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Deutungslernen am Beispiel Kursmaßnahme Tagesmütter

Im Dokument Was kann Bildung bewirken? (Seite 43-46)

Überlegungen zum Deutungslernen können an einem empirischen Beispiel einer Kursmaßnahme der Volkshochschule illustriert werden. Dabei handelt es sich um ein Seminar für die Ausbildung zur Tagesmutter. Große Passagen der gesamten Maßnahme Tagesmütter wurden mitgeschnitten und transkribiert. Ein Teil des Lerninhaltes war die Thematik der Selbstsicherheit. Mehrere Teilnehmerinnen wurden dazu befragt. Teilnehmerin A, eine Hausfrau und Mutter von bereits erwachsenen Kindern, nutzte diesen Lerninhalt zur Weiterbearbeitung ihrer eigenen Identitäts- und Orientierungsfragen. In diesem Zusammenhang stellt sie sich selbst die Frage, ob sie zu alt für einen beruflichen Wiedereinstieg ist. In der Kurssequenz, wo es um das Thema Selbstsicherheit geht, kommt sie auf die ausweglose Situation von Arbeitslosen zu sprechen, die unterschwellig mit ihrer eigenen Situation als Arbeitslose zu tun hat. Hier wird sichtbar wie sehr sie Arbeitslose bedauert, die weder über einen Tagesrhythmus noch über eine sinnhafte Tätigkeit verfügen. Es wird deutlich, dass Teilnehmerin A, die ihr eigenes Leben als unausgefüllt und damit als nicht in Ordnung empfindet voller Angst ist. Sie erhofft sich durch eine neue Arbeit einen Weg zu finden, um ihre Unzufriedenheit zu überwinden (vgl. Arnold 1996:

726f.).

Eine weitere Teilnehmerin nutzte die Inhalte der Kursmaßnahme für die Erarbeitung der eigenen Lernprojekte. Teilnehmerin C möchte authentisch leben und sich anderen gegenüber besser abgrenzen können. Sie nutzte die Kursmaßnahme um sich zu erproben, auszuloten und zudem gemeinsam besprechen wie ihr neues Verhalten ankommt. Der Eindruck entsteht, dass sich Teilnehmerin C sich mit ihrer abgrenzenden Entschiedenheit nach außen hin schützen will um nicht wieder verletzt zu werden (vgl. ebd.: 727).

Es kommt zu anregenden Diskussionen zwischen den Kursteilnehmerinnen und der Kursleiterin. Aufschlussreich ist, wie die Teilnehmerinnen die Fragen sowie Anregungen der Kursleiterin kommentieren und gegenseitig auf die Kommentare der anderen Teilnehmerinnen und den Aussagen der Leiterin Bezug nehmen. Die Kursleiterin gibt klar zu verstehen, je mehr man zu sich selbst steht, desto toleranter kann man auch zu den anderen sein. Wenn jemand versucht es allen recht zu machen, dann erwartet er von den anderen automatisch das gleiche Verhalten. Die

Kursleiterin steuert dabei mit Zurückhaltung die laufende Diskussion durch Nachfragen und In-Frage-Stellen mittels Ja-Aber-Didaktik. Durch Zusätze, Zusammenfassungen und Strukturierung erreicht sie, dass die Kursteilnehmerinnen mit ihren eigenen Wortmeldungen und Deutungen an sich arbeiten. Obendrein gelingt der Kursleiterin die Thematik der Teilnehmerin C aufzugreifen indem sie eine weitere Perspektive einbringt, den Gedanken, dass die eigene Unabhängigkeit in selbst bestimmten Beziehungen die Voraussetzung dafür sein kann, dem anderen gegenüber toleranter zu sein. Diese empirischen Beispiele zeigen, dass sich PädagogInnen der Erwachsenenbildung aufgrund der Deutungsgebundenheit des Erwachsenenlernens nicht nur offiziellen Lernthemen widmen sollen, sondern Lerngegebenheiten schaffen sollen, wo mitgebrachte Lernprojekte der KursteilnehmerInnen rekonstruiert werden können (vgl. Arnold 1996: 728).

