• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Gesundheits- und sozialpolitische Vorstellungen der deutschen Ärzteschaft" (11.07.1974)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Gesundheits- und sozialpolitische Vorstellungen der deutschen Ärzteschaft" (11.07.1974)"

Copied!
11
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Bericht und Meinung

77. DEUTSCHER ÄRZTETAG

Die Intensität der gesundheitspoli- tischen Diskussion und die Flut an Programmen und Vorschlägen zur Veränderung oder Verbesserung unseres Gesundheitssystems erfor- dern es, sich auf die eigentlichen Aufgaben und Zielsetzungen von Gesundheits- und Sozialpolitik im Rahmen der Gesamtpolitik zu be- sinnen, sich die im menschlichen Wesen wurzelnden Verhaltenswei- sen vor Augen zu führen, Ursachen und Wirkungen zu erkennen und gedanklich zu trennen, da sonst zwangsläufig falsche Schlüsse die Folge von falschen Prämissen sind.

Dann nämlich besteht die Gefahr, daß auch durchaus wohlgemeinte Vorschläge keine Verbesserung, sondern das Gegenteil bewirken, mindestens aber die auch gerade von Ärzten angestrebte fortlaufen- de Anpassung der ärztlichen Ver- sorgung an den Fortschritt und den Entwicklungsstand der Medizin be- hindern oder unmöglich machen.

Es geht dabei nicht in erster Linie darum, zu jedem der in rascher Folge erscheinenden Vorschläge Stellung zu nehmen, sondern vor allem um die aus der Erfahrung der Ärzte bei ihrer täglichen Arbeit resultierende Formulierung von Prinzipien zu einer politischen Aus- sage.

In seinen Referaten zu diesem Ta- gesordnungspunkt hat Herr Wein- hold in München und hier in Berlin wichtige Grundsätze für die ärztli- che Berufsausübung und damit für

eine individuelle Beziehung des einzelnen Menschen zum Arzt dar- gestellt, die auch bei der Beach- tung der überindividuellen Aufga- ben des Arztes für das gesamte Volk für Staat und Gesellschaft gelten.

Die Tätigkeit des Arztes kann heu- te weniger denn je isoliert betrach- tet, sondern muß im Rahmen der sich wandelnden gesellschaftlichen Verhältnisse gesehen werden, da hier vielfältige Wechselwirkungen bestehen. Einflüsse aus der Verän- derung der Lebens- und Arbeits- bedingungen, der Wandlung vom Agrarvolk zum Industriestaat und die dadurch bedingten Verände- rungen von Familien- und Wohn- strukturen müssen ebenso beach- tet werden wie die Artikel 20 und 28 des Grundgesetzes, nach denen die Bundesrepublik Deutschland ein sozialer Rechtsstaat ist und kein Wohlfahrts- und Versorgungs- staat. Es ist zu berücksichtigen, daß wir uns nicht am Ende oder am Anfang, sondern mitten in einer andauernden Evolution befinden.

Es müssen also die in früheren Jahren entstandenen Gegebenhei- ten mit in die Betrachtungen einbe- zogen werden, da nicht die Mög- lichkeit besteht, in Deutschland völlig neu auf der grünen Wiese zu beginnen, es sei denn, man könnte ohne Rücksicht auf das in der Ver- gangenheit Erarbeitete zunächst diese grüne Wiese schaffen und damit fast dreißig Jahre nach

Kriegsende den damals von den Siegermächten schnell als unreali- stisch zu den Akten gelegten Mor- genthau-Plan doch noch in die Tat umsetzen.

Das bedeutet jedoch nicht, daß nun keinerlei Veränderungs- und Gestaltungmöglichkeiten bestehen.

Wie in vielen anderen Bereichen müssen auch im Gesundheitswe- sen überkommene Strukturen dar- aufhin untersucht werden, ob sie dem heutigen Erkenntnisstand noch angemessen sind und eine Weiterentwicklung nicht behindern, sondern erleichtern.

Moderne Krankenhausstrukturen Für die Struktur des ärztlichen Dienstes am Krankenhaus hat der Deutsche Ärztetag 1972 in Wester- land Leitsätze verabschiedet, die dieser Überlegung gerecht werden und eine zeitgemäße, wirksame Reform vorsehen. In diese Leitsät- ze wurden die vom Marburger Bund entwickelten Gedanken ein- gearbeitet. Diese Vorstellungen der Ärzteschaft haben inzwischen in den Empfehlungen der Deutschen Krankenhausgesellschaft für „Mo- derne Krankenhausstrukturen" ih- ren Niederschlag gefunden, die auf dem Krankenhaustag 1973 in Han- nover der Öffentlichkeit vorgelegt wurden.

Vor dem Deutschen Ärztetag in Westerland hob Herr Haenisch in seinem Referat als wichtigste Punkte der neuen Leitsätze hervor:

O Es werden drei Versorgungsstu- fen der Krankenhausfunktion zu- grunde gelegt.

• Die Abteilungen der einzelnen Fachgebiete bilden eine geschlos- sene organische Einheit und wer- den entsprechend ihrer Größe und Bettenzahl untergliedert.

*) Bericht über Diskussion und Beschlüs- se zu diesem Tagesordnungspunkt („Das Blaue Papier") im vorderen Text- teil dieses Heftes; Referat von Dr.

Weinhold auf Seite 2184 ff.

Gesundheits- und

sozialpolitische Vorstellungen der deutschen Ärzteschaft

Zweites Referat zum Tagesordnungspunkt 2 der Plenarsitzung des 77. Deutschen Ärztetages am 26. Juni 1974 in Berlin

Karsten Vilmar

2192 Heft 28 vom 11. Juli 1974 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

(2)

8

Es werden zwei Gruppen von Krankenhausärzten gebildet. die Fachgruppenärzte und die Sta- tionsärzte; erstere müssen Fach- ärzte sein, zu den letzteren gehö- ren zum Beispiel die Ärzte in Wei- terbildung.

8

Es wird eine kollegiale Zusam- menarbeit mit funktionaler Leitung gefordert.

0

Die freiberufliche Tätigkeit im Krankenhaus wird ausgeweitet durch vermehrte Arbeitsmöglich- keiten für Belegärzte."

Für die ärztliche Versorgung der Patienten im Krankenhaus sind das 1972 in Kraft getretene Kranken- hausfinanzierungsgesetz und die seit dem 1. Januar 1974 geltende Bundespflegesatzverordnung von Bedeutung. Die Zeit staatlich ver- ordneter Defizite im Krankenhaus wurde damit beendet, Finanzierung und Planung auf eine neue Grund- lage gestellt. Eine wichtige Voraus- setzung für ein leistungsfähiges Krankenhauswesen ist damit zwar geschaffen worden; dennoch blei- ben viele Fragen offen, bis das Ziel des Krankenhausfinanzierungsge- setzes erreicht ist, eine bedarfsge- rechte Versorgung zu gewährlei- sten. Denn dazu gehört zweifellos mehr als die Regelung von Finan- zierungsfragen, so wichtig diese auch sein mögen. Um das Kran- kenhaussystem bedarfsgerecht gliedern zu können, muß zunächst Nachfrage und Bedarf durch Ana- lyse ermittelt werden. Eine solche Analyse muß auf wissenschaftlichen Kriterien beruhen und mindestens folgende Punkte berücksichtigen.

...,. den heutigen Bedarf;

...,. den wegen der Entwicklung der Medizin in Zukunft erforderlichen Bedarf;

...,. den durch Gesundheitserzie- hung und -vorsorge ausgelösten Bedarf;

...,. den sich aus Änderungen der rechtlichen, insbesondere sozial-

versicherungsrechtlichen Voraus- setzungen ergebenden Bedarf.

Eine derartige Analyse und die dar- auf folgende Planung muß jedoch unter Beteiligung des ärztlichen Sachverstandes erfolgen um Fehl- entscheidungen zu vermeiden. Die Vorschriften des Krankenhausfi- nanzierungsgesetzes, aber auch vieler Landeskrankenhausgesetze oder -gesetzentwürte, über die Be- teiligung von Ärzten oder ihrer Or- ganisationen an der Planung sind leider völlig unzureichend.

