SYNCHRONE FAKTOREN DES SPRACHWANDELS IM SAVANNEN-BANTU
METHODOLOGISCHE VORBEMERKUNG
(Kurzfassung)
von Wilhelm J. G. Möhlig, Köln
Die Grandlage einer jeden sprachhistorischen Betrachtung bilden Phänomene,
die man zusammenfassend als Sprachwandel bezeichnen kann. Zwar deutet der
Terminus an, daß es sich um Abläufe in einer zeitlichen Dimension handelt, den¬
noch sind die historisch-vergleichenden Methoden, die herkömmlicherweise verwen¬
det werden, nicht kinetisch (dynamisch), sondern ihrem Wesen nach statisch ange¬
legt. So werden in der Regel zwei oder mehrere Sprachformen aus diachronisch ver¬
schiedenen Sprachsystemen miteinander verglichen und nach Art einer Gleichung
(Proto-X = x) einander zugeordnet. Ob die betreffenden Entsprechungen tatsäch¬
lich auf Sprachwandel beruhen, wird zumeist gar nicht weiter untersucht, sondern schlicht vorausgesetzt, indem man das Gleichheitszeichen durch einen Pfeil oder ein
ähnliches Symbol zum Ausdmck der Operation „wird zu" ersetzt, ohne daß der
Vorgang des Sprachwandels selber auch nur im Ansatz plausibel gemacht worden
wäre. Schon Bloomfield (Language, London 1933, S. 347) erkannte diesen Sach¬
verhalt, meinte jedoch, daß eine andere Verfahrensweise gar nicht möglich sei, weil
das Phänomen des Sprachwandels nicht unmittelbar beobachtet werden könne.
Schon damals entsprach diese Auffassung nicht ganz den Realitäten, geschweige
denn heute. Bei einer dialektologischen Untersuchung der Sprachen eines größeren
zusammenhängenden Areals tritt der Prozeß des Sprachwandels geradezu unaus¬
weichlich in den Vordergmnd, und zwar als Prozeß auf der synchronen Stufe der
Sprachbetrachtung. Das hängt damit zusammen, daß sich der Dialektologe ganz ge¬
zielt der sprachlichen Vielfalt an der dialektalen Basis aussetzen muß, während der Sprachhistoriker, der mit den traditionellen Methoden der Sprachvergleichung arbeitet, gerade umgekehrt diese Vielfalt bewußt zu vermeiden trachtet und darum von einer abstrahierenden, ideellen Sprachwirklichkeit ausgeht, in der dann in der Tat alles statisch erscheint. (Möhlig, W. J. G.: Die Stellung der Bergdialekte im
Osten des Mt. Kenya, Berlin 1974 - ders.: Dialektgrenzen und Dialektkontinua im
Bantu-Sprachgebiet von Kenia: Zum Problem der Grenzfindung und Grenzgewich-
tung, erscheint demnächst im Tagungsband des Internationalen Symposions ,Zur
Theorie des Dialekts' in Marburg.)
Im Folgenden möchte ich einen ersten systematishen Überblick über die syn¬
chronen Faktoren des Sprachwandels geben, so wie sie sich mir bei der dialektolo¬
gischen Bearbeitung einiger Savannen-Bantusprachen dargestellt haben. Ich halte
es für denkbar, daß die grundlegenden Elemente dieser Systematik eine universelle
Bedeutung haben, möchte aber im gegenwärtigen Forschungsstadium noch keine
Generalisierungen vornehmen.
xx. Deutscher Orientalistentag 1977 in Erlangen
Synchrone Faktoren des Sprachwandels im Savannen-Bantu 461
DIE FAKTOREN DES SPRACHWANDELS IM ÜBERBLICK
In einer ersten Übersicht lassen sich systeminterne und systemexterne Faktoren
des Sprachwandels unterscheiden. Systeminterner Sprachwandel bezieht sich auf
Verändemngen, die in einer Sprache ohne äußere Impulse vor sich gehen. System¬
externer Sprachwandel umfaßt hingegen Veränderungen, die durch äußere Faktoren ausgelöst werden.
