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Archiv "Unterschiedliches Rollenverhalten: Arztberuf und soziales Geschlecht" (08.10.1999)

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or hundert Jahren wurden Frauen erstmals im Großher- zogtum Baden zum Medizin- studium in Deutschland zugelassen; zur gleichen Zeit berichtete die Zeitschrift

„Medizinische Reform“ über diese vor allem in der Professorenschaft als revo- lutionär empfundene Neuerung unter dem Titel „Weibliche Ärzte“ – der Be- griff Ärztin war noch gar nicht geläufig.

Im badischen Heidelberg wurde 1906 mit Anna Martha Kannegieser die er- ste Studienabsolventin zur Doktorin der Medizin promoviert – mit einem Thema aus der Kinderheilkunde, ein Indikator weiterhin geltender Ge- schlechterstereotype?

Hundert Jahre später beginnen genauso viele Frauen wie Männer ein Medizinstudium. Im Rahmen der so- zialwissenschaftlichen Geschlechter- forschung sind die „Marginalität von Frauen in hochqualifizierten Beru- fen“ (Wetterer: 1992) oder „Ge- schlecht als struktu-

rierendes Prinzip zahnärztlich-profes- sioneller Tätigkeit“

(Kuhlmann: 1999) heute zentrale The- men der feministi- schen Forschung ei- nerseits und der Frauenforschung an- dererseits. Nahezu ausschließlich Frau- en gehen allerdings solchen Fragen nach.

Darum dürfte wie vor hundert Jahren der „weibliche Arzt“ heute der

„männliche Frauenforscher“ als der gleichermaßen bestaunte wie einer zumindest unbewußten Parteilichkeit verdächtige Exot wirken, in diesem Fall Gerd Reifferscheid (1997), „So- ziales Geschlecht und ambulante Ver-

sorgung – Medizinerinnen in der pri- märärztlichen Versorgung“.

Einige der zentralen und interes- santesten Ergebnisse dieser Disserta- tion, die im Rahmen des Forschungs- projektes „Arztberuf und Ärztliche Praxis“ an der Universität Köln ent- stand, werden hier erstmals einer brei- teren Öffentlichkeit vorgestellt. Dar- über hinaus wurden neue, zusätzliche Auswertungen der im Jahr 1992 bei diesem Projekt erhobenen Daten rea- lisiert, etwa zum Thema „Berufsver- erbung“. Von 3 000 repräsentativ aus- gewählten, niedergelassenen Allge- meinmedizinern und Internisten aus den alten und neuen Bundesländern beteiligten sich 1 810 an den schrift- lichen Befragungen; die bereinigte Stichprobenausschöpfung erreichte da- mit den hohen Wert von 63,6 Prozent.

In der Befragung konnte eine ähnli- che geschlechtsspezifische Verteilung, wie sie die Ärztestatistik für die alten

und die neuen Bundesländer aus- weist, erzielt werden.

Nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten wurde deutlich, wie unterschiedlich die poli- tischen und ökonomischen Systeme geprägt waren. Dies zeigte sich auch in der unterschiedlichen Beteiligung

von Frauen am Erwerbsleben. So wa- ren in der ehemaligen DDR 51 Pro- zent der Frauen erwerbstätig; in der alten Bundesrepublik waren es dage- gen nur 40 Prozent der Frauen. Dieses generelle Muster weiblicher Berufs- tätigkeit in Ost und West hat auch Gül- tigkeit in bezug auf die ärztliche Berufs- ausübung.

Höherer Anteil von Ärztinnen im Osten

So betrug der Anteil der Ärztin- nen zum 31. 12. 1991 in der Bundesre- publik Deutschland insgesamt 33,6 Prozent; im Bereich der alten Bundes- länder lag dieser Anteil bei 29,7 Pro- zent, in den neuen Bundesländern bei zirka 50 Prozent. Für den Stichtag 31. 12. 1998 weist die Bundesärzte- kammer für die neuen Bundesländer einen Ärztinnenanteil von 50,3 Pro- zent, für die alten Bun- desländer von 36,9 Pro- zent an der jeweiligen Gesamtärzteschaft aus;

bezogen auf die gesam- te Bundesrepublik liegt der Anteil der Ärztin- nen bei 38,7 Prozent.

