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2.2 Schädel-Hirn-Trauma (SHT) – Definition und Klassifikation

2.2.2 Die Belastung der Angehörigen von SHT-Patienten

Bezugspersonen von Patienten mit SHT können aufgrund ihrer Betreuungsleistung eigene langfristige Beeinträchtigungen erfahren (Douglas & Spellacy, 2000; Marsh, Kersel, Havilll &

Sleigh, 2002). Die Familien müssen sich wie zuvor beschrieben häufig auf schwerwiegende physische, kognitive und emotionale Veränderungen des Patienten einstellen. Eine ebenso schwere Herausforderung stellt das Problem des „Rollenwechsels“ dar. Familienmitglieder werden häufig abrupt zu Betreuenden, was zu einer Schmälerung ihrer eigenen sozialen und Freizeitaktivitäten und Einschränkungen der Alltagsroutine führen kann (Gillen, Tennen, Affleck

& Steinpreis, 1998).

Bereits Ende der 70-er Jahre untersuchten Oddy, Humphrey und Uttley (1978) insgesamt 54 Eltern und Partner unmittelbar nach einem schweren SHT eines Angehörigen. Eine weitere Befragung fand sechs und zwölf Monate nach dem Unfall statt. 39% der Bezugspersonen litten kurz nach dem Ereignis unter krankheitswertigen depressiven Symptomen, welche zu diesem Zeitpunkt stärker ausgeprägt waren als zu beiden Follow-up-Zeitpunkten. Zwischen den beiden nachfolgenden Untersuchungszeitpunkten fand sich kein Unterschied; die Symptome schienen stabil. Fast die Hälfte der Angehörigen berichtete sowohl nach sechs als auch nach zwölf Monaten über Belastung infolge der Erkrankung des Patienten. Als Ursachen wurden häufig

„geringe Verhaltenskontrolle des Patienten“, „Angst vor Epilepsie“ und „körperliche Belastung durch die Betreuung“ genannt. Etwa 25% der Befragten berichteten zu beiden Follow-up-Zeitpunkten in den vergangenen sechs Monaten unter psychosomatischen oder „emotionalen“

Erkrankungen gelitten zu haben.

Das Ausmaß des Stresserlebens schien unabhängig von Patienten- oder Verletzungsmerkmalen wie Länge der Krankenhausbehandlung, körperliche Beeinträchtigungen oder Schwere der Verletzung zu sein. Entscheidender schienen die Persönlichkeitsveränderungen und die Wahrnehmung der mit der Hirnverletzung einher gehenden Symptome des Patienten

durch die Angehörigen. Die Autoren betonten schon damals die Notwendigkeit systematischer Erforschung der Persönlichkeitsveränderungen von Patienten nach SHT.

Livingston, Brooks und Bond (1985a) verglichen die psychiatrischen Symptome von Müttern und Ehefrauen von Patienten mit schwerem SHT mit denen von Müttern und Ehefrauen von Patienten mit leichtem SHT. Angehörige der Patienten mit schwerem SHT erwiesen sich drei Monate nach der Verletzung in Bezug auf Angstsymptome und allgemeine psychische Beschwerden als stärker beeinträchtigt, allerdings nicht hinsichtlich depressiver Symptome. Die gefundenen psychischen Beschwerden erwiesen sich auch ein Jahr nach der Verletzung als stabil (Livingston, Brooks & Bond, 1985b). Mütter und Ehefrauen waren gleichermaßen und im Vergleich zu Personen der Allgemeinbevölkerung stärker belastet. Als bester Prädiktor der psychischen und sozialen Funktionsfähigkeit der Angehörigen erwies sich das Ausmaß subjektiver Beschwerden des Patienten.

Zu einem ähnlichen Ergebnis kamen auch McKinlay, Brooks, Bond, Martinage und Marshall (1981). Die von Angehörigen am häufigsten berichteten Probleme bezogen sich auf emotionale Veränderungen des Patienten, Gedächtnisdefizite und „subjektive“ Symptome des Patienten wie z.B. Verlangsamung und Müdigkeit. Die Belastung der Angehörigen erwies sich als hoch und blieb über den Beobachtungszeitraum von einem Jahr stabil. Ein Zusammenhang zwischen der Schwere der Verletzung (gemessen an der posttraumatischen Amnesie, PTA) und der Belastung der Angehörigen war drei Monaten nach der Verletzung deutlich, nahm dann ab und war ein Jahr nach der Verletzung nicht mehr vorhanden. Für alle drei Untersuchungszeitpunkte galt aber: je stärker ausgeprägt „subjektive“ Beeinträchtigungen (z.B.

