehend die Struktur der Abhebbarkeit von der historisch‐ sozialen Aspektstruktur des erkennenden Subjekts hat, konnte man das Richtigkeitsbild wahrer Erkenntnis so konstruieren, dass alle auf das Erfassen des qualitativen ausgerichte‐ ten Typen des Erkennens (die als solche notwendigerweise Elemente in sich enthalten, die mehr oder minder in der Weltanschauungsstruktur des Subjekts zusammenhängen) ent‐
22
Hier wird allerdings darauf hingewiesen, dass die Mathematik als Wissenschaft nicht immer den Naturwissenschaften zugerechnet wird. Die Verfahren und Methoden der Mathematik (der Beweis) sind in ihrer Form dem Geiste entsprungene Aussagen. Sie sind nicht wie in der Naturwissenschaft Erkenntnisse auf Basis eines empirischen Experiments. Ihre Aussagen fol‐ gen wie in der Philosophie der Logik und sind in diesem Sinne abgeschlossen und wahr; sie werden nicht falsifiziert. Dem zugrunde liegt die Auffassung, dass mathematisches Wissen vom Subjekt losgelöst sei und nur wahre Sätze produziere (Heintz 1993b, S. 546; vgl. auch Schiebinger [1999] 2000). In der vorliegenden Untersuchung kann diesem spezifischen Status der Mathematik allerdings keine tiefere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Zur Stellung der Mathematik gegenüber den anderen Kulturen der Wissenschaften und ihre übergreifende Ordnung vgl. Tobies (2008). Zu der disziplinären Kultur der Mathematik, insbesondere ihrer epistemischen Praktiken vgl. Heintz (2000). Zur Rolle der mathematik in einer Naturwissenschaft (Physik) vgl. Erlemann (2004, S. 57ff, 73ff und 114f).
weder übergangen oder als minderwertige Erkenntnismodi behandelt werden.“ (Mann‐ heim 1965 [1929], S. 249)23 Ähnliche Kritik zeichnet Lepenies allerdings bereits für 1913 nach mit dem Bezug auf Walther Rathenaus „Zur Mechanik des Geistes oder vom Reich der Seele“. Demnach führe „der Erfolg der Naturwissenschaften“ dazu, dass auch alle anderen Disziplinen gezwungen seinen „zu messen und exakt zu sein“, mit dem Verlust ihrer Kritikfähig‐ keit an den gesellschaftlichen Verhältnissen (Lepenies 1985, S. 250). Die Dualität der wissenschaftlichen Disziplinen ist damit vorgezeichnet und noch heute nicht voll‐ ständig aufgelöst (Grunwald & Schmidt 2005, S. 7).
Die sogenannte antipositivistische Wende markiert die Erschütterung des dargestell‐ ten epistemologischen Sonderstatus der Naturwissenschaften. Das damit verbunde‐ ne Paradigma ermöglicht den Ausbau der Thesen zur sozialen Konstruktion von na‐ turwissenschaftlichem Wissen, sodass eine wissenssoziologische Betrachtung der Wissenschaft möglich wird (Heintz 1993b, S. 529).
Die Merkmale der antipositivistischen Wende sind mit dem wissenschaftsphiloso‐ phischen und ‐historischen Werk von Thomas Kuhn („The structure of Scientific Re‐ volutions“, 1962) verbunden. Kuhn prägt den Paradigmabegriff und versteht darun‐ ter „[…] allgemein anerkannte wissenschaftliche Leistungen, die für eine gewisse Zeit einer Gemeinschaft von Fachleuten maßgebende Probleme und Lösungen lie‐ fern“ (Kuhn [1962] 1981, S. 10).24 Daran anknüpfend argumentiert er, dass die Na‐ turwissenschaft und ihre Erkenntnisse nicht positiv seien, weil es keine objektiv er‐ kennbare Wahrheit gäbe. Vielmehr betont er – wie auch Mannheim – die intersub‐ jektiven Übereinkünfte auf dem Weg der wissenschaftlichen Erkenntnis. Für die Wissensproduktion nimmt er Phasen an, in denen Wissen und Verfahren ein stabiles Ansehen in der wissenschaftlichen Gemeinde genießen („normale Wissenschaft“)
23 Die hier deutlich gewordene Unterscheidung der Erkenntnismodi schließt nach Lucht aller‐
dings nicht aus, dass Mannheim nicht auch wissenssoziologische Zugänge zum naturwissen‐ schaftlichen Wissen vermutet hätte. Sie widerspricht damit der gängigen Rezeption (Lucht 2004, S. 23f).
