PTBS, häusliche Gewalt und
Kinderarbeit eine epidemiologische Untersuchung von Schulkindern in
Kabul, Afghanistan
Diplomarbeit im Fachbereich Psychologie der Universität Konstanz
vorgelegt von
JeanPaul Leo François Bette
Nelkenstr. 2, 78604 RietheimWeilheim
Erstgutachter: Prof. Dr. Thomas Elbert
Zweitgutachterin: Dr. Johanna Kißler
Jahrzehntelange bewaffnete Konflikte und Bürgerkrieg haben in Afghanistan ihre zer
störerischen Spuren an Land und Menschen hinterlassen. Kinder, die heute in Afghanis
tan aufwachsen, haben mit zahllosen materiellen, sozialen und psychischen Schwierig
keiten fertig zu werden.
Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine epidemiologische Studie, die das Vorkommen von PTBS innerhalb einer Stichprobe von 287 Schulkindern aus Kabul untersucht. Die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) ist eine klinische Diagnose, die in ehemaligen Krisengebieten und Konfliktregionen häufig vertreten ist. Daher wur
de auch in dieser Stichprobe eine erhöhte Prävalenz erwartet. Außerdem wurde eine Korrelation der Anzahl traumatischer Erlebnisse und der Stärke der PTBSSymptomatik im Sinne eines DosisEffektes vorhergesagt. Weitere aufgrund der Literatur erwartete Hypothesen waren ein erhöhtes Niveau somatischer Beschwerden bei Kindern, die an PTBS leiden und ein Zusammenhang von kriegerischen Gewalterfahrungen, häuslicher Gewalt, Kinderarbeit und der PTBSSymptomatik.
In einer Zusammenarbeit der Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ), der Caritas, der Nichtregierungsorganisation vivo international e.V. und der Universität Konstanz wurden die 7 bis 14 Jahre alten Kinder von einer Gruppe ortsansässiger psy
chosozialer Berater interviewt. Verwendet wurde ein soziodemographischer Fragebogen, eine Ereignisliste zu Erlebnissen kriegerischer und häuslicher Gewalt, sowie der UCLA PTSD Index. Im Anschluss an die ScreeningInterviews wurde eine randomisierte Grup
pe von 49 Kindern von klinischen Experten ein zweites Mal befragt, um die zuvor erho
benen Daten zu validieren. Bei diesen ValidierungsInterviews wurde der CAPSCA Fragebogen zur Erhebung der PTBSSymptome verwendet.
Mit 20,9% der untersuchten Kinder, welche die Kriterien für eine PTBS nach DSM
IV erfüllten, war die Prävalenz dieser Störung im Vergleich zu NormalPopulationen deutlich erhöht. Die Kinder mit PTBS zeigten ein signifikant höheres Niveau somati
scher Beschwerden. Knapp ein Drittel aller Kinder berichtete von mehr als fünf Typen häuslicher Gewalterfahrungen und gut die Hälfte der Kinder berichtete über mindestens eine kriegerische Gewalterfahrung. 23% der Jungen und 12,3% der Mädchen berichteten über drei oder mehr Typen traumatischer Erfahrungen. Drogenkonsum schien in der er
hobenen Stichprobe kein nennenswertes Thema zu sein, nahezu alle Kinder beantworte
ten die Fragen hierzu negativ.
Mittels einer linearen Regressionsanalyse wurden verschiedene Risikofaktoren für das Vorkommen häuslicher Gewalt und die Stärke der PTBSSymptomatik berechnet.
Als signifikante Prädiktoren häuslicher Gewalt ergaben sich die Größe und Armut des Haushaltes, in welchem die Kinder lebten, die Anzahl von Typen kriegsbedingter Ge
walterfahrungen, die das Kind gemacht hatte und die tägliche Arbeitszeit des Kindes.
Viele der untersuchten Kinder arbeiteten, um Geld für ihre Familie hinzu zu verdienen und waren bis zu 12 Stunden am Tag mit der Herstellung von Teppichen beschäftigt.
Die tägliche Arbeitszeit der Kinder erwies sich neben der Anzahl an Typen häuslicher und kriegsbedingter Gewalterfahrungen ebenfalls als ein Prädiktor für die Stärke der PTBSSymptomatik.