Nach den bisherigen Erkenntnissen kann man drei Arten des systeminternen
Sprachwandels unterscheiden: 1. trendhaft im System angelegter Sprachwandel,
2. Sprachwandel, der bei der Tradierung zwischen den Generationen einer Sprach¬
gemeinschaft spontan ausgelöst wird (King, R.: Historical Linguistics and Genera¬
tive Grammar, Englewood Cliffs, New Jersey 1969, S. 80), 3. spontane, system-
unmanente Innovation in der Grammatik der Erwachsenen.
Systemexterner Sprachwandel setzt den Kontakt zwischen verschiedenen Spra¬
chen voraus, wodurch zumindest vorübergehend für einen Teil der Sprachgemein¬
schaft eine mehrsprachige Situation entsteht. Diese kann zum Wandel des ange¬
stammten Sprachsystems führen. Nach bisheriger Erkenntnis scheinen dabei fol¬
gende Faktoren zusammenzuwirken: 1. Prestigegefälle, 2. Kommunikationsfre¬
quenz, 3. Systemkonformität. Der Faktor ,KommunUcationsfrequenz' setzt sich
seinerseits aus zwei Unterfaktoren zusammen. Zum einen handelt es sich darum,
daß bestimmte Elemente der Sprachstmktur in der alltäglichen Kommunikation
häufiger vorkommen als andere. Zum anderen geht es um die Anzahl der Sprecher,
die ein bestimmtes Idiom in einer zwischensprachlichen Kontaktsituation verwen¬
den.
KONSEQUENZEN DER SYNCHRONEN FAKTORENANALYSE FÜR DIE
SPRACHGESCHICHTE DER SAVANNEN-BANTUSPRACHEN
Der tragende Grundsatz einer jeden historischen Extrapolation, die wie die Ban¬
tuistik hauptsächlich von der gegenwärtigen Sprachsituation ausgehen muß, lautet:
Es darf vorausgesetzt werden, daß die in der Gegenwart beobachtbaren Verhältnis¬
se, Bedingungen, Kräfte und Bewegungsabläufe des Sprachwandels auch in der
Vergangenheit mit ihren rezent feststellbaren Merkmalen schon existent waren und wirkten, es sei denn, konkrete Beweise legten eine Änderung nahe. In Übereinstim¬
mung mit dieser goldenen Regel der historischen Beweislastverteilung können für
den Geltungsbereich der Savannen-Bantusprachen zumindest alle die hier aufgeführ¬
ten Faktoren des rezenten Sprachwandels mehr oder weniger unverändert in die
Vergangenheit extrapoliert werden, und zwar rückwärts, entgegen dem Ablauf der
Geschichte. Dabei ergeben sich ganz neue Erkenntnisse zur Entwicklungs- und
Ausbreitungsgeschichte der Savannen-Bantusprachen, die den althergebrachten
Hypothesen teilweise diametral widersprechen. Dies sei in den folgenden vier The¬
sen kurz umrissen:
1. Das unüineare, genetische Sprachentwicklungsmodell trifft für die Sprach¬
geschichte der heutigen Savannen-Bantusprachen mit Sicherheit nicht zu.
1. Stattdessen legen die neuen Erkenntnisse nahe, daß die heutigen Savannen-
Bantusprachen durch mehrere, zeitlich aufeinander folgende protosprachliche
Bantustrata entstanden sind. Vier dieser Strata konnten bisher herausgearbeitet wer¬
den (Möhlig, W. J. G.: Zur frühen Siedlungsgeschichte der Savannen-Bantu aus
462 Wilhelm J. G. Möhlig
lauthistorischer Sicht, in W. J. G. Möhlig et al. (Hrsg.); Sprachgeschichte und
Ethnohistorie in Afrika, Berlin 1977).
3. Der sogenannte Nucleus höchster Gemeinbantu-Dichte südlich und südöstlich des Regenwaldes, den M. Guthrie für das Gebiet des von ihm hypothetisch erschlos¬
senen Proto-Bantu hielt (M. Guthrie: Some developments in the prehistory of the
Bantu languages, in: Journal of African History Bd. Ill, 1962, 273—282), erweist sich weitgehend als das Ergebnis eines auf den Faktor ,Kommunikationsfrequenz' zurückführbaren Homogenisierungseffekts, also letztlich als Folge seiner zentralen Lage im Bantusprachraum (Möhlig, W. J. G.: The Bantu nucleus: its conditional nature and its prehistorical significance, in: African Linguistics Forum, vol. 1, Nai¬
robi - in Vorbereitung).