24 Kuhns Arbeit basiert auf der 1935 erschienen Untersuchung Ludwig Flecks zur Entstehung und
Veränderung des Syphilisbegriffs („Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tat‐ sache“). Fleck argumentierte erstmals mit den Begriffen des Denkstils und Denkkollektivs, dass es keine sozial unabhängige wissenschaftliche Wahrheit gibt (vgl. Knoblauch 2005, S. 238f).
und durch Umbrüche revidiert werden (Paradigmenwechsel) (vgl. Felt et al. 1995, S. 125). Denn nur so ist die Genese neuen Wissens und somit wissenschaftlicher Fort‐ schritt möglich. Er widerspricht damit dem Prinzip des logischen Positivismus, in dem sich Erfahrung, aus der sich Erkenntnis generiert, nur an das individuell‐ psychische Erleben des Einzelwissenschaftlers koppelt. Das Paradox, dass „[d]ie In‐ tersubjektivität der Wissenschaft […] durch eine Erfahrungsbasis gewährleistet wer‐ den [soll], die selbst nicht als intersubjektiv gilt, sondern auf die individuellen Erleb‐ nisse des Subjekts reduziert wird“ (Bayertz 1980, S. 211), wird in der antipositivisti‐ schen Wende aufgelöst, weil die Scientific Community zum Träger des Kuhnschen Paradigmenbegriffs wird. Da sich ein „Paradigmenwechsel in der Scientific Commu‐ nity nicht „[…] nur auf die Veränderung von Theorien, sondern auch auf Verände‐ rungen sozialer und kultureller Faktoren der Erkenntnisproduktion […]“ (Lucht 2004, S. 29) bezieht, werden die Kennzeichen der antipositivistischen Wende bedeutsam für Thesen zur sozialen Konstruktion von Wissen und insbesondere zur geschlechtli‐ chen Codierung von Wissen. Jüngere Ansätze aus der Wissenschaftssoziologie und der Techniksoziologie widmen sich nun stärker der sozialen Gruppe als Träger der Wissensproduktion und formu‐ lieren Thesen der sozialen Konstruktion von Wissen.25 Viel stärker als zuvor steht die Frage im Raum, welche Prozesse und Praxen zu Grunde liegen, damit wissenschaft‐ lich anerkannte Wahrheit bzw. Objektivität entsteht. Wissenschaftliche Tatsachen unterliegen einem sozialen Aushandlungsprozess, in dem es offene Phasen der In‐ terpretation (interpretative Flexibilität) gibt und soziale Schließungsprozesse, die das Ende der Aushandlung markieren. Mit dem Modell des empirischen Programms des Relativismus (EPOR) wurde begründet, dass das Entstehen einer wissenschaftlichen Tatsache vielmehr sozialen Mechanismen unterliegt und sich nicht nur durch die
25 Die Ansätze werden unter dem Titel „The Sociology of Scientific Knowledge“ mit weiteren
Vertretern wie David Bloor (1976) mit „The Strong Programme“ und dem Laborstudien‐Ansatz (Bruno Latour und Steve Woolgar 1979, Karin Knorr‐Cetina 1981 und Sharon Traweek 1988) zusammengefasst. Für einen Überblick über die Herangehensweise im Sinne des Sozialkonstruktivismus siehe Meyer & Schulz‐Schaeffer (2005).
empirischen Daten begründet (Collins 1981; Collins 1985; Bijker & Hughes 1987).26 Bedeutsam ist dies auch in Bezug auf die angewendeten Theorien und Modelle, de‐ ren Auswahl den sozialen Aushandlungsmechanismen unterliegt und Einfluss auf die geltenden Paradigmen dieser wissenschaftlichen Gemeinde hat.