Verlangsamung, Müdigkeit, schlechte Konzentrationsfähigkeit, Kopfschmerzen), emotionale Veränderungen (z.B. Reizbarkeit, Ungeduld, Stimmungsschwankungen) und unangemessenes Verhalten von den Angehörigen wahrgenommen wurde, desto höher war die subjektive Belastung der Angehörigen.

Auch fünf Jahre nach der Verletzung hatte sich das Bild der von Angehörigen berichteten Veränderungen und Beeinträchtigungen kaum verändert (Brooks, Campsie, Symington, Beattie &

McKinlay, 1986). Die subjektive Belastung nahm über die Zeit für die Angehörigen zu und wies erneut einen positiven Zusammenhang zur initialen Schwere der Hirnverletzung (PTA) auf. Es bestand jedoch nahezu kein Zusammenhang zwischen den von den Angehörigen berichteten Beeinträchtigungen des Patienten und der PTA (Brooks et al., 1986). 10-15 Jahre nach der Verletzung von Patienten stellten Veränderungen der Persönlichkeit und der Emotionalität noch immer die bedeutendsten Probleme für die Familien der Betroffenen dar (Thomsen, 1984). Das Ausmaß der Behinderung des Patienten stand auch in einer Untersuchung von McPherson,

Pentland und McNaughton (2000) in Zusammenhang mit den subjektiv wahrgenommenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Angehörigen. Die Schwere der Verletzung wies hingegen keinen Zusammenhang zur wahrgenommenen Gesundheit oder Belastung der Angehörigen auf (McPherson et al., 2000).

Marsh et al. (2002) befragten 52 primäre Bezugspersonen (in 88% der Fälle Frauen) von Patienten mit schwerem SHT sechs Monate und ein Jahr nach dem Ereignis. Zum ersten Befragungszeitpunkt waren Abhängigkeit des Patienten, unverantwortliches Verhalten und Aggression ursächlich für die größte Belastung der Angehörigen, zum zweiten Befragungszeitpunkt waren es Ärger, Stimmungswechsel und Interesselosigkeit. Veränderungen in ihrer Lebensführung durch die Betreuung des erkrankten Familienmitgliedes berichteten die meisten Bezugspersonen zu den beiden Zeitpunkten für die Bereiche „weniger Zeit für sich selbst haben“, „gesteigerte Ängstlichkeit“, „Schlafrhythmus“, „weniger Privatsphäre“, „finanzielle Situation“ und „Beziehungen“. Ein halbes Jahr nach der Verletzung nannten die Bezugspersonen am häufigsten verschiedene kognitive und emotionale Beeinträchtigungen des Patienten.

Wiederum ein halbes Jahr später wurden am häufigsten noch emotionale Beeinträchtigungen des Patienten beklagt (wie z.B. Ungeduld, Impulsivität, Empfindlichkeit, Motivationsverlust).

Das Ausmaß subjektiver Belastung veränderte sich über die Zeit nicht. Etwa ein Drittel der Bezugspersonen war zu beiden Zeitpunkten nach der Verletzung des Angehörigen von Angst oder Depression in klinisch relevantem Ausmaß betroffen. Für den größten Teil erwiesen sich die Symptome als stabil. Auch hinsichtlich ihrer sozialen Anpassung berichtete etwa ein Drittel der Befragten von einer Beeinträchtigung, welche jedoch ein Jahr nach der Verletzung rückläufig schien. Angst, Depression und soziale Anpassung wurden nicht durch Patientenmerkmale (körperliche, kognitive, emotionale, behaviorale Verfassung und soziale Leistungsfähigkeit) vorhergesagt. Für die subjektive Belastung der Bezugspersonen hingegen erwiesen sich ein Jahr nach der Verletzung das Ausmaß der (von den Bezugspersonen berichteten) Verhaltensdefiziten der Patienten und deren soziale Kontakte als unabhängige Prädiktoren. Je stärker die Verhaltensdefizite und je geringer die sozialen Kontakte der Patienten, desto höher die subjektive Belastung der Angehörigen.