Grundlage für eine zweckentspre- chende Krankenhausplanung müs- sen weiter Bevölkerungsdichte, Verkehrsströme sowie Morbiditäts- und Mortalitäts-Statistiken sein.

Die Spezialisierung der Medizin ist zu berücksichtigen, wenn man ent- scheiden will, wo und welche Funktionsbereiche in welcher Grö- ße nötig sind. Auch die Möglichkei- ten der ambulanten ärztlichen Ver- sorgung durch niedergelassene Ärzte müssen in die Überlegungen einbezogen werden, wenn be- triebs- und volkswirtschaftlich, ge- sundheits- und sozialpolitisch rich- tige Entscheidungen getroffen wer- den sollen.

Selbstverständlich spielen die in- neren Krankenhausstrukturen, die Rechtsstellung der Krankenhäuser und die möglichst enge Verzah- nung zwischen ambulanter und stationärer ärztlicher Versorgung und pflegerischer Betreuung bei wirklichkeitsorientierten Regelun- gen zur optimalen Versorgung der Patienten eine erhebliche Rolle.

Wegen der außerordentlich unter- schiedlichen Gegebenheiten und Erfordernisse hat sich jedoch mit guten Gründen der Bundesgesetz·

und Verordnungsgeber jeglicher Eingriffe in die inneren Strukturen der Krankenhäuser enthalten, um die Anpassung des hochdifferen- zierten, reg·ional unterschiedlichen Krankenhauswesens an die Erfor- dernisse nicht durch starre gesetz · liehe Vorschriften zu unterbinden.

Leider ist in den bis jetzt in Kraft getretenf!n Landeskrankenhausge-

2194 H~ft28vom 11.Juli 1974 DEUTSCHES ARZTEBLA'IT

setzen oder den bekanntgeworde·

nen Entwürfen von einer solch wei- sen Selbsteinsicht und Zurückhal- tung weit weniger zu spüren. Eben- sowenig allerdings auch von tiefe- ren Einsichten für die zwingende Notwendigkeit von Reformen, ins- besondere der Personalstrukturen, bis auf eine Ausnahme im neu- en Krankenhausgesetz-Entwurf für Nordrhein-Westfalen.

Es ist erstaunlich, wie von ver- schiedenen politischen Kräften, die sich Ärzten oft als besonders re- formaufgeschlossen darstellen und der Ärzteschaft mangelnden Re- formwillen und fehlende Einsicht in die Notwendigkeiten einer dem heutigen Entwicklungsstand enge- paßten ärztlichen Versorgung vor- halten, in Landeskrankenhausge- setzen der Status quo, also das bisherige Chefarztsystem, zemen- tiert und damit eine Änderung oder Weiterentwicklung gefährdet oder unmöglich gemacht wird. Offenbar glaubt man lediglich mit Eingriffen im Bereich der Privatliquidation, der Abschaffung von Privatstatio- nen und der Umverteilung von Li·

quidationserlösen über Pools nach mehr oder weniger starren Mecha·

nismen alle Probleme lösen und damit eine größere Zahl von Spe- zialisten im Krankenhaus halten zu können. Das ist jedoch weder der richtige Ausgangspunkt für Reform·

Überlegungen noch der geeigne·

te Ansatzpunkt, sondern ein Sekun- därproblem, weil es Folge ganz an- derer Überlegungen ist.

Konsequenzen

des medizinischen Fortschritts Die Notwendigkeit der Kranken- hausreform ergibt sich in erster Li- nie aus der Entwicklung der Medi- zin und der Notwendigkeit, mög- lichst alle neuen Erkenntnisse in der Breite für alle Patienten nutz- bringend umsetzen zu können. We- gen der erheblichen Erweiterung der Möglichkeiten ist dazu unbe- stritten eine sowohl in quantitativer als vor allem auch qualitativer Hin- sicht ausreichende Zahl von Mitar- beitern für eine langfristige Tätig-

(3)

Bericht und Meinung Gesundheits- und sozialpolitische Vorstellungen

keit im Krankenhaus zu gewinnen.

Nur dann kann jeder Patient der Art und Schwere seiner Erkran- kung entsprechend individuell ärzt- lich versorgt und pflegerisch be- treut werden, wie es der Zielset- zung der Krankenhausgesetze ent- spricht.

Der Realisierung dieser Forderung steht aber vor allem die ursprüng- lich dem Militär und der allgemei- nen Verwaltung entlehnte streng hierarchische Grundstruktur der Krankenhäuser entgegen, die die besonderen Belange bei der Ver- sorgung der Patienten nicht ausrei- chend berücksichtigt, das Kran- kenhaus lediglich als Teilbereich oder Anhängsel einer Behörde sieht und wegen des Mangels an Flexibilität die Anpassung an die sich durch den Fortschritt der Me- dizin wandelnden Erfordernisse im- mer mehr erschwert.

Die immer differenzierter werden- den Leistungen im Gesamtbereich eines Krankenhauses und das dar- aus folgende Prinzip der Arbeitstei- lung erfordern Wissen, Information und Dialog, aber auch schnelle, sachliche Entscheidungen durch Fachleute. Diese Entscheidungen können nicht durch vorgesetzte Bürokratien getroffen werden, de- nen der Sachverstand fehlt. Die Notwendigkeit, ständig den Dienst- weg einzuhalten, der oft genug nur den Holzweg mit der Sackgasse verbindet, lähmt in zunehmendem Maße die Identifikation mit der ge- meinsamen Aufgabe, die Motiva- tion zur Arbeit und verringert damit die Effizienz.

Im Krankenhaus wurde versucht, durch Ausgliederung oder Aufbau neuer Kliniken, Abteilungen oder Unterabteilungen der Entwicklung Rechnung zu tragen. Wegen der verwaltungsmäßig starren Abgren- zung konnte nur für kurze Zeit eine Besserung erreicht werden, weil die grundsätzlichen Unzulänglich- keiten lediglich von größeren in kleinere Einheiten verlagert wur- den und sich dadurch oft noch ver- schärften. Da die Entwicklung nicht abgeschlossen ist, muß eine völlige

Zersplitterung der Medizin und ih- rer Fachgebiete die Folge sein, wenn dieser Weg beibehalten wird.

Er wird auch deshalb in einer Sackgasse enden, weil viele der Klein- und Kleinstabteilungen we- gen der Höhe der Aufwendungen für Personal und Einrichtung nicht mehr effektiv genug arbeiten kön- nen. Kooperation und Koordination sind in den streng voneinander ge- trennten Einheiten erschwert. Ein Streit um Zuständigkeiten führt zu unrationeller Nutzung der perso- nellen und apparativen Kapazitäten und kann eine optimale Versor- gung der Patienten behindern oder sogar gefährden.

Für den Patienten, der möglichst schnell wieder gesund werden möchte, ist jedoch die Frage mü- ßig, ob die von ihm benötigten Spezialisten zusammenarbeiten können, er wird zu Recht voraus- setzen und erwarten, daß die- se Spezialisten zusammenarbeiten müssen. Die strenge Zuordnung von Betten oder Arbeitsbereichen und damit Patienten an einen Arzt, dem diese Patienten gewisserma- ßen „gehören", ist mit dem Berufs- bild des Arztes und dem Recht des Patienten auf freie Arztwahl nicht vereinbar.

Es ist daher nötig in eher größeren Arbeitseinheiten möglichst allen nach dem jeweiligen Stand der Me- dizin nötigen Ärzten mit speziellen Fachkenntnissen und Erfahrungen in selbständigen, integrierten Funk- tionsbereichen angemessene Ar- beitsbedingungen zu schaffen.

Neue Spezialisten könnten ohne organisatorische Schwierigkeiten in das Team einbezogen werden.

Verantwortung und Kompetenz, Rechte und Pflichten müssen dabei wieder in ein angemessenes Ver- hältnis gebracht werden und dür- fen nicht, wie heute oft, weit aus- einanderklaffen. Wegen ihrer Wis- sens- und Fachkompetenz müssen diese Ärzte auch die Entscheidungs- kompetenz haben und die Verant- wortung für ihre ärztliche Tätig- keit übernehmen, da Verantwortung dort getragen werden muß, wo Ar-

beit geleistet und Entscheidung ge- troffen wird.