Alsbald gewinnt das Labor als Forschungsort besondere Aufmerksamkeit. Mehrere Aspekte der damit verbundenen Labor‐ und Netzwerkstudien sind für den Kontext des codierten Wissens von Bedeutung. Zunächst wird das Verhältnis zur Natur und ihren Objekten im Labor neu bestimmt, was wiederum eine offenere Perspektive auf den Objektivitätsanspruch vermittelt. „Die Natur wird in eine für den wissenschaftli‐ chen Forschungsprozess ideale Umgebung ‚enkulturiert’, wodurch sich günstige ‚epistemische‘ Effekte einstellen“ (Felt et al. 1995, S. 136). Die Natur ist somit nicht mehr nur ein externes Objekt, das wissenschaftlicher Erkenntnis gegenüber steht, sondern wird zum Teil des Erkenntnisprozesses (Knorr‐Cetina 1991). Die Feststel‐ lung, dass sich die sozialen Aushandlungsprozesse im Labor nicht ausschließlich spe‐ zifisch wissenschaftlich zeigen und sich somit nicht von alltäglichen Praktiken unter‐ scheiden (vgl. Felt et al. 1995, S.136), öffnet den Blick dafür, eine Verbindung zwi‐ schen alltäglicher und wissenschaftlicher Wissensordnung sowie ihrer Verflechtung zur gesellschaftlichen Ordnung zu suchen.
Die hier beschriebene Perspektive bedeutet einen Wandel der Gewichtung „wissen‐ schaftlicher Tätigkeit“. Eingeläutet mit der antipositivistischen Wende entwickelte sich eine ausgeprägte Theorieorientierung wissenschaftlicher Tätigkeit. „Parallel zu (der) innerphilosophischen Relativierung der Bedeutung der Empirie für die Entwick‐ lung und Validierung von Theorien verlor diese auch als Untersuchungsgegenstand der Wissenschaftsforschung an Gewicht“ (Heintz 1993b, S. 541, mit Bezug auf Galison 1988). Die Laborstudien sind insofern Ausdruck einer Gegenposition, die den
26 Besonders bedeutsam ist allerdings auch die dritte Phase die nach EPOR beschrieben wird.
Hier wird ein Bezug zu politischen und sozialen Strukturen hergestellt und Dimensionen der Macht gewinnen an Bedeutung. Collins hat in seinen Forschungen zur Gravitationswellenfor‐ schung nachgewiesen, dass diejenige Gruppe im Aushandlungsprozess das Nachsehen hatte, die auch über geringere Mittel verfügte, um der wissenschaftlichen Öffentlichkeit ihre Positi‐ on darzulegen (Felt et al. 1995, S. 133).
Akzent auf das Experiment verschieben und die praktischen Tätigkeiten als Gegen‐ stand wissenschaftssoziologischer Betrachtung in den Vordergrund rücken.