Die Zahl der All- gemeinmediziner, Prak- tischen Ärzte und Inter- nisten, die an der kas- senärztlichen Versor- gung beteiligt sind, lag zum 31. 12. 1998 bei 63 554 Ärztinnen und Ärzten. Der Anteil der Ärztinnen liegt hier bei 31,5 Prozent. Die Mar- ginalität von Frauen in der ärztlichen Praxis ist insbesondere für die alten Bundesländer nachweisbar, auch wenn der Anteil der Ärztinnen hier

zunimmt. !

T H E M E N D E R Z E I T AUFSÄTZE

Unterschiedliches Rollenverhalten

Arztberuf und soziales Geschlecht

Sind „weibliche“ Ärzte die besseren Ärzte?

Ergebnisse einer breitangelegten Ärztebefragung

V

Tabelle 1

Berufsvererbung bei Ärztinnen und Ärzten durch Eltern und Großeltern im Ost-West- Vergleich (in Prozent)

Eltern Großeltern

Befragte Vater Mutter Großvater Großmutter

Ärzte West 26,0 4,4 9,8 0,4

Ärztinnen West 24,3 8,6 9,3 0,7

Ärzte Ost 11,7 0,8 3,3 0,0

Ärztinnen Ost 9,4 2,1 3,9 0,6

Gerd Reifferscheid

Gerhard Kunz

(2)

Zur Beantwortung der Frage, welche Einflüsse für die Entscheidung zum ärztlichen Beruf wirksam wer- den, untersuchten wir die Rolle der Berufsvererbung innerhalb der Fami- lie. Waren die Eltern oder Großeltern als Mediziner tätig?

Bei 27 Prozent der befragten Ärztinnen und Ärzte aus der ehema- ligen BRD war wenigstens ein Eltern- teil ärztlich tätig; in der ehemaligen DDR lag dieser Anteil bei 11,1 Pro- zent, bezogen auf die gesamte Bun- desrepublik sind es 23,8 Prozent. Be- rufsvererbung über den Vater hat so- wohl bei Ärztinnen wie auch bei Ärz- ten einen großen Einfluß. Der Ein- fluß der Mutter scheint bei den Töch- tern größer zu sein als bei den Söh- nen. Bei der Rolle der Großeltern muß berücksichtigt werden, daß Frauen erstmals zu Beginn des 20.

Jahrhunderts zum Medizinstudium zugelassen wurden.

Die Berufsvererbung bei Ärztin- nen und Ärzten im Osten ist geringer als im Westen (Tabelle 1). Dies liegt wesentlich im politischen Systemun- terschied begründet. Ziel der Bil- dungspolitik in der ehemaligen DDR war es, das „bürgerliche Bildungsmo- nopol“ zu brechen und damit den Fa- milieneinfluß auf die Berufsentschei- dung zurückzudrängen. So kam es zu

einer gezielten Bevorzugung system- loyaler Arbeiter- und Bauernkinder und einer Behinderung der eher sy- stemkritischen bürgerlichen Schicht.

Der hohe Anteil von Ärztinnen wur- de in den ehemaligen sozialistischen Ländern politisch gesteuert.

Wahrnehmung der Geschlechtsrolle

Eine wesentliche Forschungsfra- ge der Studie „Arztberuf und Ärzt- liche Praxis“ lautete: Schlägt die kul- turell universelle Geschlechterrolle auf die spezifische und eigentlich neu- trale Berufsrolle durch? Das Instru- ment der wissenschaftlichen Sozial- forschung, mit dem Probleme dieser Art untersucht werden, ist das lang- jährig erprobte „semantische Diffe- rential“ (Osgood u. a. 1957), bei dem affektive und kognitive Komponen- ten eines bestimmten Einstellungsob- jektes im paarweisen Vergleich polar definierter Eigenschaften erhoben werden. In unserer Untersuchung wurden die befragten Ärzte (Ärztebe- fragung) und Patienten (in einer ge- sondert durchgeführten Bevölke- rungsbefragung) gebeten, die „typi- sche Ärztin“ und den „typischen Arzt“ anhand von Gegensatzpaaren

auf einer siebenstufigen Skala einzu- ordnen. Es sollte die Frage beantwor- tet werden: „Welche der folgenden Eigenschaften würde man allgemein eher einer/m Ärztin/Arzt zuordnen?“

