DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Z
ur Zeit wird innerärztlich Stimmung gemacht; Te- nor: Wäre die Ärzteschaft wie ein Mann aufgestanden, wä- re das Gesundheits-Reformge- setz schon längst zurückgezogen worden; würde sie jetzt die Pa- tienten auf die Straße bringen, dann könnte das Gesetz noch verhindert werden. Zur Stim- mungsmache gehören auch Vor- würfe gegen „die Standesorga- nisationen": sie hätten sich allzu bereitwillig dem Gesetzesvorha- ben gebeugt. Die vollmundigen Redner spekulieren auf den in der Ärzteschaft sich ausbreiten- den Ärger. Tatsächlich kommt da viel zusammen: EBM und GOÄ, Angst vor der wachsen- den Konkurrenz und dem an- brechenden Verteilungskampf — und eben die „Gesundheits-Re- form" . Sündenböcke werden gesucht. Nachdem Blüm und Co. sich als stur erwiesen haben, kommen nun die dran, die bes-Gesundheits-Reform
Sündenböcke
ser zu fassen sind: die Standes- funktionäre, die eigenen Leute.
Schließlich wird zur Zeit — das sei bei den Aufrufen zum Ra- batz nicht vergessen — landauf, landab in den ärztlichen Selbst- verwaltungen gewählt.
Hätten die „Funktionäre"
wirklich zum Aufstand blasen sollen?
Man sollte sich nichts vor- machen. Die Ärzte bestimmen nicht die Gesundheitspolitik.
Beim EBM haben sie sich mit den Kassen zu einigen, bei der GOÄ letzten Endes das Votum der Bundesregierung zu schluk- ken. Unterstützung von außen gibt es in beiden Fällen nicht.
Und beim GRG? Die Ärzte kommen noch gut weg, Ärz-
teprotest ist eigensüchtige Inter- essenäußerung, lautet heute wie zu den Zeiten der soziallibera- len Koalition die Bonner Propa- ganda. Sie wird geglaubt. Heute wie damals. Die Erfahrung von damals müßte eigentlich die Protestrufer schrecken. Bei den Kostendämpfungsgesetzen hatte die Ärzteschaft nämlich laut- stark protestiert. Erfolg: Null.
Ist es angesichts eines sol- chen Umfeldes nicht politisch klüger, die Grenzen der Ein- flußmöglichkeiten zu erkennen und durch geduldiges Verhan- deln das zu ändern, was möglich ist? Hier ist in Sachen Gesund- heits-Reform vieles geschehen, und hier kann auch wohl noch einiges während der jetzt lau- fenden parlamentarischen Etap- pen verbessert werden.
Rabatz mag die befriedigen, die in der Ärzteschaft auf Sün- denbock-Suche sind. In Bonn schreckt er niemanden. NJ
I
n den Augen vieler Bürger hat die Partei der Grünen in letzter Zeit den Eindruck ei- ner sich in Flügelkämpfen zer- fleischenden Bewegung abgege- ben. Standpunkte der Grünen zu Sachthemen gerieten in den Hintergrund. Selbst das „Leib- und Magenthema" Atomener- gie schien kampflos an die pro- fessionellen und der Öffentlich- keit weitgehend verborgenen Gremien der Bonner Regie- rungspolitiker und der Energie- unternehmer abgetreten worden zu sein.Doch zweieinhalb Jahre nach Tschernobyl haben die Grünen im Bundestag wieder ein atompolitisches Identifika- tions-Objekt gefunden: die be- vorstehende Novellierung der Strahlenschutzverordnung — Anlaß für ein Diskussionsforum im Bundeshaus.
Auf Initiative der Bundes- tagsabgeordneten Lilo Wollny, die aus der Anti-Gorleben-Be- wegung stammt, standen Fach- leute bereit, der (grünen) Öf- fentlichkeit aus medizinischer und juristischer Sicht die Beden-
Grünes Strahlungs-Forum
smChance vertan
ken gegen neue Grenzwert- Festlegungen der Regierung vorzutragen. Die Chance, an der Parteibasis Ansätze für ein neues Wir-Gefühl auf der Grundlage fundierter, gemein- sam erarbeiteter Kritik entste- hen zu lassen, war gegeben. Die Chance wurde vertan.
Schuld daran war einmal mehr das beinahe schon obliga- torische Organisations-Chaos der grünen Veranstalter. Gleich die ersten beiden Referenten durften ungestraft dreimal so lange reden, wie ihnen laut Ab- laufplan zugestanden hätte. Die konzeptlosen, ermüdenden Vorträge der Biologin Ulrike Fink, Hannover, und von Mario Schmidt vom Heidelberger In- stitut für Ernährung und Um- weltforschung, führten zum Ausfall anderer Programm- punkte und dazu, daß wesent- liche Beiträge wie der des Berli-
ner Rechtsanwalts Reiner Geu- len verstümmelt wurden. Geu- len, Sozius von Otto Schily, hat sich als Atomrechtler auch durch seine Unterstützung der Gegner des Brüters von Kalkar einen Namen gemacht. Warum er die Strahlenschutznovelle für verfassungswidrig hält, konnte nur noch in Stichworten abge- handelt werden. Daß auch nam- hafte Wissenschaftler wie Horst Kuni, Marburg, und Wolfgang Köhnlein, Münster, ihre Refe- rate kurzfristig umdisponieren mußten, bekam dem Forum ebensowenig wie der Wegfall je- der direkten Fragemöglichkeit der Zuhörer.
Fast zwangsläufig endete die ungleiche „Diskussion"
denn auch in einem Wirrwarr aus Bequerel, rem und Millisie- vert, fast unvermeidlich flüchte- ten die grünen Laien sich erneut in emotionale Dispute ange- sichts des abstrakten Bedro- hungs-Szenarios. Mit dem
dumpfen Unbehagen allein wird
im Bundestag allerdings keine Opposition zu machen sein.
Oliver Driesen
Dt. Ärztebl. 85, Heft 40, 6. Oktober 1988 (1) A-2701