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Analyse der Ausgangssituation im Mai 2003

Im Dokument Berufliche Rehabilitation (Seite 157-161)

10 Anhang: Materialien und Dokumente

10.1 Statistische Begriffe zur Evaluation

10.3.2 Analyse der Ausgangssituation im Mai 2003

10.3.2.1 Ausgangssituation im Lernbüro am BFW im Mai 2003

Das Berufsförderungswerk Hamburg bildet im Rahmen des KEm-Projektes behinderte Erwachsene zum Bürokaufmann aus. Das Projekt beginnt Anfang 2002, das erste Se-mester in der Fachausbildung fängt für die Auszubildenden jedoch erst im Juli 2002 an.

Die Ausbildung umfasst insgesamt 4 Semester. Dabei liegen die Schwerpunkte der Ausbildung auf einem handlungsorientierten Konzept mit Schwerpunkten in E-business und EU-Kompetenzen. Das KEm Team hat im März 2003 in dem Arbeitspapier „Krite-rien für die Gestaltung von Lernsituationen im Rahmen des KEM-Projektes“ Qualitäts-merkmale für die Ausbildung festgelegt. Dabei werden verschiedene Ansprüche an den Unterricht, die Modellierung des Lernbüros und die Verknüpfung des Lernbüros mit dem begleitenden Unterricht gestellt. Das KEm-Projekt setzt grundsätzlich für den hand-lungsorientierten Unterricht problemorientiertes Lernen anhand von praxisrelevanten Aufgaben voraus. Die verwendeten Ausgangssituationen sind zu situieren und komplex zu gestalten. Die Lernfirma soll so modelliert sein, dass sie es den Schülern ermöglicht, maßgebliche Lerninhalte zu begreifen. Ausgegangen wird dabei von den Geschäftspro-zessen. Diese sollen erst ungestört und später dann mit Störungen ablaufen. Der Bezug zur Wertschöpfungsebene, dem Rechnungswesen mit Statistik und Kosten- und Leis-tungsrechnung, soll ständig mit einbezogen werden. In allen Lernfeldern soll außerdem ein volkswirtschaftlicher Bezug hergestellt werden. In späterem Verlauf soll dann der Großhandel durch eine Produktion ergänzt werden (vgl. TRAMM et al. 2003, S. 1 ff.).

Die aktuelle Situation im Lernbüro im Mai 2003 wird von Studenten der Universität Hamburg wie folgt aufgenommen (vgl. BINGE et al. 2003):

Die Firma, mit der das Lernbüro arbeitet, ist ein Fahrrad-Großhandel mit dem Namen

„PowerBikes GmbH“ mit Sitz in Hamburg-Farmsen. Dementsprechend steht der Handel mit Fahrrädern und Zubehör im Vordergrund der Aktivitäten. Die Teilnehmer durchlau-fen während des Projektes gruppenweise die verschiedenen Abteilungen Einkauf, Ver-kauf, Lager und Buchhaltung. In den jeweiligen Abteilungen arbeitet jeder „Durchgang“

an den gleichen Inhalten anhand verschiedener Geschäftsfälle. Die Verweildauer in den Abteilungen beträgt etwa sechs Wochen. In der Buchhaltung wird, im Gegensatz zu den anderen Abteilungen, arbeitsgleich gearbeitet. Die Lehrer übernehmen in Form einer Außensteuerung die Funktionen von Kunden und Lieferanten. Zum Zeitpunkt der Ist-Analyse ist eine ausreichende Versorgung der Teilnehmer mit Arbeitsaufträgen nicht gegeben. Einige Teilnehmer sind deutlich langsamer in der Abwicklung ihrer Aufgaben als andere. Definitiv entspricht das Bearbeitungstempo jedoch nicht dem in einem rea-len Unternehmen. Das „Tagesgeschäft“, Ein- und Verkäufe ausgerichtet am Lagerbe-stand, bildet die Grundlage der Aktivitäten. Darauf aufbauend werden kaufmännische Probleme in den Prozess mit eingebunden: „Der Fokus zu Beginn der jeweiligen Abtei-lungsphase liegt zunächst auf dem sogenannten „Tagesgeschäft“, in dem Ein- und Ver-kaufsvorgänge unter Berücksichtigung des Lagerbestandes verstärkt durchgeführt wer-den. Weiterführend werden dann kaufmännische Probleme in den Prozess eingefloch-ten, bearbeitet und auch besprochen (BINGE et al. 2003, S. 5).“