4. Drei der bisher definierten Strata haben sich wahrscheinlich von der Nord¬
ostecke des Regenwaldgürtels aus über den heutigen Sprachraum verbreitet. Die Zu¬
gangsstraße für das vierte Stratum konnte allerdings bisher noch nicht sicher
erschlössen werden (vgl. dazu die Literatur zur zweiten These oben).
SOZIALE, KOSMOLOGISCHE UND MYTHOLOGISCHE BEZÜGE DER
VERBEN ,3ERAUSK0MMEN" UND „SICH DREHEN" IM RENDILLE*
von Günther Schlee, Hamburg
Diese beiden Begriffe „herauskommen" und ,,sich drehen"' habe ich als Einstieg gewählt, über den ich Sie einen kurzen EinbHck in das auf Kosmos und GeseUschaft bezogene Glaubenssystem der Rendille nehmen lassen wiU. Dieses Glaubenssystem läßt sich nicht aus einigen Sätzen und Begriffen ableiten, sondern seine Beschrei¬
bung erfordert Kenntnis der Kultur und besonders der Sprache in aU ihren Verwen¬
dungen. Das, was ich Ihnen hier vorführen kann, hat daher nur exemplarischen Charakter und rechtfertigt aus sich heraus keine Verallgemeinerungen oder induk¬
tive Schlüsse. Kontrollierbar werden Aussagen über ein Glaubenssystem erst da¬
durch, daß das täglich beobachtete verbale und nicht-verbale Verhalten diesem
System konform gehen. Die letzte Kontrolle besteht darin, daß der Forscher als
Erlerner der Sprache und Kultur die beschriebenen sprachlichen und gedanklichen
Formen kreativ anwendet und erfolgreich in ihnen kommuniziert. Alles, was auf
schmalerer empirischer Basis steht, läuft Gefahr der Überinterpretation und Fehl¬
interpretation.
Da diese Art der semantischen Analyse neben dem sprachlichen den außersprach¬
lichen Kontext hinzuziehen und von Wissen über Kultur und Umwelt ausgehen
muß, gestatten Sie mir, einige Fakten über die Rendüle und ihren Lebensraum vor¬
auszuschicken.
Die Rendille sprechen eine kuschitisehe Sprache^. Der durch gemeinsame Initia¬
tionsriten konstituierte Stammesverband umfaßt etwa 9.000 Mitglieder. Die Sprach¬
gemeinschaft ist etwas größer.
Sie nomadisieren mit großen Herden von Kamelen und Kleinvieh in einem ariden
Gebiet Nordkenias. Die Vegetation variiert zwischen Akazien savanne, die allerdings nur an den Ufern der meist trockenen Flußbetten anzutreffen ist. Dornbuschsteppe
und — am anderen Extrem — baumloser Wüste.
Der Kalender der RendiUe ist sehr elaboriert. Unabhängig voneinander existieren
das Sonnenjahr und der Zyklus von zwölf empirischen Monaten. Das Datum wird
als Tag des Mondzyklus' angegeben und Zeitspannen werden in Monaten und Tagen
berechnet. Bei der Terminfestsetzung für ein Fest, das nur einmal un (Sonnen-!)Jahr
* Eine ausführlichere Fassung dieses Vortrags ist im Band der Marburger Studien zur Afrika
^ unä Asienkunde abgedruckt.
1 In dieser Kurzfassung analysiere ich nur den zweiten Begriff
2 Diese Sprache habe ich in einem Anhang zu meiner Dissertation grammatisch beschrieben:
Schlee, Günther: Das Glaubens- und Sozialsystem der Rendille. Kamelnomaden Nordkenias, Diss. phil. Hamburg 1977 (noch unveröffentlicht), S. 547-629.
XX. Deutscher Orientalistentag 1977 in Erlangen