Um die Aussagefähigkeit der Befra- gungsdaten möglichst anschaulich zu erhalten, haben wir eine graphische Darstellung gewählt, bei der die ein- gezeichneten Linien die Mittelwerte der jeweiligen Befragtenpopulation zu einem Profil verbinden. Die perzi- pierten Rolleneigenschaften können für jedes Gegensatzpaar unmittelbar aus dem Schaubild abgelesen werden.

Wir beschränken uns an dieser Stelle auf zwei allgemeine Interpretationen, die durch die in der Dissertation im einzelnen ausgewiesenen statistischen Maße gestützt werden.

Ganz anders sieht es bei den be- fragten Ärzten aus: diese differenzie- ren mehr in Richtung vermuteter Ge- schlechtsrollenunterschiede zwischen Ärztinnen und Ärzten (Grafik 2).

Die Größe der kassenärztlichen Praxis wird wesentlich mitbestimmt durch die Zahl der Krankenscheine, die jedes Quartal abgerechnet wer- den. Sie sind die Grundlage für die Leistungen, die der Arzt pro Patient abrechnen kann. Über die erbrachten ärztlichen Leistungen am Patienten sagt die Anzahl der Krankenscheine

T H E M E N D E R Z E I T AUFSÄTZE

Grafik 2

Eigenschaften von Ärzten und Ärztinnen nach Einschätzung der Profession Grafik 1

Rollenzuschreibungen bei Ärzten und Ärztinnen durch die Bevölkerung

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allerdings nichts aus. Vielmehr stellt die Anzahl der Krankenscheine einen Indikator für die Größe der Praxis, die Anzahl der behandelten Patienten und letztendlich auch des Einkom- mens dar(Tabelle 2).

Die Analyse zeigt, daß der größte Anteil der Ärztinnen (32,3 Prozent) 400 bis 800 Krankenscheine im Quar- tal abrechnet. Im nächsthöheren Seg- ment (801 bis 1 200 Scheine) findet sich mit 29,5 Prozent ein ähnlich hoher Anteil. Bei den Ärzten findet sich je- weils ein Viertel der Mediziner in den Segmenten 400 bis 800 Scheine (25,1 Prozent), 801 bis 1 200 Scheine (28,0 Prozent) und 1 201 bis 1 600 Scheine (23,4 Prozent). Deutlich wird, daß männliche Mediziner in der Tendenz mehr Scheine abrechnen als die Kolle- ginnen. Da die Anzahl der Kranken- scheine mit der Anzahl der Patienten, die den Arzt/die Ärztin aufsuchen, li- near zusammenhängt, läßt sich aus diesem Ergebnis folgern, daß Ärztin- nen eine geringere Anzahl Patienten pro Zeiteinheit haben.

In unserer Untersuchung wurde auch erfaßt, wie viele Patienten der Arzt oder die Ärztin in der Praxis selbst sieht. Allgemeinmediziner se- hen in der Einzelpraxis durchschnitt- lich 47 Patienten am Tag selbst (73,4 Prozent von 64 Patienten täglich), Fachärzte sehen 39 Patienten selbst (67,2 Prozent bei 58 Patienten in der täglichen Praxis). Allerdings zeigt sich ein signifikanter Unterschied zwi- schen Ärztinnen und Ärzten in der Allgemeinmedizin. So werden von den männlichen Kollegen durch- schnittlich 49 Patienten (70,0 Prozent bei 70 Patienten pro Tag in der Praxis) selbst gesehen, bei den weiblichen Kollegen sind es 41 Patienten (78,8 Prozent bei 52 Patienten in der Pra- xis). Für die Fachärzte zeigt sich ein

ähnlicher Unterschied, auch wenn er statistisch nicht signifikant ist. Hier se- hen die Ärzte 39 Patienten von 60 und Ärztinnen 31 Patienten von durch- schnittlich 44 selbst.