Das Rechnungswesen ist zum Zeitpunkt der Ist-Analyse arbeitsgleich organisiert. Ar-beitsteilige Buchungen sind aufgrund der geringen Anzahl der Belege von den anderen Abteilungen nicht möglich. In der Buchhaltung wird zunächst das Vorjahr aufgearbeitet und anschließend, wenn es zeitlich möglich ist, das aktuelle Geschäftsjahr. Problema-tisch ist die Buchung komplexer Buchungssätze, da die dazugehörigen Belege von den anderen Gruppen erst gegen Ende einer Sequenz erstellt werden, und folglich die erste Gruppe im Rechnungswesen diese erst gegen Ende ihrer „Buchhaltungsphase“ erhal-ten kann: Es kommt „(...) dazu, dass die erste Gruppe nicht genügend Belege aus den anderen Abteilungen bekommt und von außen neue Belege eingespielt werden müssen (BINGE et al. 2003, S. 18).“ Der Komplexitätsgrad des Rechnungswesens lässt sich anhand der Bilanz und GuV feststellen:

Bilanz zum 31.12.2002 PowerBikes GmbH

B. Umlaufvermögen A. Eigenkapital

I. Vorräte 151.522,20 I. Gezeichnetes Kapital 10.000,00

II. Forderungen II.Jahresüberschuss/

-fehlbetrag 106.685,91

Forderungen aus Lieferungen

und Leistungen 193.893,40 Summe Eigenkapital 116.685,91

C. Verbindlichkeiten

III. Schecks / Kasse / Guthaben 1.Verbindlichkeiten aus

Liefe-rungen und Leistungen 295.485,64 Guthaben Kreditinstitute 59.581,80 2. sonstige Verbindlichkeiten 74.339,43

Summe Verbindlichkeiten 288.311,79

Summe Aktiva 404.997,70 Summe Passiva 404.997,70

Abbildung 1: Bilanz zum 31.12.2003 (vgl. FISCHER 2003)

Aus der Bilanz wird ersichtlich, dass das Rechnungswesen sehr unvollständig, und da-mit unrealistisch, abgebildet ist. Es existieren kein Anlagevermögen, keine langfristigen Verbindlichkeiten und kein Kassenbestand. Auch die Höhe des gezeichneten Kapitals beträgt nur 10.000 Euro. Dies bedeutet z. B., dass das Unternehmen keine Gebäude hat und keine Geschäftsräume. Auch wird nur per Bank bezahlt, da kein Kassenbe-stand vorhanden ist. Die Modellierungen harmonieren nicht mit der Geschichte des Un-ternehmens und der bereits bestehenden Rahmendaten. Zudem ist bei einer GmbH ge-setzlich ein Stammkapital von mindestens 25.000,00 Euro vorgeschrieben. Die GuV lie-fert folgendes Bild:

Gewinn- und Verlustrechnung vom 1.9.2002 bis 31.12.2002 PowerBike GmbH

1. Umsatzerlöse 208.681,05

2. Materialaufwand 103.206,50

3. Ergebnis gewöhnlicher Geschäftstätigkeit 105.474,55

4. außerordentliche Erträge 1.211,36

Jahresüberschuss /-fehlbetrag 106.685,91

Abbildung 2: Gewinn- und Verlustrechnung vom 1. September 2002 bis 31. Dezember 2002 (vgl. FISCHER 2003)

In der Buchhaltung werden ausschließlich Wareneinkäufe und Warenverkäufe gebucht, teilweise unter Berücksichtigung von Skonti, Rabatten oder Boni. Weitere Aufwendun-gen und Erträge fehlen. Den Schülern ist es also beispielsweise nicht möglich, Schluss-folgerungen über den Zusammenhang von Personalaufwendungen und den Erfolg der Unternehmung zu ziehen. Die gebuchten außerordentlichen Erträge aus Transport sind unlogisch, da die Firma über keinen Fuhrpark verfügt, aber auch keine Eingangsrech-nungen von Spediteuren existieren.