In den Netzwerkstudien (Aktor‐Netzwerk‐Theorie27), die eng mit Bruno Latour ver‐ bunden sind, werden weitere Aspekte deutlich, für deren Aufarbeitung für den in der vorliegenden Studie behandelten Kontext ich auf Heike Wiesner zurückgreife. Denn trotz der dargestellten Fokussierung auf die soziale Dimension im wissen‐ schaftlichen Erkenntnisprozess wird der Kategorie Gender bisher wenig Aufmerk‐ samkeit geschenkt. Dabei sind die Labor‐ und Netzwerkstudien im Kontext der femi‐ nistischen Wissenschaftsforschung besonders geeignet, dieser Kategorie auf die Spur zu kommen, weil sie neben den Laborberichten auch die Konversationen und das Alltagshandeln der Akteur/innen betrachten und so den Entstehungszusam‐ menhang von Wissen komplexer beleuchten. Gender kann im Beschreiben der Netzwerke konkret verortet werden. Außerdem wird das Objekt oder Artefakt zu ei‐ nem eigenständigen Teil des Netzwerks und bleibt nicht mehr nur bloßes Objekt der Beobachtung. Diese Perspektive eröffnet einen neuen Zugang zum Charakter des Wissens. Das Aufgreifen dieser Ansätze seitens der Geschlechterforschung ist zudem auch Ausdruck von Kritik, in der den Science and Technology Studies28 (STS) vorge‐ halten wird, Gender bisher nicht als Analysekategorie betrachtet zu haben. Zwei vernachlässigte Momente der STS, die von Wiesner aufgezählt werden, sind für den Zugang zu den Codes im Wissen interessant: Zunächst werde der metaphorische Gehalt der Kommunikation in den Ansätzen der STS unterschätzt. In der Geschlech‐ terforschung sei die Metaphernanalyse hingegen zu einer prominenten Methode geworden, die Wechselwirkung zwischen wissenschaftlichem Wissen und gesell‐ schaftlichen Zusammenhängen nachzuweisen und auch bildhaft darzustellen.29 Da‐
27 Die Aktor‐Netzwerk‐Theorie geht von einer Symmetrie zwischen menschlichen und nicht‐
menschlichen Akteuren aus und beschreibt die Aushandlung (wissenschaftlicher Tatsachen) als Vermittlung zwischen den „Aktanten“ in einem Netzwerk (Latour 1996; Latour 2007).
28 Unter diesem Begriff werden die inzwischen institutionell verankerten Forschungen und Ar‐
beiten der Wissenschafts‐ und Technikforschung zusammengefasst (Felt et al. 1995,S. 293f). Dazu zählen eben auch die Labor‐ und Netzwerkstudien bzw. ‐theorien.
29 Ein eindrucksvolles Beispiel für die Physik liefert Dorit Heinsohn 2005: „Physikalisches Wissen
im Geschlechterdiskurs“. Vgl. auch Lucht 2004, S. 49f., und Götschel 2006 sowie Harding 1994, S. 56f.
rüber hinaus werde das Symmetrie‐Prinzip der Netzwerke nach Latour so überbe‐ tont, dass die unterschiedlichen Hierarchien und Aufmerksamkeitszuwendungen30, die sich sehr wohl nach Geschlecht differenzieren, nicht ausreichend zugänglich sei‐ en (vgl. Wiesner 2008).31 In der ROBERTA‐Studie beschreibt Wiesner die nötige Er‐ gänzung, des von ihr als „erkalteten“ Akteur benannten Defizits der Symmetriethe‐ se: „Gemeint ist, dass Forschungspraktiken bei Latour nicht als erkaltete Wissen‐ schaft beobachtet, sondern unter dem Blickwinkel science in action bzw. science in the making analysiert werden.“ Durch die Forderung „(…) der Praxis selbst, (…) den Interaktionen zwischen wissenschaftlichen Akteuren, technischen Apparaten, Tex‐ ten und Institutionen in einem hybriden Netzwerk (…)“ gleichberechtigt Aufmerk‐ samkeit zu schenken, müsse Gender eine strukturelle Analysekategorie sein (Wies‐ ner 2004, S. 126).