Es muß die Möglichkeit zu einem von Bevormundung freien Gedan- ken- und Erfahrungsaustausch be- stehen. Ein lebenslanges Lehrer- Schüler-Verhältnis, das sich zudem noch an Vorstellungen früherer Schulen orientiert, wird dieser Not- wendigkeit nicht gerecht. Das im Grundgesetz Artikel 5 garantierte Recht auf freie Meinungsäußerung muß auch im Krankenhaus wahrge- nommen werden können, ohne der Gefahr von Nachteilen oder Diszi- plinierungsmaßnahmen durch Vor- gesetzte oder Krankenhausbehör- den ausgesetzt zu sein.

Die leider immer noch oft anzutref- fende Intoleranz gegenüber abwei- chender Meinung, die Unverträg- lichkeit von Widerspruch, die zu subtiler Nadelstichpolitik bis zu massiven Disziplinierungsversu- chen wie finanziellen Sanktionen oder Arbeitsentzug und herabset- zenden Äußerungen gegenüber Dritten führt, erschwert durch Ver- giftung des Arbeitsklimas die ohne- hin schwere gemeinsame Aufgabe einer möglichst guten Versorgung aller Patienten. Patienten dürfen wegen ihrer freien Wahl eines für ihre Krankheit benötigten Speziali- sten nicht Nachteilen ausgesetzt sein. Ständige Meinungsanpas- sung, nur weil stets die höher be- zahlte Einsicht recht hat, bewirkt permanente Selbstverleugnung und Selbstaufgabe und führt zur Bevor- zugung anpassungswilliger Mei- nungsmollusken, die sich, wenn es opportun wäre, schon morgens zur Erhöhung der Gleitfähigkeit mit Borsalbe frisieren würden. Die kompromißlose Identifikation mit der vorgesetzten Amtsperson macht eine auf eigenem Denken und Handeln beruhende Identifika- tion mit der Aufgabe und eine Moti- vation zur Arbeit aus eigenem An- trieb unmöglich.

Selbständig denkende Menschen werden in einem derartigen Klima schnell resignieren und das Kran- kenhaus verlassen. Wenn jedoch ständig Ärzte das Krankenhaus

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 28 vom 11. Juli 1974 2195

(4)

verlassen, nachdem sie mit Metho- dik und Gerät vertraut sind und Ihre Nachfolger s·ich oft erst müh- sam und manchmal als Autodidak- ten wieder in die Materie einarbei- ten müssen, ist die heute im Kran- kenhaus nötige Hochleistungsme- dizin nicht zu realisieren.

Die Forderungen nach Strukturän- derungen sind auch aus statisti- schen Unterlagen zu untermauern.

So ist die Zahl der leitenden Kran- kenhausärzte in der Zeit von 1952 bis 1972 von 4118 auf 7674 anga- stiegen, was einem Zuwachs von 3556 oder 86,4 Prozent entspricht.

Die Zahl der nachgeordneten Kran- kenhausärzte dagegen stieg im glei- chen Zeitraum von 16 016 auf 37 502, also um 21 486 oder 134,2 Prozent. Dadurch verschob sich die Relation von leitenden zu nach- geordneten Ärzten irn Krankenhaus von 1 :3,88 auf 1 :4,63.

..,. Die Zahl der Krankenhausärzte mit Facharztanerkennung nahm von 12 087 im Jahre 1964 um 5690 auf 17 777, also um nur 47,1 Pro- zent, zu, während die Zahl der Ärz- te ohne Facharztanerkennung im gleichen Zeitraum unverhältnismä- ßig stärker von 13 237 um 14124 auf 27 361, also um 106,7 Prozent anstieg. Die Relation der Fachärzt~

zu Nichtfae;härzten verschob sich zuungunsten der Fachärzte von 1 :G,91 auf 1 :1,48 in dem Zeitraum von 1964 bis 1972, also in nicht ein- mal zehn Jahren. Das bedeutet, daß in den Krankenhausfachabtei- lungen in zunehmendem Maße fachärztliche Leistungen durch Nichtfachärzte erbracht werden müssen.

..,. Die Zahl der ausländischen Ärz- te im Krankenhaus stieg von 2384 im Jahre 1966 um 3170, das sind 133 Prozent, auf 5554 im Jahre 1972 an; sie steigt noch weiter.

Ohne die Ärzte aus dem Ausland wäre in vielen Bereichen die ärzt- liche Versorgung in den Kranken- häusern längst zusammengebro- chen.

..,. Der Anteil der leitenden Ärzte in Prozent von den hauptamtlichen Krankenhausärzten insgesamt ver- schob sich von 20,4 Prozent im Jahre 1952 über 24,1 Prozent im Jahre 1960 auf nur noch 17,0 Pro- zent im Jahre 1972. Es befinden sich also in zunehmendem Maße im Krankenhaus Ärzte im Status des "nachgeordneten Arztes". Die Tatsache, daß sich Art und Umfang der ärztlichen Leistungen im Kran- kenhaus durch den permanent ein- fließenden Fortschritt erheblich er- weitert haben und daß außerdem von 1953 bis 1972 die Zahl der Be- legärzte von 6342 auf 4860, also um 1482 oder 23,4 Prozent zurückging, deren fachärztliche Tätigkeiten im Krankenhaus dadurch zusätzlich von anderen Krankenhausärzten übernommen werden mußte, haben die Krankenhausträger nicht etwa durch eine angemessene Vermeh- rung der Stellen für leitende Ärzte, sondern nur durch eine Vermeh- rung der Planstellen für nachge- ordnete Ärzte Rechnung getragen.

Zum Teil ist diese Vermehrung der Planstellen für nachgeordnete Ärz- te allerdings auch wegen der seit 1961 erstmals tarifvertraglich limi- tierten und seitdem verkürzten Ar- beitszeit eingetreten.

Die Krankenhausträger halten also überwiegend an der aus bürokrati- schem Denken folgenden Fiktion fest, allein der leitende Arzt sei der behandelnde Arzt. So verweigerten noch heute Verwaltungen öffentli- cher Krankenhäuser Ärzten, die Funktionsbereiche wahrnehmen oder Fachärzte sind, und somit fachärztliche Leistungen erbringen, die erst seit 1971 tarifvertraglich vorgeschriebene höhere Vergütung mit dem Hinweis, sie seien ledig- lich Assistenzärzte und erbräcilten gar keine fachärztlichen Leistun- gen, da dies Sache des leitenden Arztes sei. Diese Einstellung findet sich leider auch noch bei einigen Chefärzten, die sich für Arbeitge- ber halten und nicht einsehen wol- len, daß auch sie lediglich als Er- füllungsgehilfen des Krankenhaus- trägers fungieren. Hier muß drin- gend den wirklichen Gegebenhei- ten durch strukturelle Änderungen

2196 Heft 28 vom 11.Juli 1974 DEUTSCHES ARZTEBLATT

und Anpassungen Rechnung getra- gen werden.

D·ie von Politikern und Ärzten ge- forderte und notwendige Partner- schaft zwischen Patient und Arzt kann sich unter solc;hen Vorausset- zungen nicht entwickeln. Der Pa- tient wird zum Fließbandprodukt ei- ner Gesundheitsindustrie, in der

er

durch weisungsgebundene, Iohn- abhängige medizinische Fachar- beiter abgefertigt wird. Der Arzt wird in die Rolle des Humanme- chanikers oder Bioklempners ge- drängt, der den Kranken dann nicht mehr als Menschen in der Einheit von Körper, Seele und Geist sehen kann, sondern nur noch in Einzelteilen. So wird der Herzkranke zum Pumpenproblem, der Nieren- oder Blasenkranke zum Problem der Wasserleitung.