Obwohl einige Studien die Belastung von Familienmitgliedern nach einer Gehirnverletzung eines nahen Verwandten erfasst haben, haben sich nur wenige der Untersuchung affektiver Beschwerden von Krankheitswert in dieser Population gewidmet (Gillen et al., 1998). Fast die Hälfte der Bezugspersonen von Patienten mit SHT wiesen 1,5 bis 60 Monate nach der Verletzung klinisch auffällige Anzeichen emotionaler Belastung auf (Kreutzer, Gervasio &

Camplair, 1994a). Douglas und Spellacy (2000) berichteten, dass Angehörige nach einer Hirnverletzung eines Familienmitgliedes auch nach 3,5 bis 10 Jahren häufig unter depressiven

Symptomen von Krankheitswert litten. Ausgeprägte Beeinträchtigungen des Patienten und eine als nicht ausreichend wahrgenommene soziale Unterstützung erwiesen sich als unabhängige Prädiktoren der depressiven Symptomatik.

Gillen et al. (1998) untersuchten 59 Mütter und Ehefrauen von Patienten mit mittelgradigen und schweren SHT. Seit der Hospitalisierung der Patienten waren zum ersten Befragungszeitpunkt höchstens vier Jahre vergangen. Zum ersten Befragungszeitpunkt wurde mit Hilfe telefonischer Interviews und von Selbstauskunftsbögen bei 47% der Frauen eine Depressive Episode diagnostiziert, wobei 31% der Befragten zum ersten mal in ihrem Leben eine solche erlebten. Ein halbes Jahr später erfüllten noch 65% der zuvor Depressiven die Kriterien, und fünf der Frauen, die zum ersten Befragungszeitpunkt nicht als depressiv eingeschätzt wurden, wurden es zum zweiten. Patientenmerkmale wie die Schwere der Verletzung oder die Länge der akuten Krankenhausbehandlung wiesen zu keinem Zeitpunkt einen Zusammenhang zu den depressiven Symptomen der Angehörigen auf. Lediglich die Variable „Depression in der Vorgeschichte“ konnte das Vorhandensein einer depressiven Episode zu beiden Zeitpunkten vorhersagen.

2.3 Hypothesen

Vor dem Hintergrund der dargestellten Forschungslage werden folgende Hypothesen zur psychischen Belastung bei Eltern von Patienten mit schizophrenen Störungen und zur psychischen Belastung bei Eltern von SHT-Patienten postuliert:

1. Es wird angenommen, dass Eltern von Patienten mit schizophrenen Störungen psychisch stärker beeinträchtigt sind als Personen der Allgemeinbevölkerung, da die Betreuung eines Kindes mit einer schizophrenen oder schizoaffektiven Störung häufig mit beträchtlichen Einbußen der Erfüllung eigener Bedürfnisse, mit Sorgen, Schuldgefühlen und Stigmatisierungsängsten verbunden ist.

2. Da die Betreuung eines Menschen nach einem SHT für die Eltern ebenfalls zu einer Schmälerung der eigenen sozialen und Freizeitaktivitäten und der Einschränkungen der Alltagsroutine führen kann, wird angenommen, dass Eltern von SHT-Patienten im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung ebenfalls unter stärkeren psychischen Beeinträchtigungen leiden. Es wird ein positiver Zusammenhang zwischen der initialen Schwere der Verletzung des Kindes bzw. der Dauer der Erkrankung und der psychischen Belastung der Eltern erwartet.

3. Trotz der an manchen Stellen ähnlich anmutenden Veränderungen und Einschränkungen des Kindes in Folge der jeweiligen Erkrankung wird die Hypothese aufgestellt, dass Eltern von Patienten mit schizophrenen Störungen – aufgrund von wahrscheinlicheren Schuldgefühlen, Stigmaerfahrungen, einer schlechteren beruflichen und sozialen Leistungsfähigkeit des erkrankten Kindes – eine stärkere psychische Belastung aufweisen als Eltern, deren Kind ein SHT erlitten hat.