Wenn nun so zahlreiche Erkenntnisse darüber bestehen, dass Wissen (sowohl wis‐ senschaftliches als auch alltägliches) bereits in seiner Entstehung von sozialen Fakto‐ ren beeinflusst wird, dann stellt sich die Frage, wie soziale Komponenten in der Struktur des Wissens verankert sind und welche Bedeutung dies für die kulturelle und soziale Ordnung im wissenschaftlichen und auch gesamtgesellschaftlichen Sys‐ tem hat. Der Anschluss an die Aussage, dass „Wissen […] nicht als sozial und kultu‐ rell neutral zu betrachten (ist), sondern (sich) konstituiert (…) in sozialen Deutungs‐ systemen und historisch spezifischen gesellschaftlichen Formationen“ (Lucht & Paulitz 2008, S. 11), drückt sich in der Frauen‐ und Geschlechterforschung mit der These des „geschlechtlich codierten Wissens“ (Schiebinger [1999] 2000; Lucht & Paulitz 2008; von Braun & Stephan 2005 u.a.) aus.32 In radikaler Weise sind von
30
Allerdings ist es genau Latours Anliegen, durch das Aufstellen des Symmetrie‐Postulats das Soziale in Form gesellschaftlicher oder politischer Interessen oder wissenschaftlicher Hierar‐ chien als letztliche Erklärungsinstanz zu entschärfen, denn das „Soziale“ sei ebenso konstru‐ iert (Felt et al. 1995, S. 294). 31 Wiesners Beispiele lassen dabei auch immer die Konsequenzen für die Frauen deutlich wer‐ den. So erhielt die Biologin Barbara McClintock, die das Prinzip der „springenden Gene“ ent‐ deckte, den Nobelpreis für ihre Arbeiten erst 1983. Ihre Arbeiten veröffentlichte sie aber be‐ reits 1951 und im wissenschaftlichen Diskurs aufgegriffen wurden sie erst in den 1960ern. Rosalind Franklin, die wesentlich zur Beschreibung der DNA‐Doppelhelix beitrug, erfuhr nie eine Ehrung für ihre Arbeit (Wiesner 2008, S. 39ff).
32 Die meisten Autorinnen nutzen den Begriff der Codes, vor allem auch um seine historisch‐
Braun und Stephan sogar der Ansicht, „[…] dass in der aktuell boomenden Wissen‐ schaftsforschung die Einsicht in die geschlechtliche Codierung des Wissens und der Wissenschaften noch immer rudimentär ausgebildet ist“ (von Braun & Stephan 2005, S. 30).
Das Interesse, den möglichen geschlechtlichen Codes im Wissen nachzugehen, gründet in den klassischen Studien der Frauen‐ und Geschlechterforschung, die die Beteiligung der Geschlechter an der Wissenschaft (Nowotny & Hausen 1986) und die Produktion naturwissenschaftlicher Erkenntnis (Schiebinger [1999] 2000) erfassen und kritisch hinterfragen (vgl. Lucht & Paulitz 2008, S. 12). Die Beteiligung von Frau‐ en in der Wissenschaft ist allerdings nicht mehr nur ein institutionelles Problem. Zu Recht merkt Tanja Paulitz an, dass „[…] die horizontale Segmentierung nach Ge‐ schlecht in den Studienfächern mit Hilfe außerfachlicher und somit außertechni‐ scher Faktoren erklärt wird […]“ (Paulitz 2007, S. 26). Demnach gilt es, geschlechtli‐ che Codierungen als komplexes und vielschichtiges Problem näher zu ergründen. Darüber hinaus kann die Analyse auf dieser Ebene auch zu einem besseren Ver‐ ständnis der epistemologischen Praktiken und des Verhältnisses der Disziplinen zu‐ einander beitragen. Nicht zuletzt birgt die Analyse der im Wissen verankerten Struk‐ turen und Codes neue Zugänge zur reflexiven Betrachtung der eigenen Disziplin. Das führt zu der Frage, welche Annahmen über die Entstehung von geschlechtlichen Codes und ihr Zusammenhang mit der Gesellschaftsordnung vorliegen und zur Klä‐ rung ihrer Bedeutung in den disziplinären Kulturen herangezogen werden können. code betrachte ich als generalisiertes, relativ statisches kulturelles Muster zur gesellschaftli‐ chen Differenzierung. Die Geschlechterrollen als dynamische, normative Verhaltenserwartun‐ gen und ‐muster basieren auf diesem Code, sind entweder entlang dieses Codes geprägt oder entfalten sich innerhalb dieses Codes. Sie können auch Zumutungen oder Aspekte dieses Codes negieren. (…)“. Und weiter: „Das Geschlecht dient, folgt man Goffmann, als Grundlage eines zentralen Codes, demgemäß soziale Interaktionen und soziale Strukturen aufgebaut sind; ein Code, der auch die Vorstellungen der Einzelnen von ihrer grundlegenden menschli‐ chen Natur entscheidend prägt“ (Goffmann 1994; S. 105, in: Walter 1999, S. 88/89). Ich be‐ nutze in der vorliegenden Arbeit den Begriff Konnotation. Eine Begriffserklärung folgt am En‐ de dieses Abschnittts auf S. 38.