Die dringend nötige menschliche Beziehung kann sich nicht entwik- keln, dazu bleibt weder Zeit noch Raum. Gespräche beziehen sich wie beim Auto auf mechanische und technische Details, den Kno- chen, das Knie, den Magen und Darm, die Leber oder Lunge. Nur das Gehirn und die Psyche sind nicht mehr gefragt.

Statistisches Vakuum

Aus dem heute vorhandenen stati- stischen Material können leider nicht alle für die Beurteilung nöti- gen Daten entnommen werden, da sie in der Vergangenheit unter an- deren Gesichtspunkten oder über- haupt nicht erfaßt sind. Es fehlen z. B. langfristige detaillierte Erhe- bungen über die "Verweildauer"

einzelner Arztgruppen am Kran- kenhaus oder in bestimmten Abtei- lungen, aus denen sich die genau- en Fluktuationsraten ableiten lie- Ben. Das gleiche gilt für die Pflege- berufe. Auch die Altersstrukturen dieser Berufsgruppen sind nicht ausreichend·differenziert erfaßt.

Eine Reihe aus Statistiken abzulei- tender Relationen sind zwar rech- nerisch richtig, sie haben aber kei- ne Aussagekraft, da entscheidende Kriterien nicht berücksichtigt sind.

(5)

Bericht und Meinung Gesundheits- und sozialpolitische Vorstellungen

So ist z. B. der Schluß falsch, die im Vergleich zum Zuwachs der Bettenzahl wesentlich stärkere Zu- nahme des Personals in Kranken- häusern habe zu einer Verbesse- rung der Patientenversorgung ge- führt. Die Zahl der Leistungen in- folge größeren Durchgangs, die Veränderungen von Art und Um- fang der Leistungen infolge der Entwicklung der Medizin sind un- berücksichtigt geblieben. Erinnert sei an die Intensivmedizin, moder- ne Anästhesieverfahren, die auf- wendige Operationsmethoden er- möglichen, wie die Endoprothetik und den Ersatz ganzer Organe durch Transplantation.

Es wird sicher eine Aufgabe für Ärzte sein, im Dialog mit allen für statistische Erhebungen zuständi- gen Stellen in Zukunft Methoden zu entwickeln, die zu einer subtileren Erfassung aller relevanten Daten führen. Nur so ist eine größere Aussagekraft von Statistiken zu er- reichen, nur so sind falsche Schlußfolgerungen zu vermeiden.

Die Aussage zum Beispiel, die pfle- gerische Betreuung habe sich we- gen des Anstieges des Pflegeper- sonals und der daraus abgeleiteten Relation, daß eine Pflegekraft 1962 noch 5,1 Betten, 1972 dagegen nur noch 3,4 Betten zu versorgen hatte, widerspricht der täglichen Erfah- rung eines jeden Krankenhausarz- tes. Tatsächlich besteht in vielen Krankenhäusern ein ärztlicherseits nicht mehr zu verantwortender Mangel an qualifiziertem Pflege- personal, besonders im Bereich der Grundpflege. Es gilt, durch Veränderungen der inneren Orga- nisation des Krankenhauses, durch Verbesserung des sozialen Anse- hens und durch eine das hohe menschliche Engagement und die damit verbundenen Belastungen würdigende Vergütung rasch Abhil- fe zu schaffen, und nicht aus- schließlich Funktionsaufgaben hö- her zu bewerten. Außerdem muß vorübergehend aus dem Berufsle- ben ausgeschiedenen Kranken- schwestern die Wiedereingliede- rung in den Beruf erleichtert wer- den und Krankenschwestern mit

kleineren Kindern durch die Ein- richtung von Kindergärten im Kran- kenhaus die Fortsetzung ihrer Be- rufstätigkeit ermöglicht werden.

Die hohen Ausbildungskosten für eine relativ kurze Berufstätigkeit, die bei der augenblicklichen durchschnittlichen Dauer der Be- rufstätigkeit rund zehnmal aufge- bracht werden müssen, um 30 Jah- re Berufstätigkeit abzusichern, be- deuten sonst eine nicht mehr zu verantwortende Verschwendung öf- fentlicher Gelder. Eine weitere Ver- schlechterung im Pflegebereich könnte bald alle Fortschritte in Dia- gnostik und Therapie und den da- mit verbundenen hohen Einsatz von Geldmitteln zunichte machen.

Der ständig wiederholte Hinweis auf Tarifgefüge und deren Automa- tismen und auf überkommene hier- archische Verwaltungsstrukturen hilft mit Sicherheit nicht weiter. In den Tarifverträgen ist dafür zu sor- gen, daß die Besonderheiten der differenzierten Leistungserstellung im Krankenhaus berücksichtigt werden. Es geht nicht an, den Wert der Arbeit eines Menschen nahezu ausschließlich an der Zahl der Un- terstellten, also seiner Hintersas- sen, zu messen. Darüber hinaus ist in solchen Tarifverträgen der Par- kinsonismus fest eingebaut.

So banal es ist, es muß trotz- dem immer wieder gesagt werden:

die Hauptaufgabe von Krankenhäu- sern ist es nicht, Verwaltungsstruk- turen und Tarifgefüge aufrechtzu- erhalten, sondern Kranken ärztli- che und pflegerische Versorgung zu ermöglichen. Dieser Aufgabe müssen sich Tarif- und Verwal- tungsstrukturen unterordnen.

Klare Abgrenzung der Kompetenzen

Diese Forderungen sind für das weitere Funktionieren der Kranken- häuser von entscheidender Bedeu- tung. Im „Blauen Papier" sind des- halb die Vorstellungen der Wester- länder Leitsätze ergänzt und erwei- tert worden um die Forderung

nach klarer Abgrenzung der Richt- linienkompetenz des Krankenhaus- trägers von der Kompetenz der Krankenhausleitung für die Durch- führung aller Details. Verantwor- tung und Kompetenz müssen auch hier wieder zusammengeführt wer- den; auch hier schadet eine ständi- ge fachfremde Bevormundung dem reibungslosen Ablauf.

Dazu sind natürlich fachlich und menschlich qualifizierte Persön- lichkeiten mit betriebswirtschaftli- chen Kenntnissen in der Kranken- hausverwaltung erforderlich, die mit den besonderen Problemen bei der Krankenversorgung vertraut sind. Sie könnten in Beratung und Gespräch mit Ärzten, Pflegekräften und den im Krankenhaus heute un- entbehrlichen technischen Berufen die oft diametral entgegengesetz- ten Wünsche und Forderungen eher verstehen, bei ihren Ge- sprächspartnern aber auch leichter Verständnis für die wirtschaftlichen Probleme der Verwaltung finden.

Die häufig bestehende Vorstellung, Ärzte seien der vorgegebene Feind der Verwaltung und umgekehrt, könnte leichter abgebaut werden als heute, wo nach Beamtenlauf- bahn-Richtlinien nicht allzu selten Personen mit der Verwaltungslei- tung im Krankenhaus betraut wer- den, nur weil sie mit ihrer Beförde- rung an der Reihe sind und dann von städtischen Verkehrsbetrieben, dem Schlachthof oder dem Fried- hofsamt zum Krankenhaus versetzt werden. Nichts gegen diese Institu- tionen, nur ihre Probleme sind ganz anders.

Krankenhäuser sind heute Wirt- schaftsbetriebe mit Millionenum- sätzen, insgesamt im Bundesgebiet mit Milliardenumsätzen. Selbst wenn Krankenhäuser — wie über- haupt das Gesundheitswesen — nicht streng nach den Regeln der Marktwirtschaft mit den Mechanis- men von Angebot und Nachfrage betrieben werden können, weil Ge- sundheit nicht käuflich ist, die not- wendige Behandlung sich nicht an der Zahlungsfähigkeit des Erkrank- ten orientieren kann und für selte- ne Fälle Personal und Gerät vorge-

DEUTSCHES ÄRZTEB LATT Heft 28 vom 11. Juli 1974 2197

(6)

halten werden müssen im Ein- zelfall lebensrettend, wegen der geringen Auslastung aber unwirt- schaftlich -, muß angesichts der Kostenexpansion gerade im Kran- kenhauswesen, das die höchsten Steigerungsraten im Gesundheits- wesen überhaupt aufweist, drin- gend ein besseres Verhältnis zwi- schen Kosten und Nutzen erreicht werden.