Die Analyse der ValidierungsInterviews ergab eine hinreichend große Übereinstim
mung mit den ScreeningInterviews und bestätigt die Validität der von den einheimi
schen Interviewern erhobenen Daten.
Die Studie macht einen Zusammenhang von häuslicher Gewalt und Kinderarbeit deutlich. Weiterer Forschungsbedarf besteht, um die schädlichen Auswirkungen von Kinderarbeit insbesondere in Hinblick auf PTBS genauer zu untersuchen. Ebenfalls deutlich wird ein übergreifender Zusammenhang kriegerischer Gewalt, häuslicher Ge
walt und der Entwicklung von PTBS.
Zusammenfassung...2
1 Einleitung...7
2 Theorie...9
2.1 Zu Afghanistan...9
2.1.1 Geographie und Geschichte...9
2.1.2 Kultur und Gesellschaft...10
2.1.3 Die Situation von Kindern in Afghanistan...12
2.2 Kinder und familiäre Gewalt...17
2.2.1 Definition...17
2.2.2 Prävalenzraten häuslicher Gewalt...19
2.2.3 Risikofaktoren für häusliche Gewalt...20
2.2.4 Auswirkungen von Gewalt an Kindern...20
2.3 PTBS in ehemaligen Kriegsgebieten...24
2.3.2 Risikofaktoren für PTBS bei Kindern...29
2.3.3 DosisEffekt ...34
2.4 Psychische Gesundheit in Afghanistan...35
2.5 Fragestellung und Hypothesen...39
3 Methoden...42
3.1 Stichprobenbeschreibung...42
3.1.1 Dashti Barchi Distrikt...42
3.1.2 Zustand der Schulen und Situation der Lehrkräfte...42
3.1.3 Soziodemographische Daten...44
3.1.4 Geschlechtsspezifische Unterschiede...45
3.2 Prozedur...46
3.2.1 ScreeningInterview durch lokale Counsellor...46
3.2.2 ValidierungsInterviews durch klinische Experten...48
3.3 Instrumente...48
3.3.1 Soziodemographischer Fragebogen und erweiterte Ereignisliste...48
3.3.2 UCLA PTBS Index...50
3.3.3 M.I.N.I. KID...50
3.3.4 CAPSCA...51
3.4 Statistische Analysen...51
4 Ergebnisse...52
4.1 Somatische Beschwerden der Kinder...52
4.2 Drogenkonsum...53
4.3 Kinderarbeit...53
4.4 Gewalterfahrungen und traumatische Erlebnisse...54
4.4.1 Gewalt in der Familie...54
4.4.2 Kriegsbedingte Gewalterfahrungen der Kinder...57
4.4.3 Traumatische Ereignisse...57
4.5 PTBS...58
4.5.1 PTBSPrävalenz...58
4.5.2 PTBS und gesundheitliche Beschwerden...59
4.6 Prädiktoren für häusliche Gewalt...59
4.7 Prädiktoren der PTBSSymptomatik...60
4.7.1 Schwere der PTBS Symptome und Anzahl von Typen stressvoller Ereignisse – DosisEffekt...61
4.8 Übereinstimmung der PTBS Diagnosen...62
4.9 M.I.N.I. KID Interview...63
5 Diskussion...64
5.1 Gesundheitliche Beschwerden...64
5.2 Drogenkonsum...64
5.3 Kinderarbeit...65
5.4 Gewalterfahrungen...66
5.5 PTBS...67
5.5.1 Prävalenz...67
5.5.2 PTBS und gesundheitliche Beschwerden...69
5.6 Zusammenhang von Krieg, häuslicher Gewalt und PTBS...69
5.6.1 Prädiktoren häuslicher Gewalt ...69
5.6.2 Prädiktoren der PTBSSymptomatik...71
5.7 Validität der PTBSDiagnose...73
5.8 Kritik...74
5.8.1 Kulturelle Aspekte...74
5.8.2 Selektivität der Stichprobe...75
5.8.3 Instrumente und Analysen...76
5.9 Ausblick...76
Literaturverzeichnis...79
Anhang...87
A: Soziodemographischer Fragebogen...87
B: Erweiterte Ereignisliste...90
C: Fragen zu Drogenmissbrauch...93
D: Fragen zu Kriterium F...94
1 Einleitung
Seit der Invasion durch sowjetische Truppen im Jahre 1979 ist Afghanistan nicht mehr zur Ruhe gekommen. Bald drei Jahrzehnte an kriegerischen Konflikten haben eine Spur der Zerstörung auf zahlreichen Ebenen des Landes und der Gesellschaft gezogen. Die ständigen kriegerischen Aktivitäten haben nicht nur materielle Ressourcen zerstört und unzählige Menschenleben gekostet, sondern haben auch tiefe psychische Wunden bei den Hinterbliebenen, Verwundeten, Verfolgten und ihren Kindern und Kindeskindern hinterlassen.