2.2 Geschlechtliche Codes und die Wissensordnung
Die Dichotomie von Natur und Kultur wird als grundlegendes Beispiel für die Zuord‐ nung von geschlechtlichen Codes immer wieder herangezogen (Honegger 1991; Deubner‐Mankowsky 2005; Dornhoff 2002; von Braun & Stephan 2005 u.a.). Die beiden Begriffe können als Stellvertreter für die Pole des Wissens und die Orientie‐ rung der Wissenschaften in Bezug auf ihren Gegenstand verstanden werden. Dabei ist Natur (sowie auch Körper) in der frühen Geistesgeschichte zunächst weiblich und Kultur (wie auch Geist) stets männlich konnotiert.33 In der Wissenschaft findet eine Überlagerung durch die Spaltung in Natur‐ und Geisteswissenschaften34 statt, die auch Ausdruck einer Hierarchie der Wissenschaften untereinander ist. Demnach dienen die Naturwissenschaften der Beherrschung der Natur durch den (männli‐ chen) Geist und sind von höherem Rang. Dies ist direkt mit der Beherrschung der Frau durch den Mann assoziiert.35 Historisch betrachtet standen Natur‐ und Geis‐ teswissenschaften in einem genau umgekehrten Verhältnis (von Braun & Stephan 2005, S. 8). Die starke Besetzung der naturwissenschaftlichen und medizinischen Fä‐ cher durch Frauen Anfang des 19. Jahrhunderts ist vielfach nachgewiesen; zu der Zeit bestand denn auch eine andere Wissens‐ und Geschlechterordnung, als es ge‐ genwärtig der Fall ist (von Braun & Stephan 2005; Costas et al. 2000; Heinsohn, 2005). Schiebinger berichtet insbesondere für das Beispiel Italien von sehr produkti‐ ven und erfolgreichen Naturwissenschaftlerinnen im 18. Jahrhundert (Laura Bassi,
33
Beginnend bei der Kategorienlehre Aristoteles bis hin in die Gegenwart lässt sich eine lang ge‐ setzte Verknüpfung feststellen: "Männlichkeit wurde zur Symbolgestalt für das Geistige; Weiblichkeit zur Symbolgestalt für den Körper, die Materie, das sterbliche Fleisch. Von dieser Differenz leiten sich wiederum viele andere Dichotomien ab wie etwa rational/irrational, ge‐ sund/krank, aktiv/passiv usw. Diese Gedankenstruktur zog sich von der griechischen Antike über das Christentum bis in die Neuzeit und Moderne, und sie nahm dabei wechselnde For‐ men an, die sich in kirchlichen wie in politischen, in künstlerischen wie in naturwissenschaftli‐ chen Zusammenhängen zeigen" (von Braun 1997, S. 5; vgl. Honegger, 1991; Brunotte & Herrn 2008; Klinger 2008 u.a.). 34 Das Clustering in zwei Großkulturen ist mit Blick auf die heutige Disziplinenvielfalt und unter dem Schlagwort Interdisziplinarität kaum aufrecht zu erhalten. Eine hinreichende Klärung der Differenzierungsgeschichte der Disziplinen kann hier nicht geleistet werden. Zur Entstehungs‐ geschichte der Wissenschaft im Allgemeinen und der wissenschaftlichen Disziplinen, vgl. Stichweh (1994).
35 Die Gleichsetzung von Objektivität und Männlichkeit wird erstmals von Merchant (1987) und
Keller (1986) hervorgehoben und diskutiert (Walter, 1998, S. 22ff; vgl auch von Braun & Stephan, 2005 u.a.).