Zusammengefaßt heißt das: Die männlichen Allgemeinmediziner in der Einzelpraxis sehen 70 Prozent, de- ren Kolleginnen 79 Prozent der Pati- enten, die täglich die Praxis durchlau- fen. Die Fachärzte sehen 65 Prozent der Patienten selbst, die Fachärztin- nen 70 Prozent der Patienten. Man kann davon ausgehen, daß die Lei- stungen, welche die Ärzte an Patien- ten selbst erbringen, in der Regel mehr individuelle Zuwendung für den Patienten bedeuten und damit ko- stenintensiver für den Arzt sind. So lassen sich teilweise Einkommensun- terschiede zwischen Ärztinnen und Ärzten erklären. So konnten wir er- mitteln, daß das Einkommen von Ärztinnen oftmals geringer war als das von Ärzten in einer vergleichba- ren Praxis.

Abbau von

Benachteiligungen

In unserer Untersuchung wurden auch Vorstellungen zum Abbau ge- schlechtsspezifischer Benachteiligun- gen von Ärztinnen erfragt: Insgesamt hatten wir sechs einzelne Handlungs- optionen aufgelistet; bei jeder einzel- nen konnte der Grad der Zustimmung bzw. Ablehnung anhand einer nicht- numerischen Siebener-Skala beurteilt werden. Die Handlungsoptionen wur- den nach zwei Hauptarten von Inter- ventionen gruppiert (Reifferscheid 1997:207ff.).

1. Strukturelle Maßnahmen – Vertretung der berufspolitischen Belange in Ärzteverbänden und KV,

– Beachtung der Bedürfnisse von Ärztinnen in der Weiterbildung,

– Förderung des beruflichen Wie- dereinstiegs nach Familienphase,

– Teilzeitarbeit und Job-sharing in der Einzelpraxis.

2. Politische Maßnahmen

– Vertretung der berufspoliti- schen Belange in geschlechtsspezifi- schen Verbänden,

– Quotierung von Positionen für Ärztinnen.

Die Befragung ergab, daß politi- sche Maßnahmen von der Ärzteschaft eher abgelehnt wurden; Zustimmung fanden – insbesondere bei den Ärztin- nen – strukturelle Maßnahmen. In die- ser Beurteilung spiegelt sich wider, daß Frauen im Arztberuf nur zu einem ge- ringen Maße einem feministischen Grundverständnis folgen und zur Durchsetzung ihrer Interessen weniger auf politische Maßnahmen setzen. Die Zustimmung der Frauen zu strukturel- len Maßnahmen ist nicht verwunder- lich. Maßnahmen wie Teilzeitarbeit und Förderung des beruflichen Wie- dereinstiegs bedeuten konkrete Ver- besserungen für die berufliche Situati- on von Frauen. Die Enttäuschungen über politische Maßnahmen mögen hier eine Rolle spielen. Auch die Erfah- rungen der Frauen aus der ehemaligen DDR dürften sich hier widerspiegeln.

Trotz formaler Gleichstellung und Überwindung der geschlechtsspezifi- schen Rollenzuweisung übernahm die Frau weiterhin frauenspezifische Auf- gaben und unterlag der häufigen Dop- pelbelastung (beruflich/familiär). Kurz formuliert: Statt Ideologie werden kon- krete Verbesserungen eingefordert.

Im Rahmen unserer Untersu- chung lassen sich folgende Ergebnisse feststellen:

1. Ärztinnen haben im Durch- schnitt ein geringeres Einkommen als

T H E M E N D E R Z E I T AUFSÄTZE

Tabelle 2

Anzahl der Krankenscheine pro Quartal in der Einzelpraxis im geschlechtsspezifischen und im Ost-West-Vergleich (in Prozent)