Die Grausamkeiten, die in Afghanistan an Menschen begangen wurden, sind von un
geheurem Ausmaß, und beinahe jeder Einwohner des Landes ist von Gewalt direkt oder indirekt betroffen (UK Home Office 2006). Während der kommunistischen Revolution im Jahre 1978, deren Niederschlagung im Jahre 1979 und dem anschließenden Ein
marsch sowjetischer Truppen, dem ausbrechenden Bürgerkrieg nach dem Rückzug der sowjetischen Truppen, dem Einmarsch und der folgenden repressiven Herrschaft der Ta
liban und deren Niederschlagung durch USgeführte Truppen wurden zahllose Kriegs
verbrechen und Verbrechen an der Zivilbevölkerung begangen, und zwar von allen Sei
ten der Kämpfenden. Groß angelegte Massaker, das Verschwindenlassen und Exekutie
ren von Personen, ungezielter Beschuss mit Raketen und großflächige Bombardierungen haben die Leben vieler hunderttausend Zivilisten gekostet. Dazu kamen Folter, Massen
vergewaltigungen und andere Grausamkeiten. Ein Versuch, all dieses Unrecht der ver
gangenen Jahrzehnte – wenn auch nur unvollständig – zu dokumentieren findet sich in einem Bericht von „The Afghanistan Justice Project“ (2005).
Millionen von Afghanen sind während der kriegerischen Aktivitäten ins Ausland ge
flüchtet. Afghanistan hat nach Palästina die zweitgrößte Anzahl von Flüchtlingen und Vertriebenen in der Welt. Schätzungen ergaben, dass jeder dritte Afghane ein Flüchtling oder ein Vertriebener war. Im Jahre 2002 befanden sich noch ca. sechs Millionen afgha
nischer Flüchtlinge im Iran und in Pakistan. Seit dem Sturz der Taliban kehren Millio
nen von ihnen in ihre Heimat zurück und stellen das Land damit vor zusätzliche Heraus
forderungen (UNDP 2004).
Eine weitere Hinterlassenschaft der kriegerischen Konflikte ist die wohl höchste Konzentration an Landminen weltweit. Zwischen 1992 und 1998 wurden schätzungswei
durch verletzt und verstümmelt. 80% der Opfer von Landminen sind Zivilisten, davon zwischen 40 und 50 % Frauen und Kinder (Rasekh et al., 1998). Allein im Jahre 2000 wurden noch schätzungsweise 2.400 Menschen durch Landminen oder Blindgänger ge
tötet und 948 km² Land waren vermint (U.S. Dep. of State 2002). Insgesamt wurden ca 750.000 Männer von Landminen verstümmelt. Im Jahre 2005 bleiben noch geschätzte 8 Millionen Landminen zurück (AIHRC 2005), die wahrscheinlich erst innerhalb der nächsten zehn bis zwanzig Jahren komplett beseitigt werden können.
In einer Gesellschaft, die zur Vermeidung von Konflikten seit geraumer Zeit keine anderen Möglichkeiten bietet, als dem Konflikt entweder aus dem Weg zu gehen oder ihn unter Anwendung von Gewalt zu lösen, sind Kinder das schwächste Glied und ha
ben nicht nur unter ihren eigenen schrecklichen Erfahrungen, sondern auch unter denen ihrer Eltern, Brüder, Schwestern und Nachbarn zu leiden.