Jan Fischer führt die Modellierung des Rechnungswesens weiter und stellt einen kom-plexeren Jahresabschluss für 2002 auf (vgl. FISCHER 2003). Seine Modellierung ist die Grundlage für die Weiterentwicklung der Story. Auf die Modellierung der Story, unter Berücksichtigung der Vorgaben des Rechnungswesens und des Berufsförderungswer-kes, wird im Kapitel 10.4.4 näher eingegangen.

Zum Zeitpunkt der Ist-Analyse befindet sich das Projekt „KEm“ im zweiten Semester der Fachausbildung. Neben der Bilanz und der GuV existieren bereits Modellierungen zur Story und zu den Rahmendaten des Unternehmens. Das Lernbüro beginnt im Juli 2002 mit einem Franchise-Unternehmen. Diese Idee findet jedoch bei einigen Teilnehmern und Teammitgliedern keinen Anklang und wird wieder aufgegeben. Im Mai 2003 sind folgende Unterlagen zur Modellierung vorhanden: Gesellschaftsvertrag, Geschichte des Unternehmens und einer der Filialen und die Daten des Rechnungswesens (vgl. FI-SCHER 2003). Die Lernbüroarbeit ist zu der Zeit weit fortgeschritten.

Der Gesellschaftsvertrag der PowerBikes vor der Modellierung enthält als Gesellschaf-ter die Mitglieder des KEm-Teams. Dies stimmt nicht mit der Modellierung der Story ü-berein, da dort Familie Henningsen genannt ist. Auch das Stammkapital entspricht mit 100.000 Euro nicht den Modellierungen des Rechnungswesens. Dort hätte dies berück-sichtigt werden müssen. Der Gesellschaftsvertrag wird im Jahr 2002 geschlossen. Dies bedeutet aber auch, dass die PowerBikes keine „Geschichte“ besitzt, welches wieder-um der modellierten Geschichte grundlegend widerspricht.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass viele Modellierungen zum Lernbüro exis-tieren, diese aber nicht stimmig sind und daher kein Gesamtbild liefern. Die Frage ist, ob dieser „Zustand“ ausreichend für die Ausbildung von Bürokaufleuten ist bzw. ob die PowerBikes GbmH den Schülern eine adäquate Lernumgebung bietet. Diese Frage wird im folgenden Kapitel erörtert.

10.3.2.2 Bewertung der Ausgangssituation

Die wissenschaftliche Argumentation hebt das Lernen mit Hilfen einer Lernfirma als ei-ne Chance hervor, den traditioei-nellen Dualismus im Denken und Handeln (vgl. TRAMM 1994) zu überwinden. Dies beruht auf der Annahme, dass Lernfirmen mehr bieten als die Möglichkeit, systematisches Wissen mit der Praxis der Sachbearbeiterperspektive zu verbinden. Im Gegenteil, sie ermöglichen den Schülern das Begreifen von betriebs-wirtschaftlichen oder volksbetriebs-wirtschaftlichen Prozessen und Strukturen durch ihr komple-xes Handlungs- und Erfahrungsfeld. Der Grad in dem dies möglich wird, hängt aller-dings maßgeblich von der Qualität des Lernbüros ab (vgl. TRAMM 2003, S. 9). Diese bestimmt sich unter anderem durch folgende Kriterien:

Das Modellunternehmen sollte eine praxisbezogene und wissenschaftsbezogene Validi-tät aufweisen. D. h. das Modellunternehmen muss in der wirtschaftlichen RealiValidi-tät wie-derfindbar und einordbar sein. Dabei sollte es nicht nur auf kaufmännische Tätigkeiten ausgerichtet sein, sondern muss die Konzeption des gesamten Unternehmens darstel-len. Theoretische, betriebswirtschaftliche Probleme sollten sich anhand der Unterneh-mensdaten nachvollziehen bzw. erarbeiten lassen. Dabei muss die gesamte Konzeption des Unternehmens jedoch vorrangig auf die Lernziele abgestimmt werden, damit die Schüler relevante Inhalte anhand der Firma lernen können. Das System des Modells muss den Schülern erlauben eigene Erfahrungen zu machen, aus denen sie schlussfol-gern können. Dies ist nur in einem Unternehmen möglich, in dem die Schüler einen Handlungsspielraum haben, der über die kaufmännische Sachbearbeitertätigkeit hi-nausgeht. Weiterhin besteht die Forderung, das situiert erlernte Wissen mit der wissen-schaftsbezogenen Systematik zu verbinden und somit Wissen zu reflektieren und zu systematisieren. Dieser Bereich hängt jedoch auch weitgehend von der Unterrichtsges-taltung durch die Lehrenden ab (vgl. TRAMM 1996, S. 76 f., TRAMM 2003, S. 9 ff.).

Tramm hebt das Lernen im und am Modell hervor. Im Modell lernen die Schüler aus der Sicht des Mitarbeiters und bauen ihr bereits vorhandenes Wissen aus. Beim Lernen am Modell wird das Modell selbst jedoch zum Thema und ermöglicht den Schülern den Blick aus der Vogelperspektive. Dies hilft den Schülern beim Systematisieren und dem Transfer von Wissen (vgl. TRAMM 2003, S. 11).

Die PowerBikes GmbH mit dem Stand vom Mai 2003 kann die o. g. Kriterien eines Lernbüros nicht erfüllen. Die teilweise fehlende oder unstimmige Datenstruktur verhin-dert dies. Das Unternehmen lässt sich zwar (nach einigem Suchen) in der Realität wie-derfinden, es bildet jedoch kein vollständiges Unternehmen ab. Es fehlen neben der Wertebene z. B. eine Unternehmenskultur; ein Leitbild. Aufgrund der fehlenden Daten im Rechnungswesen können theoretische, betriebswirtschaftliche Probleme anhand der PowerBikes nicht nachvollzogen werden. Die PowerBikes ermöglicht lediglich ein Ler-nen aus der Sachbearbeiterperspektive. Im Rechnungswesen ist diese Perspektive al-lerdings durch die fehlenden Daten nicht realistisch. Diese Tatsachen verhindern auch eine weitere Systematisierung des „im Modell erlernten“ durch „Lernen am Modell“.

Aus der Darstellung der Ausgangssituation ist ersichtlich, dass das Lernbüro des KEm-Projektes nicht den eigenen Ansprüchen genügt und auch nicht den Kriterien eines Lernbüros aus wissenschaftlicher Sicht. Kurzum: Die Modellierung der PowerBikes bil-det nicht genügend Komplexität ab. Geschäftsprozesse und Wertschöpfungsprozesse sind im Unternehmen nicht stimmig bzw. gar nicht abgebildet. In der PowerBikes wer-den die Vorgänge in einem Unternehmen nicht realistisch dargestellt. Daher ermöglicht die Lernfirma den Schülern nicht das Begreifen der notwendigen Strukturen, Prozesse und Phänomene.

Der Ist-Zustand vom Mai 2003 bzw. die Rahmendaten und das Rechnungswesen im Projekt sind im Verlauf des Projektes nicht wesentlich verändert worden. Dies macht die Dringlichkeit einer Neu-Modellierung deutlich. Im Projektseminar „Praxisnahe Modellie-rung ökonomischer Systeme in kaufmännischen Curricula“ im Wintersemester 2003/04 entsteht daher die Aufgabe, die Geschichte und die Rahmendaten neu zu modellieren.

Diese Aufgabe ist Hauptgegenstand der vorliegenden Arbeit. Veränderungen, die sich durch Modellierungen des fortlaufenden Lernbüro-Alltages bzw. des nach dem zweiten Semester folgenden Personal-Projektes ergeben, werden mit in die neue Konzeption einbezogen. Die theoretischen Ansätze, die im folgenden Kapitel betrachtet werden,

sollen bei der Modellierung sowohl Anhaltspunkte und Ideen, als auch Begründungen bzw. Rechtfertigungen für die Situierung liefern.

Im Dokument Berufliche Rehabilitation (Seite 157-161)