Anzahl Ärzte Ärztinnen Ost West Ärzte Ärztinnen Ärzte Ärztinnen Gesamt-

Ost Ost West West ärzteschaft

unter 400 10,9 21,6 4,8 16,5 5,4 4,4 11,7 30,8 14,1

400 bis 800 25,1 32,3 25,8 27,4 23,3 28,0 25,4 34,6 27,2

801 bis 1 200 28,0 29,5 41,1 25,4 39,1 42,8 26,5 22,4 28,5

1 201 bis 1 600 23,4 14,3 22,9 20,0 24,0 21,7 23,3 10,3 20,7

über 1 600 12,5 2,3 5,3 10,7 8,2 3,1 13,1 1,8 9,5

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T H E M E N D E R Z E I T

ihre männlichen Kollegen. Eine Er- klärung dafür ist, daß Ärztinnen mehr Patienten selbst sehen und auch mehr Zeit für diese aufwenden. Ein generelles Erklärungsmuster ist die unterschiedliche Geschlechtsrollen- wahrnehmung, die sich insbesondere innerhalb der ärztlichen Profession zeigt.

2. Die Berufsvererbung findet bei Ärztinnen wie bei Ärzten in erster Li- nie über den Vater statt, wirkt jedoch besonders dort, wo die politische Steuerung in der akademischen Aus- bildung geringer war. Der hohe Anteil von Ärztinnen in der ehemaligen DDR ist Ausdruck einer Steuerung des politischen Systems, nicht der Be- rufsvererbung.

3. Wenn wir die eingangs gestellte Frage „Sind weibliche Ärzte die besseren Ärzte?“ an dieser Stelle nochmals betrachten, kann die Ant- wort nur heißen: Ärztinnen sind nicht generell die besseren Ärzte; im funk- tionalen Berufsverständnis zeigen sich andere berufliche Handlungsmu- ster. Diese haben ihren Ursprung un- ter anderem in der eigenen ge- schlechtsspezifischen, teilweise tradier- ten Rollenkonzeption von Ärztinnen.

4. Der Ausgleich oder die Ver- besserung der Situation von Ärztin- nen wird am ehesten in der Realisie- rung struktureller Maßnahmen gese- hen, die u.a. die Doppelbelastung von Frauen und deren Folgen mindern sollen. Die Wahrnehmung solcher Aufgaben wird den ärztlichen Interes- senverbänden zugeschrieben, nicht aber geschlechtsspezifisch struktu- rierten Institutionen.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärztebl 1999; 96: A-2493–2498 [Heft 40]

Literatur bei den Verfassern

Anschrift der Verfasser Dr. Gerd Reifferscheid Palsweiser Straße 33 82140 Olching

Prof. Dr. Gerhard Kunz (em.) Universität zu Köln

Seminar für Sozialwissenschaften Gronewaldstraße 2

50931 Köln

AUFSÄTZE/BERICHTE

arüber, wie man Glück defi- niert, scheiden sich die Gei- ster. Dennoch sind die West- deutschen einer Umfrage zufolge glücklicher und zufriedener mit ihrem Leben als die Ostdeutschen. Das be- zieht sich vor allem auf Beruf, Ein- kommen/finanzielle Situation, Ge- sundheit und Freizeitgestaltung. Zu- friedener äußerten sich die Ostdeut- schen nur über ihre privaten Bezie- hungen: Familie, Kinder, Partner- schaft und Sexualität. Damit werde ihr Gesamtdefizit an Wohlbefinden jedoch nicht aufgewogen, interpre- tierte Prof. Dr. Elmar Brähler, Leiter der Abteilung Medizinische Psycho- logie und Medizinische Soziologie der Universität Leipzig, die Ergebnisse der vergleichenden Ost-West-Unter- suchung „Deutsche – zehn Jahre nach der Wende“ vom April dieses Jah- res, die er gemeinsam mit Prof. Dr.

med. Dr. Horst-Eberhard Richter, Geschäftsführender Direktor des Sig- mund-Freud-Institutes Frankfurt am Main, initiierte.