Forderungen

an das Rechnungswesen

..". Eine Abkehr von der Kamerali- stik und ein Rechnungswesen nach betriebswirtschaftliehen Grundsät- zen ist nötig, um eine möglichst große Transparenz bei Kosten und den ihnen gegenüberstehenden Leistungen zu erreichen. Die Vor- schriften in Anwendung des Kran- kenhausfinanzierungsgesetzes sind dazu jedoch nicht ausreichend; sie orientieren sich nahezu ausschließ- lich an den Kosten. Im Kranken- haus müssen aber auch die einzel- nen Leistungen zumindest stati- stisch nach einheitlichen Kriterien erfaßt werden. Ohne derartige Da- ten ist das im Gesetz geforderte bedarfsgerecht gegliederte Kran- kenhauswesen nicht zu verwirkli- chen, weil die Leistungsfähigkeit der Krankenhäuser nicht vergli- chen und nicht beurteilt werden kann.

..". · Der unterschiedlichen Lei- stungs- und Kostenintensität im Verlaufe von Krankheiten wird auch der pauschalierte Pflegesatz nicht gerecht. Er verlagert das von den Versicherungen ihrem Zweck entsprechend zu tragende Risiko auf das Krankenhaus und läßt den zur Zahlung verpflichteten Benut- zer oder seinen Kostenträger über die erbrachten Leistungen im un- klaren.

..". Die Schwierigkeiten bei einer solchen Leistungserfassung sind sicher nicht zu unterschätzen. Den- noch sollte in Zusammenarbeit von Volks- und Betriebswirten mit Krankenhausärzten versucht wer- den, alte Denkschablonen zu ver-

lassen und aussagekräftige Be- zugsgrößen zu erarbeiten, die den Besonderheiten bei der Kranken- versorgung gerecht werden. Eben- so wie der pauschalierte Pflege- satz sind viele der heute gebräuch- lichen Parameter, wie Verweildau- er, Bettenschlüssel und Arbeitszeit nur als Grobraster brauchbar. in Zukunft können sie nicht mehr al- lein Grundlage von Entscheidun- gen sein. Es gilt neue Wege zu fin- den, um Kosten zu vermeiden, für die sonst in Kürze niemand mehr aufkommen kann oder will.

..". Neue Überlegungen und Wege sind aber nicht nur für die ärztliche Versorgung der Patienten während ihres Krankenhausaufenthaltes, sondern auch für die Zeit vorher und nachher nötig. Die in Deutsch- land bestehende scharfe Trennung zwischen diesen beiden Behand- lungsbereichen ist nicht immer mit den mehr fließenden Abläufen ei- nes Krankheitsgeschehens zur Deckung zu bringen. Mit dem Wechsel des Behandlungsberei- ches ist in unserem Lande meist ein Wechsel des behandelnden Arztes verbunden. Wie immer im menschlichen Leben sind bei einem Wechsel von Bezugspersonen und Partnern vermehrt Reibungsmög- lichkeiten gegeben. Es ist deshalb eigentlich kein Wunder, daß sich gerade an dieser Stelle Kritik ent- zündet und eine bessere Verzah- nung und Integration gefordert wird.

Über die ambulante Behandlung durch Krankenhäuser, die Einrich- tung von Polikliniken oder die Ein- führung prästationärer Diagnostik und nachstationärer Behandlung zur Behebung des Bettenmangels und zur besseren Ausnutzung der Apparaturen wird sich dies Ziel je- doch nicht erreichen lassen. Es wird dabei verkannt, daß der Bet- tenmangel nur ein Symptom ist und der eigentliche Engpaß in den Operationssälen, Röntgeneinrich- tungen und anderen wichtigen Funktionsbereichen liegt, deren Ar- beitsleistung nicht auf Automaten verlagert werden kann und wo hochdifferenzierte Technik und

2198 Heft 28 vom 11.Juli 1974 DEUTSCHES ARZTEBLATT

kompliziertes Gerät nicht zu einer Einsparung, sondern zu einem Mehraufwand an Personal führt.

Aber gerade an genügend quali- fizierten Ärzten, Pflegekräften und medizinisch-technischem Personal fehlt es, um den gestiegenen Lei- stungsanforderungen allein aus dem stationären Bereich nachzu- kommen. Der Bettenmangel ist viel- fach nur Rückstau, die Patienten stehen gleichsam in Betten Schlan- ge. Auch die Aufnahme in ein Krankenhaus erfolgt oft nur des- halb, weil ein Arzt, der aussage- kräftige Untersuchungen durchfüh- ren und verantwortliche Entschei- dungen treffen kann, im Augenblick nicht zur Verfügung steht. Der Pa- tient wird in eine Warteposition - das Bett - dirigiert, um Zeit zu ge- winnen.

..". Mit dem vorhandenen Personal in der vorgegebenen Arbeitszeit und in den zur Verfügung stehen- den Räumen sind die Krankenhäu- ser überhaupt nicht in der Lage, größere Ambulanzen abzuwickeln.

Die Forderung nach Ambulanzen ist auch nicht leichter verständlich, wenn auf der anderen Seite ver- langt wird, die Krankenhäuser von leichter Kranken, älteren Menschen und Pflegefällen zu entlasten, weil diese die teure Infrastruktur nicht benötigen. Ambulanzen würden die Krankenhäuser mit einer vielfach größeren Zahl von Patienten bela- sten, die diese teure Infrastruktur noch viel weniger nötig haben . ..". Es trifft auch nicht zu, daß die niedergelassenen Ärzte durch die heute von ihnen durchgeführte ver- mehrte und verbesserte ambulan- te Diagnostik und Therapie dem Krankenhaus Leistungen wegneh- men. Die vermehrte ambulante Lei- stung resultiert vielmehr aus den angestiegenen und weiter anstei- genden diagnostischen und thera- peutischen Möglichkeiten der Me- dizin und der erhöhten Nachfrage.

Die Ärzte stehen nicht, wie be- hauptet wird, unter Leistungsdruck aus finanziellen Gründen, sondern unter erhöhtem Nachfrage- und Anspruchsdruck. Erweiterte medi- zinische Möglichkeiten und gestie-

(7)

Bericht und Meinung

Karsten Vilmar (an der Tischfront rechts mit getönter Brille, neben Erwin Odenbach), überzeugte wie hier in einer Presse- konferenz auch im Plenum mit seinem Referat über die „Gesundheits- und sozialpolitischen Vorstellungen der deutschen Ärzteschaft"; es wird auf diesen Seiten im Wortlaut wiedergegeben

genes Sicherheitsbedürfnis führen zur doppelten Dynamisierung der Ansprüche. Stabilität der Ausgaben ist aber ohne Stabilität der Ansprü- che nicht zu erreichen.

Barrieren des

Sozialversicherungsrechts

Fließendere Übergänge zwischen den Behandlungsbereichen werden auch durch soziale und versiche- rungsrechtliche Gegebenheiten er- schwert. Erinnert sei an die man- gelnde häusliche Pflege bei allein- stehenden Patienten und älteren Menschen wegen der räumlichen Unzulänglichkeiten in zu kleinen Wohnungen oder, weil die Fami-

lienangehörigen zur Arbeit gehen oder in Urlaub fahren wollen, wie es häufig vor Feiertagen und in Fe- rienzeiten zu beobachten ist. Es wird auf Kosten der SolidargemQin- schaft der Versicherten eine allum- fassende Versorgung im Kranken- haus erwartet, wo zusätzlich noch Gesellschaft durch Mitpatienten gefunden wird. Für manche ist der Krankenhausaufenthalt auch ein Bargeschäft.

Andere Patienten drängt es infolge der in unserer Zeit verbreiteten Technikgläubigkeit wegen des technischen und apparativen Back- ground in das Krankenhaus. Die Zahl der Apparate und Untersu- chungen imponiert, man erwartet

einen Gesundheits-TÜV und über- sieht, daß vieles nicht ausreichend gezielt und deshalb überflüssig ist.