Für die Eltern der Patienten mit schizophrenen Störungen werden außerdem folgende weitere Hypothesen postuliert:

4. Es wird erwartet, dass Mütter von Patienten mit schizophrenen Störungen psychisch stärker belastet sind als Väter, da sie häufiger mit vielfältigen Rollenanforderungen konfrontiert sind und in vielen Fällen die engste Bezugsperson der Patienten darstellen.

5. Jüngere Eltern haben in den meisten Fällen weniger Erfahrung im Umgang mit den Symptomen der Erkrankung ihres Kindes und fühlen sich diesbezüglich womöglich häufiger hilflos und überfordert. Daher wird die Annahme aufgestellt, dass jüngere Eltern von Patienten mit schizophrenen Psychosen psychisch stärker beeinträchtigt sind als ältere.

6. Da zu Beginn der ersten Behandlung die gravierenden sozialen und interaktionellen Beeinträchtigungen durch die Erkrankung bereits eingetreten sind und Eltern ersthospitalisierter Patienten mit schizophrenen Störungen zum ersten Mal mit der Diagnose einer schizophrenen Störung und deren möglichen Konsequenzen konfrontiert sind, wird die Annahme aufgestellt, dass Eltern von ersthospitalisierten Patienten mit schizophrenen Störungen psychisch stärker belastet sind als Eltern von mehrfach hospitalisierten Patienten.

7. Es besteht ein positiver Zusammenhang zwischen der Schwere der Erkrankung des Kindes bzw. zwischen komorbidem Substanzgebrauch des erkrankten Kindes und der psychischen Belastung der Eltern.

8. Da Eltern womöglich unter stärkeren Verlustgefühlen, Ängsten und Sorgen um das erkrankte Kind leiden, wenn sie nicht mit diesem zusammen leben, wird davon ausgegangen, dass die psychische Belastung von Eltern, die vor dem Klinikaufenthalt nicht in einem gemeinsam Haushalt mit dem Patienten lebten, ausgeprägter ist als die psychische Belastung der Eltern, deren erkranktes Kind im selben Haushalt lebte.

9. Die aktuelle psychische Belastung der Eltern lässt sich aus den Prädiktoren Geschlecht, Alter und Wohnsituation der Eltern, Krankheitsschwere und –dauer und Substanzkonsum des erkrankten Kindes vorhersagen.

3. Methoden

Von September 2002 bis September 2003 wurden auf der Forschungsstation der Universität Konstanz am Zentrum für Psychiatrie Reichenau (spezialisierte Weiterbehandlungsstation für jüngere Patienten mit psychotischen Störungen) und von Mai 2003 bis Juli 2004 in den Kliniken Schmieder (Neurologisches Fach- und Rehabilitationskrankenhaus) Eltern hinsichtlich eigener psychischer Beschwerden und Symptomen von Krankheitswert zum Zeitpunkt des aktuellen Klinikaufenthaltes ihres erkrankten Kindes und bezüglich der Vergangenheit befragt. Während der o.g. Zeiträume konnten 82 Eltern von Patienten mit schizophrenen und schizoaffektiven Störungen und 25 Eltern von SHT-Patienten befragt werden.

In die Untersuchung einbezogen wurden ausschließlich die biologischen Eltern und keine anderen Verwandten. Die Interviews wurden in den Räumen des jeweiligen Krankenhauses durchgeführt. Die Elternteile wurden getrennt voneinander und bis auf eine Ausnahme jeweils von derselben Person befragt. Konnten beide Elternteile befragt werden, so wurden die Informationen von Mutter und Vater wenn möglich am selben Tag erhoben. Die Befragungen der Eltern der Patienten mit schizophrenen Störungen wurden von der Autorin selbst, die Befragungen der Eltern der SHT-Patienten von einer klinisch erfahrenen Studentin der Psychologie im Rahmen ihrer Diplomarbeit durchgeführt. Im folgenden werden zunächst die angewandten Verfahren und im weiteren die Stichproben beschrieben.