Die Erwachsenenbildung sollte es sich zur Aufgabe machen den Lernenden unterschiedliche Sichtweisen aufzuzeigen und vom vorwiegend inhaltlichen motivierten Blick loszulassen. Somit erhalten die lernenden Erwachsenen die Chance mit ihren Befürchtungen, inhaltlichen Kurserwartungen, ihren bisherigen negativen und positiven Lebenserfahrungen mit ihren Lebensweltthemen ganzheitlicher gesehen zu werden. Deshalb geht es nicht nur um die Weitergabe von differenzierterem Wissen, sondern um die Unterstützung von Selbstaufklärungsprozessen. Die Lernsituationen sollten dementsprechend gestaltet sein, damit ungünstige Deutungsmuster reflektiert und transformiert werden können (vgl. Arnold/Schüßler 2015: 71ff.)

PädagogInnen in der Erwachsenenbildung sollen beachten, dass die Kursteilnehmenden seine/ihre eigenen Wünsche, Interessen, Ängste sowie eine individuelle, einzigartige Lebensgeschichte mit unverwechselbaren Erinnerungen und Erfahrungen, die Schul- und Bildungszeit betreffend, haben. Jede/r einzelne kommt mit einem biografischen Rucksack und mit einer besonderen Wahrnehmung in den Kurs. Der/die ErwachsenenbildnerIn sollte sich darüber bewusst sein, dass die Kursteilnehmenden meistens bereits ein Vorwissen zum Kursinhalt verfügen und eine individuelle, emotional gesteuerte Einstellung dazu mitbringen. Sowie die Kursleitung als auch die Kursteilnehmenden nehmen eine andere Wirklichkeit wahr,

was sich unterschiedlich auf Lernergebnisse und Kurseindrücke auswirkt (vgl.

Nuissl/Siebert 2013: 132).

In Kursmaßnahmen können Erwachsene auf neue, ungewohnte, andere Sichtweisen stoßen, die sich oftmals erst später gegen die eigenen traditionellen Deutungen durchsetzen. Hier wird bildhaft von einem Sleeper- oder einem Badewanneneffekt gesprochen. Beim Sleepereffekt wird der Lerninhalt erst nach Seminarende oder in einer späteren Lebensphase bedeutungsvoll und interessant, es kommt zu einer verzögerten Wirkung eines Themas mit auftretenden Aha-Erlebnissen. Hingegen wirkt der Badewanneneffekt genau umgekehrt. Während des Seminars ist man von einem neuen Thema begeistert. Die Begeisterung lässt jedoch nach dem Seminar nach und die ehemaligen, gewohnten Denk- und Deutungsmuster setzten sich wieder durch. Beim Bumerang-Effekt kann der emotionale Widerstand gegen ein Thema oder eine andere Sichtweise beträchtlich sein. Der/die Kursleitende verursacht eine psychohygienische Abwehr und folglich beharrt der Kursteilnehmende aus Trotz auf seinem Standpunkt. Bildungsprozesse geschehen nicht unbedingt linear, sie können zirkulär, interdependent und vielschichtig verlaufen (vgl. Siebert 2011: 82f.).

So werden Lernprozesse von unterschiedlicher Faktoren bestimmt, dazu zählen die Motiviertheit und Glaubhaftigkeit des Lehrenden, die individuellen kognitiven und emotionalen Lernvoraussetzungen der Lernenden, die allgemeine Motiviertheit und Lernbereitschaft der Lernenden und die spezielle Motiviertheit für einen bestimmten Stoff, Vorwissen und der aktuelle emotionale Zustand sowie der spezifische Lehr- und Lernkontext. So haben Emotions- und Neuropsychologen entdeckt, dass gleich zu Beginn einer Begegnung die Glaubhaftigkeit des Gegenübers beurteilt wird. So wird innerhalb einer Sekunde unbewusst eine Analyse des Gesichtsausdrucks (im Besonderen die Stellung der Augen und des Mundes), der Stimme und der Körperhaltung gemacht. Ob der Lehrende den vorgetragenen Lehrinhalt beherrscht, motiviert ist und sich mit dem Inhalt identifiziert, wird von den Lernenden ebenfalls unbewusst wahrgenommen (vgl. Roth 2004: 500f.).

Sämtliche Bemühungen des Lehrens sind vergebens, wenn die Lernenden im vorgetragenen Stoff keinen Sinn sehen. Auch Strategien, Motivation zu erzeugen,

sind höchstens kurzfristig erfolgreich. Wenn die Lernenden die Lernthematiken nicht mit ihrer eigenen Welt verbinden können, wird höchstens defensiv gelernt und es entsteht bestenfalls nur träges Wissen (vgl. Faulstich 2013: 201).

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