Chrom, Lack und Glas, die Poly- pragmasie täuschen Wirksamkeit vor und verschleiern die personel- len Engpässe.

Freie Arztwahl garantieren

Um wirkliche Verbesseru.ngen zu erreichen, sind mehr als nur techni- sche Probleme zu lösen. Grundla- ge aller Überlegungen sollte sein, daß dem Patienten das Recht der freien Arztwahl erhalten und dort, wo es heute durch Institutionen eingeengt ist, wieder eröffnet wird. Das ist zu realisieren, wenn

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 28 vom 11.Juli 1974 2199

(8)

mehr qualifizierte niedergelassene Ärzte für eine Mitarbeit im Kran- kenhaus gewonnen werden kön- nen, die Abwanderung gestoppt und umgekehrt mehr Krankenhaus- ärzte die Möglichkeit zur ambulan- ten Behandlung bekommen. Nur so ist eine individuelle Behandlung durch vom Patienten frei gewählte Ärzte in allen Bereichen zu ge- währleisten. Vorschläge, die eine Verzahnung ausschließlich durch Beteiligung von Institutionen an der ambulanten Versorgung errei- chen wollen, mißachten das Grund- recht des Patienten auf freie Arzt- wahl. Es wird deshalb von der Ärz- teschaft eine vermehrte Beteili- gung von niedergelassenen Ärzten an der Behandlung im Kranken- haus in einem neuen leistungsfähi- gen Belegarztsystem gefordert, in dem die Ärzte in Fachgruppen zu- sammenarbeiten sollen und mehre- re Belegärzte der gleichen Fach- richtung in einem Kollegialsystem die Präsenz "rund um die Uhr" si- cherstellen müssen. Umgekehrt sollten im Krankenhaus tätige Ärz- te vermehrt in der ambulanten Ver- sorgung mitwirken. Ihr Spezialwis- sen und ihre klinische Erfahrung können auf diese Weise auch den Patienten zugute kommen, die nicht mehr stationäre Pflege benö- tigen.

..". Regional zu organisierende Be- sprechungen der Ärzte aus Kran- kenhaus und freier Praxis könnten das Verständnis für die verschiede- nen Probleme erleichtern und durch kritische Aussprache zu ei- ner besseren ärztlichen Versor- gung, aber auch zu einer besseren Fortbildung beitragen.

..". Als Bindeglied zwischen der ambulanten und der stationären Versorgung bieten sich auch Pra- xiskliniken an, die von einer Ge- meinschaft niedergelassener Ärzte betreut werden.

Durch eine Beteiligung von Kran- kenhäusern als Institution ist eine fachärztliche Versorgung nicht si- cherzustellen, da unklar bleibt, wer die Leistung ausführt. Es muß auf der persönlichen Beteiligung und

Ermächtigung mit der Verpflich- tung, die Leistung persönlich zu er- bringen, bestanden werden, weil der Patient zu Recht erwartet, von Ärzten untersucht und behandelt zu werden, die über die bei seiner Erkrankung nötigen Spezialkennt- nisse verfügen. Fachärzten und Krankenhausärzten mit entspre- chender Qualifikation sollte von den Krankenhausträgern die Ne- bentätigkeit nicht verweigert wer- den, wenn ihnen wirklich an einer besseren ärztlichen Versorgung der Bevölkerung gelegen ist und nicht der Herr-im-Hause-Stand- punkt vorherrscht. Die heute noch bestehenden Beschränkung·en der Nebentätigkeit sollten völlig abge- baut werden, da sie Relikte eines Obrigkeitsstaates sind. Für denk- bare Interessenkollisionen zwi- schen Haupt- und Nebentätigkeit bestehen andere völlig ausreichen- de Regulative über den Arbeitsver- trag.

..". Zur Verbesserung der Koordina- tion und Kooperation sind gegen- seitige umfassende Informationen mit wirklichem Informationswert er- forderlich. Die dazu nötigen techni- schen Voraussetzungen wurden mehrfach auf Deutschen Ärzteta- gen beraten, sie sollten endlich überall beachtet und realisiert wer- den.

Die von der Ärzteschaft geforder- ten Strukturänderungen werden nicht nur kurzfristig eine bessere ärztliche Versorgung ermöglichen, sondern langfristig nicht zuletzt wegen der besseren Ausbildungs- und Weiterbildungsmöglichkeiten in allen Bereichen eine größere Ef- fizienz bewirken. Sie könnten dazu beitragen, die personellen Voraus- setzungen zu schaffen, ohne die die Bestimmungen der neuen Ap- probationsordnung z. B. über das Internatsjahr und auch die in den Facharztgesetz-Entwürfen beab- sichtigte Intensivierung der Weiter- bildung überhaupt nicht zu realisie- ren sind. Wenn man glaubt, Ver- besserungen nur durch neue Ge- setze und Verordnungen erreichen zu können, ohne zu untersuchen, was wissenschaftlich ausreichend

2200 Heft 28 vom 11.Juli 1974 DEUTSCHES ARZTEBLATr

gesichert und personell und finan- ziell realisierbar ist, und ohne die zur Durchführung notwendigen Voraussetzungen zu schaffen, gibt man sich Illusionen hin. Es genügt nicht, durch politische Beschlüsse ein Ei zu legen ohne ein Nest zu haben, in dem es bebrütet werden kann. Und vom Gackern allein ist noch niemals ein Ei ausgebrütet worden.

Gesetze und Verordnungen zur Re- gelung der Weiterbildung, aber auch der Ausbildung und der Be- schränkung der Niederlassungs- freiheit sind keine geeigneten In- strumente, um mit dirigistischen Maßnahmen die durch strukturel- len Fehler immer schärfer hervor- tretenden Verteilungsprobleme und die Verschiebungen auf dem Ar- beitsmarkt zu korrigieren. Die Un- terversorgung in den Krankenhäu- sern in der Chirurgie und der An- ästhesie oder die zu geringe Zahl an Allgemeinärzten ist nur durch strukturelle Veränderungen und durch attraktive Berufsaussichten zu beheben. Es muß aufhören, daß Ärzte sich in langen Jahren Kennt- nisse und Erfahrungen aneignen, die sie mangels entsprechender Arbeitsmöglichkeiten nur zu einem geringen Teil in ihrem weiteren Be- rufsleben anwenden können, oder andere Ärzte die für ihre spezielle Tätigkeit erforderlichen Kenntnisse während des Studiums und der Weiterbildung nur unzureichend vermittelt bekommen, weil die Vor- aussetzungen in Universitäten und Krankenhäusern nicht gegeben sind. Zu den speziellen Problemen bei der Weiterbildung wird unter dem nächsten Tagungsordnungs- punkt noch Stellung zu nehmen sein.

Die Bedeutung

der Vergütungsstrukturen

Natürlich spielen auch die Vergü- tungsstrukturen für Ärzte eine Rol- le. ln der Bundesrepublik Deutsch- land als sozialem Rechtsstaat ist das Geld ein allgemein anerkann- ter Leistungsanreiz und ein Tauschmittel auf gesetzlicher Ba-

(9)

Bericht und Meinung

Tagesordnungspunkt 2: Intensiv, detailliert und ausführlich diskutiert — Das Blaue Papier, die „Gesundheits- und sozial- politischen Vorstellungen der deutschen Ärzteschaft". Zahlreiche Delegierte meldeten sich zu Wort; über die Aussprache und ihr Ergebnis wird in diesem Heft berichtet

sis. Geld ist also bei uns der ge- sellschaftskonforme Leistungsan- reiz; in anderen Gesellschaftssy- stemen sind andere diesen Gesell- schaften konforme Anreize denk- bar. Wie jedem Bürger steht auch dem Arzt für seine Leistung ein entsprechender Gegenwert zu.

Mehrleistungen werden höher ver- gütet oder über ein größeres finan- zielles Angebot bewirkt.