Im Auftrag der Universität Leipzig und des Sigmund-Freud-In- stituts befragte das Meinungsfor- schungsinstitut Usuma je 1 000 Ost- und Westdeutsche im Alter von 14 bis 50 Jahren zu Lebenszufriedenheit sowie zu gesellschaftlichen und poli- tischen Fragen. Als einen „Prozeß des Auseinanderdriftens“ beschreibt Brähler die gegenwärtige psychische Befindlichkeit der Deutschen. Wäh- rend sich die Westdeutschen auch in einem harten sozialen Klima als wi- derstandsfähig einschätzen, blicken die Ostdeutschen nach wie vor pessi- mistischer in die Zukunft. Daß die

gesellschaftlichen Spannungen in den nächsten Jahren zunehmen werden, glaubt indes die Mehrheit der Be- fragten in Ost und West: So werde sich die Kluft zwischen Arm und Reich erweitern (86 Prozent der Ost- und 75 Prozent der Westdeutschen) und das Gemeinschaftsgefühl in Deutschland zurückgehen (71 Pro- zent der Ost- und 51 Prozent der Westdeutschen). Allerdings vermu- ten die Westdeutschen, daß sie mit ei- ner solchen gesellschaftlichen Ent- wicklung persönlich besser zurecht- kommen und in fünf Jahren mit ihrem Leben sogar zufriedener sind als heute, wohingegen die Ostdeut- schen das Gegenteil befürchten.

Defizit an Wohlbefinden im Osten

Sie teilen die Welt auch stärker in zwei getrennte Bereiche ein: in einen

„Harmonie und gefühlsmäßige Be- friedigung versprechenden Intimbe- reich“ und eine „unfreundliche und Mißtrauen erweckende Außenrea- lität“. In der Partnerschaft dominie- ren bei den Ostdeutschen Offenher- zigkeit und das Bedürfnis nach Zu- wendung; die Sorge, in der Partner- schaft nicht anerkannt zu werden, ist geringer als bei den Westdeutschen.

Gleichzeitig befriedigen diese Bezie- hungen sie sehr: Die Menschen in den neuen Bundesländern könnten sich offenbar besser mit ihren Gefühlen und Wünschen in persönlichen Bezie- hungen ausleben, konstatierten die Forscher. „Die These von ihrer an- geblichen emotionalen Verkümme-

Psychologische Ost-West-Studie

Westdeutsche zufriedener und optimistischer

Die Hoffnungen auf das psychische Zusammenwachsen von Ost- und Westdeutschland haben sich zehn Jahre nach der Wiedervereinigung nicht erfüllt. In vielen Lebensbereichen bestehen noch deutliche Unterschiede.

D

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rung infolge frühkindlicher Entbeh- rungen“, die vor einigen Monaten der Leiter des Kriminologischen For- schungsinstitutes Hannover, Christian Pfeiffer, aufgestellt hatte, „stimmt nach unseren Befunden nicht.“ Im Gegenteil: „Ostdeutsche erinnern sich an eine bessere Erziehung durch ihre Eltern als Westdeutsche“, so Brähler.

Von der Außenwelt fühlen sich die Ostdeutschen jedoch zunehmend bedroht. So wächst die Angst vor Ausländern (58 Prozent der Ost- und 45 Prozent der Westdeutschen), ein härterer Umgang mit Kriminalität und Unmoral wird gewünscht (69 Pro- zent der Ost- und 53 Prozent der Westdeutschen), 58 Prozent der Ost- deutschen und 37 Prozent

der Westdeutschen sehen in der Todesstrafe ein ge- eignetes Mittel, um Verbre- chen zu bekämpfen. Die Ostdeutschen erwarten ei- ne „strengere autoritäre Kontrolle des Bösen von draußen, vor dem sie in dem warmen Klima ihrer sozialen Binnenwelt ver- schont bleiben wollen“, heißt es in der Studie. Der deutschen Beteiligung am Nato-Einsatz im Kosovo- Krieg standen die Befrag- ten in den neuen Bundes- ländern kritischer gegen- über: 56 Prozent der Ost- deutschen und 38 Prozent der Westdeutschen lehnen den Einsatz deutscher Sol- daten ab.

Für ein zaghaftes Zu- sammenwachsen sprechen jedoch die Ergebnisse der im Januar dieses Jahres von Brähler, Dr. Hendrik Berth (Technische Univer- sität Dresden) und Prof.