Der Patient honoriert den Arzt sei- ner Wahl, oder er sichert sich in der gesetzlichen oder privaten Krankenversicherung gegen sein Kostenrisiko ab. Für alle, die nicht zwangsweise Mitglied der Sozial- versicherung sind, die nach dem Sachleistungsprinzip alle nötigen

Leistungen scheinbar kostenlos zur Verfügung stellt, oder die sich trotz ihrer Zwangsmitgliedschaft zusätz- lich versichert haben, besteht die Möglichkeit, bei Inanspruchnahme des Arztes über ihre Kostenrege- lung selbst zu entscheiden. Das Recht der Ärzte auf Liquidation re- sultiert aus dieser Berechtigung der Patienten.

Als sich aus den früheren Siechen- häusern allmählich Krankenhäuser entwickelten, wurde das Prinzip der Arzthonorierung übernommen.

Erst die Mitarbeit von Ärzten im Siechenhaus machte dessen Wand- lung zum Krankenhaus möglich.

Wegen der Zunahme der im Kran- kenhaus zu erbringenden Leistun-

gen erfolgte eine Vergrößerung der Häuser und eine Vermehrung der Zahl der ärztlichen Mitarbeiter, die jedoch wegen der unveränderten Verwaltungsstruktur und dem da- mit verbundenen Stellenkegel-Den- ken nicht gleichberechtigte, son- dern nachgeordnete Ärzte wurden.

Für den Patienten bedeutete dies eine Veränderung seiner Bezie- hung zum Arzt. Im Krankenhaus wird den sozialversicherten Patien- ten das Recht der freien Arztwahl vorenthalten, aber auch der selbst zahlende private Patient ist in sei- ner freien Arztwahl eingeschränkt.

Er kann nicht unter allen Ärzten den benötigten Spezialisten wäh- len, da ihm nur eine Auswahl unter

DEUTSCHES .ÄRZTEBLATT Heft 28 vom 11. Juli 1974 2201

(10)

liquidationsberechtigten Chefärz- ten ermöglicht wird, weil die Kran- kenhausträger an ihrer Einstellung festhielten, der Chefarzt allein sei der behandelnde Arzt. Nachgeord- neten Ärzten wurde lange Jahre die Arbeit nur mit einem pauscha- lierten Armensatz honoriert, zum Ausgleich der Mindervergütung wurden sie auf einen vermögens- werten Erkenntniszuwachs durch Behandlung minderzahlender Pa- tienten verwiesen.

Die persönliche Beziehung zum Patienten wurde für den leitenden Arzt in finanzieller Hinsicht da- durch entkoppelt, daß er für die Behandlung sozialversicherter Pa- tienten ebenfalls nur einen niedri- gen Pauschalsatz erhält und man ihm leistungsgerechte Einkünfte, die mit den Verdienstmöglichkeiten niedergelassener Ärzte vergleich- bar sind, durch Absteckung eines Liquidationsbereiches sicherte. An den Inhaber dieses Liquidationsbe- reiches muß der selbst zahlende Patient für ärztliche Leistungen zahlen, unabhängig davon, ob die- ser die Leistung selbst erbringt oder der Patient durch ihn behan- delt zu werden wünscht. Damit ist das Leistungsprinzip verlassen. Die Regelung erinnert eher an die bei römischen Steuereintreibern übli- chen Verfahren, zumal dann, wenn der Krankenhausträger sich im ständig größer werdenden Umfang an den Erlösen aus diesen Liquida- tionsbereichen beteiligt. Der nach- geordnete Arzt wird durch Arbeits- leistung zugunsten Dritter dazu verpflichtet, vermögenswerte Ge- schenke mit dem Effekt von Geld- geschenken zu machen.

Die Leistungsanreize für die im Krankenhaus tätigen Ärzte können dadurch in unterschiedlicher Rich- tung oder sogar gegeneinander wirken. Eigene Mehrarbeit und Mehrarbeit anderer können für ei- nen zu einer Einkommensverbesse- rung führen, während für andere, insbesondere nachgeordnete mit festen Arbeitszeiten und festen Be- zügen, der größte Gegenwert für ihre Arbeitskraft nur durch Minde- rung ihres Leistungsangebotes er-

reichbar ist. Es entsteht das Phä- nomen einer Profitmaximierung durch Leistungsminimierung.

Die Bundespflegesatzverordnung läßt seit dem 1. Januar 197 4 zu, daß auch ärztliche Leistung als gesondert berechenbare Leistung angeboten werden kann. Eine freie Arztwahl auch im Krankenhaus ist damit möglich, jedoch nur dann, wenn jeder Patient seinen Arzt frei wählen kann, auch in der allgemei- nen Pflegeklasse, und alle fachlich befähigten Ärzte, die in eigener Verantwortung Leistung erbringen, liquidationsberechtigt werden. Der vom Bundesgesetzgeber ermög- lichte Freiraum, der einem Grund- recht aller Bürger entspricht, darf nicht durch Landesgesetze oder Einwirkung von Krankenhausträ- gern beschnitten werden. Wenn bei einer umfassenden Reform aus dem heute oft festzustellenden Li- quidationsunrecht wieder ein Liqui- dationsrecht wird, gibt es keinen vernünftigen Grund, das Liquida- tionsrecht abzuschaffen und damit dem Bürger Gestaltungsmöglich- keit zu nehmen.

~ Festgehälter ohne Leistungsbe- zug zu fördern, nehmen der Lei- stungminimierung die Entwicklung eines grauen Marktes für ärztliche Leistungen, da die Patienten bei ernsteren Krankheiten und vitaler Bedrohung willens sind, besondere Leistungen eines Arztes ihrer Wahl und ihres Vertrauens auch geson- dert zu honorieren, gegebenenfalls sogar über Naturalien. Solche Vor- gänge sind auch in voll sozialisier- ten Systemen zu beobachten.

Nebulöse Schlagworte

Die in den letzten Jahren und Jahr- zehnten enorm angestiegenen Ko- sten im Gesundheitswesen mit Schlagworten, wie der "Profitmaxi- mierung", dem "Geschäft mit der Kra.nkheit" und der "doppelten Dy- namisierung" von Arzteinkommen erklären zu wollen ist nicht nur zu leicht, sondern schlicht falsch. Es wird verschwiegen, daß es für die- se Kostensteigerungen eine Reihe

2202 Heft 28 vom 11.Juli 1974 DEUTSCHES ARZTEBLA'IT

von anderen Gründen gibt. Heute können Krankheiten wirksam be- einflußt werden, die früher in kur- zer Zeit zum Tode und damit zur Entlastung der Krankenkassen ge- führt haben. Eine Reihe von Krank- heiten kann nicht endgültig geheilt werden, so daß lange - oft le- benslange - Behandlungsbedürf- tigkeit bestehenbleibt Durch die höhere Lebenserwartung kann ein Mensch an mehreren Krankheiten nacheinander erkranken oder aus Altersgründen krankheitsanfälliger werden. Art, Umfang und Anzahl der ärztlichen Leistungen haben sich also erheblich verändert. Es darf aber auch nicht vergessen werden, daß für einen großen Teil der im Gesundheitswesen Tätigen, die lange nahezu ausschließlich mit der ethisch-moralischen Ver- pflichtung des Dienens am Men- schen zur Leistung motiviert wur- den, erst vor gut einem Jahrzehnt mit der Einführung von Arbeitsnor- men und Vergütungen begonnen wurde, die für den übrigen Kreis der Bevölkerung längst selbstver- ständlich waren.

Die rasche Entwicklung von Wis- senschaft und Technik, der starke Informationsfluß und das gestiege- ne lnformationsbedürfnis, der all- gemeine Wohlstand und der fast unerschütterliche Glaube an die Omnipotenz von Wissenschaft und Technik in vielen Bereichen des Lebens haben aber auch zu einer Erhöhung des Anspruchsniveaus geführt. Die allgemeine Technik- gläubigkeit wird auf die Medizin, den Menschen und die ärztliche Arbeit übertragen. Vielen erscheint daher auch in der Medizin das noch vor kurzem Unmögliche nicht nur möglich, sondern sogar selbst- verständlich zu sein. Einzelerfolge durch Vorstöße in Grenzbereiche werden verallgemeinert. Jedem Eventualfall und jeder Seltenheit muß zu jeder Zeit und überall wirk- sam begegnet werden können. Al- les erscheint machbar, wenn man nur die nötigen finanziellen Mittel und perfekte Technik einsetzt und die dazugehörigen Bauten errich- tet. Schicksalsmäßige Abläufe wer- den nicht mehr toleriert, besten-

(11)

falls haben sie die Bedeutung ei- nes Betriebsunfalles. Man hat schließlich ein Recht auf Gesund- heit. Krankheit ist nicht mehr Schicksal oder eigenes Verschul- den oder Versagen, sondern Versa- gen der Institutionen, der Gesell- schaft, soziales Versagen oder auch Prämie.

Daß jedoch der Mensch den Natur- gesetzen unterliegt und damit trotz der statistisch erheblichen Verlän- gerung der Lebenserwartung im Einzelfall der Endlichkeit des Le- bens nicht entfliehen kann, wird dabei leicht vergessen oder ver- drängt. Erwartungs- und An- spruchsniveau der Menschen und Leistungsniveau der Medizin kön- nen unter diesen Voraussetzungen nicht zur Deckung kommen.

Die Medizin verfügt trotz aller Fort- schritte über zu wenig wissen- schaftlich geskherte Erkenntnisse . und ist auch heute noch weit da- von entfernt, etwa Krankheit trotz aller Vorsorge und Früherkennung zu vermeiden oder in jedem Falle zu heilen, ständige Gesundheit und dauerndes Wohlbefinden zu er- möglichen und vielleicht sogar un- ter Umgehung der Naturgesetze den Tod zu überwinden. Alle Pla- nungen und Reformen, die diese Tatsachen nicht berücksichtigen und den Anschein erwecken, als könnten durch einen größeren Ein- satz von technischem Gerät bis zu Computern und neuen Kranken- hausbauten die Schwierigkeiten überwunden werden, sind zum Scheitern verurteilt. Aus der Fehl- einschätzung der Möglichkeiten vergrößern sie die Diskrepanz zwi- schen Anspruchs- und Leistungsni- veau und damit die Unzufrieden- heit. Utopische Modelle sind unge- eignet, kein Bereich ist für Experi- mente weniger geeignet als das Gesundheitswesen, da jeder Fehl- schlag unausweichlich zu Lasten der Patienten geht.

Die Individualität und Einmaligkeit jedes Menschen bedingt den ent- scheidenden Unterschied der Me- dizin von aller technisch-mathema- tischen Naturwissenschaft. Ein-

heitstechnik und Einheitsmaschi- nen nach DIN-Vorschriften sind denkbar, der DIN-Einheitsmensch jedoch nicht. Das ist Privileg und Hoffnung zugleich für den einzel- nen.

Die individuellen Ansprüche erfor- dern Gestaltungsfreiraum gerade auch im KrankheitsfalL Die überall in unserer Gesellschaft gegebenen Wahlmöglichkeiten dürfen gerade hier durch lnstHutionen nicht ein- geengt werden. Es ist erstaunlich, wie oft diejenigen, die vorher laut- stark anderes gefordert haben, für sich selbst auf diesen Wahlmög- lichkeiten bestehen, wenn sie er- kranken.

Wenn in Zukunft dem Individuum noch eine Bedeutung zukommt und eine Vermassung wie in einem Ter- mitenstaat vermieden werden soll, ist es auch ärztliche Verpflichtung, sich in der Gesellschaft und im Staat zu engagieren. Es wurde ge- sagt, die Gesundheitspolitik sei eine zu ernste Sache, als daß man sie den Ärzten überlassen könne; sie ist aber sicher viel zu ernst, als daß man sie allein den Politikern überlassen kann.

Die Rolle des Arztes überdenken

~ Im Interesse des individuellen Freiraums des einzelnen Men- schen, und insbesondere des Kran- ken, ist auch die ärztliche Tätigkeit zu überdenken. Sie kann nicht mehr nur als Tätigkeit am Patien- ten und am Menschen gesehen werden, sondern sie muß den Ein- satz in allen Institutionen unserer Gesellschaft für den Menschen und für den Patienten mit einbeziehen.

Es geht darum, Vermachtungspro- zesse aufzuhalten, die auch über die Gesundheitspolitik möglich sind, menschliche Verhaltensnor- men zu erkennen, nicht der Wis- senschafts- und Technikgläubigkeit zu unterliegen und auf die Grenzen des Menschen und seine Möglich- keiten hinzuweisen.

Bericht und Meinung

~ Der Arzt kann sich nicht auf die Rolle des unbeteiligten medizini- schen Sachverständigen zurückzie- hen und sich als Gesundheitsinge- nieur oder als Schalterbeamter verstehen, der Zugang zu techni- schen oder sozialen Leistungen verschafft. Er muß sich mehr als bisher um die Grundlagen seiner Berufsausübung bemühen, die nicht nur die rein medizinisch-wis- senschaftlichen Erkenntnisse um- fassen, sondern auch die rechtli- chen, sozialen und politischen Ein- wirkungsmöglichkeiten auf seine Tätigkeit und das Verhalten der Menschen mit einbeziehen müssen.

Das bedeutet keinen Alleinvertre- tungsanspruch der Ärzte im Be- reich der Gesundheit, sondern ständigen Dialog mit allen an der Gestaltung unseres Lebens betei- ligten Gruppen und Institutionen.

Ohne das ärztliche Engagement im überindividuellen Bereich und ohne ständigen Dialog könnte in Unkenntnis der mit Krankheit, Lei- den und Tod verbundenen Beson- derheiten die individuelle ärztliche Arbeit zum Nachteil für den Patien- ten eingeengt oder unmöglich ge- macht werden. Der Mensch darf nicht Objekt einer Verwaltung wer- den. Verwalteten Ärzten entspre- chen verwaltete Patienten, die im Krankheitsfall schutzlos vielleicht wechselnden, immer aber fremden Herrschaftseinflüssen preisgegeben sind. Das überindividuelle Engage- ment ist zur Aufrechterhaltung der individuellen Beziehung zwischen Patient und Arzt unabdingbar. Nur so wird der Arzt seiner Verpflich- tung gerecht, der Gesundheit des einzelnen Menschen und des ge- samten Volkes zu dienen.

Anschrift des Verfassers: Dr. med. Karsten Vilmar 28 Bremen

Zentralkrankenhaus St. -J ü rgen-Straße

DEUTSCHES 1\RZTEBLA.TI' Heft 28 vom 11.Juli 1974 2203

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Aus dem Vorrang der gesundheit- lichen Verantwortung des einzel- nen vor der Verantwortlichkeit der Gesellschaft und des Staates er- gibt sich eine abgestufte

die ethische , in der Deklaration des Weltärztebundes von Oslo be- kräftigte Verpflichtung des Arztes, auch das ungeborene Leben im Mutterleib zu schützen und nur dann

Für die prinzipiell im Umlagever- fahren finanzierte Zusatzversor- gung im öffentlichen Dienst und die öffentlich finanzierte Beamten- versorgung dürften sich ähnliche

ln einem Gesundheitssystem, in dem jeder Arzt sich in freier Praxis niederlassen kann, muß durch die Rechtsordnung gewährleistet sein, daß der niederlassungswilli- ge

Es muß grundsätzlich bezweifelt werden, ob durch eine Versiche- rung des Pflegefallrisikos eine wirkliche Besserung der Situation der Pflegebedürftigen erreicht werden kann, oder

Hier ist zu prüfen, ob nicht alle Hochschul- lehrer einer Fakultät für die stu- dentischen Prüfungen mit heran- gezogen werden können, auch wenn Sie sich innerhalb der

Keine Verschreibung von Me- dikamenten mit Abhängigkeits- potential ohne persönlichen Kontakt mit dem Patienten (z. keine telefonische Re- zeptbestellung oder Rezeptab- gabe

Wenn Ärzte dieser Verpflichtung, so der Hauptverband, nicht nach- gekommen und zudem nur in ei- nem geringeren Umfang als 500 Stunden innerhalb eines Jahres betriebsärztlich