Dr. Wolf Wagner (Fach- hochschule Erfurt) vorge- legten Untersuchung zu all- tagskulturellen Differen- zen von Ost- und Westdeut- schen. In dieser Studie

wurden 1 030 Ost- und 1 020 West- deutsche zu Handlungsmustern und Einstellungen, zu Themen von Alltags- gesprächen, Arbeitseinstellung und dem Verhältnis der Geschlechter, be-

fragt. „Da sich bei keiner Frage ein wirklich gegensätzliches Antwortmu- ster in Ost und West zeigte“, heißt es in der Studie, „kann gefolgert wer- den, daß die Gemeinsamkeiten all- tagskultureller Einstellungen bei Ost- und Westdeutschen eindeutig über- wiegen.“

Alltagskultur: Zaghaftes Zusammenwachsen

Erwartet hatte man größere Dif- ferenzen aufgrund der stärkeren ame- rikanischen und mittelständischen Orientierung der Westdeutschen. „Die deutlichsten Unterschiede fanden wir bei Verhaltensweisen, die zur Entste-

hung von Mißverständnissen und Vor- urteilen beitragen können“, erklärte Brähler. So geben sich Ostdeutsche zur Begrüßung häufiger die Hand.

„Es mag ein trivial zu nennender Be-

fund sein“, so Brähler, „für eine An- näherung ist es jedoch wichtig, diese Differenz zu erkennen und zu akzeptie- ren.“ Während Westdeutsche nur bei förmlichen Anlässen die Hand geben, so eine zwanglose Atmosphäre schaf- fen und zugleich den Kontakt zu unge- liebten Personen vermeiden, erzeugen Ostdeutsche durch das tägliche Hände- schütteln eine größere Nähe und zeigen Beachtung für jede Person. Ostdeut- sche könnten nun das Nicht-Handge- ben eines Westdeutschen als Arroganz wahrnehmen und umgekehrt West- deutsche das ständige Handgeben von Ostdeutschen als aufdringlich empfin- den, interpretierte der Psychologe.

Entgegen den Erwartungen fan- den sich keine Differenzen zwischen Ost- und Westdeutschen hinsichtlich der Konflikt- bereitschaft und der Ar- beitseinstellung, galt doch bisher der Westdeutsche als konfliktbereit und er- gebnisorientiert, wohinge- gen der Ostdeutsche versu- che, Konflikte zu überspie- len, Gemeinsames zu beto- nen und detaillierte An- weisungen für die meisten Arbeitsschritte bevorzuge.

Daß dies nicht (mehr) so ist, zeigten die Studiener- gebnisse. Dabei sprachen sich die Jüngeren stär- ker für das Austragen von Konflikten und einen er- gebnisorientierten Arbeits- stil aus als die älteren Stu- dienteilnehmer.

Aufgrund der über- wiegenden alltagskulturel- len Gemeinsamkeiten kön- ne man die gegenwärtigen Schwierigkeiten und un- terschiedlichen Verhaltens- weisen (etwa in der Politik), so die Initiatoren der Stu- die, nicht wie nach der Wiedervereinigung mit dem Kulturschockmodell erklä- ren. Dort, wo der Aufstieg in das neue System möglich geworden sei, seien Diffe- renzen trotz Schwierigkeiten über- wunden. Wo dies nicht möglich war oder ist, entwickelten sich zunehmend radikale linke und rechte Gegenkul-

turen. Eva Hofmann

T H E M E N D E R Z E I T BERICHTE

Freunde/

Bekannte

Freizeitgestaltung/

Hobbys

Gesundheit

Einkommen/

finanzielle Lage

Beruf/Arbeit

Wohnsituation

Familienleben/

Kinder

Partnerschaft/

Sexualität

3 3,5 4

***

***

***

***

***

***

3,91 3,94

3,55 3,74

3,85 3,98

3,13

3,52

3,23

3,60

3,79 3,80

3,98 3,79

3,89 3,71

Lebenszufriedenheit nach Bereichen

*** p<0.001 (1 = unzufrieden, 5 = sehr zufrieden)

West Ost

***

***

Grafik

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