Einige der gravierendsten psychischen Folgen kriegerischer Konflikte können unter dem klinischen Konzept der Posttraumatischen Belastungsstörung zusammengefasst werden (im Folgenden PTBS). Diese Arbeit befasst sich hauptsächlich mit dieser Stö
rung, die jedoch nicht isoliert betrachtet werden kann, sondern nur als ein bestimmter Blickwinkel auf eine menschliche Tragödie, bei der auf allen Ebenen ein großer Mangel an materiellen, gesundheitlichen und psychischen Ressourcen zu bestehen scheint.
In einer Zusammenarbeit der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ), der CARITAS, der Nichtregierungsorganisation vivo international e.V. und der Univer
sität Konstanz wurde eine Stichprobe von 287 Schulkindern auf mentale Störungen, ins
besondere PTBS, untersucht. Die Datenerhebung fand im Herbst 2005 in der Haupt
stadt Kabul statt. Ziel der Studie war es, Daten für ein Lehrerausbildungsprogramm der GTZ zu sammeln. Die CARITAS stellte 34 psychologisch geschulte Afghanen, die ihre Arbeit in Beratungszentren der CARITAS unterbrachen, um die Interviews mit den Kindern durchzuführen. Vivo und die Universität Konstanz stellten die psychologisch
klinischen Experten. Ihre Aufgabe war es, die Datenerhebung zu koordinieren und mit der Hilfe von Übersetzern die Validierungsinterviews durchzuführen, die belegen soll
ten, dass es sich bei dem in afghanische Landessprache übersetzten Interview um ein valides Instrument handelt.
2 Theorie
2.1 Zu Afghanistan
2.1.1 Geographie und Geschichte
Afghanistan wurde 1747 von Ahmad Shah Durrani gegründet, der die PashtunenStäm
me vereinigte. Das Land liegt an einem zentralen Knotenpunkt zwischen dem mittleren Osten, Zentralasien und dem indischen Subkontinent. 5.529 km Grenze werden mit Chi
na, Iran, Pakistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan geteilt. Die Landesflä
che beträgt 647.500 km². Davon sind nur ca.
12 % fruchtbarer Boden. Das Klima ist tro
cken und stellt die Landwirtschaft mit lang anhaltenden Dürreperioden vor große Proble
me. Die Sommer sind heiß und die Winter kalt. Die höchste Erhebung des Landes, ein Gipfel des Hindukusch liegt auf 7.485m, der niedrigste Punkt auf 258m Höhe. Das Gebir
ge verläuft von Nordost nach Südwest und isoliert die nördlichen Provinzen vom Rest des Landes.
Lange Zeit war das Land Teil des britischen Reiches. 1919 gewann es seine Unab
hängigkeit wieder. Von 1933 bis 1973 wurde das Land von König Zahir Shah regiert.
1978 kam es nach einer kurzen Phase der Demokratie zur kommunistischen Revolution, die niedergeschlagen wurde und der Roten Armee damit 1979 Anlass zum Einmarsch gab. 10 Jahre später waren die sowjetischen Truppen durch den zermürbenden Wider
stand der vom Westen unterstützten Mujaheddin Guerillatruppen zum Rückzug gezwun
gen. Im Jahre 1992 wurde das kommunistische Regime gestürzt. Ein Bürgerkrieg zwi
schen miteinander konkurrierender Mujaheddin Truppen und den so genannten „Warl
ords“ stürzte das Land in weiteres Chaos. Im Jahre 1994 begannen die so genannten Ta
liban aus Pakistan kommend, sich im Süden Afghanistans zu verbreiten um Chaos und Anarchie zu beenden und durch einen radikal islamischen Gottesstaat zu ersetzen. Sie
Abbildung 1: Übersichtskarte von Afghanistan (CIA World Fact Book 2006)
versuchten auf kompromisslose und brutale Art und Weise, die Gesellschaft zur ideali
sierten Reinheit eines siebten Jahrhunderts zurückzuführen. Im Jahre 1996 eroberten die Taliban die hart umkämpfte Hauptstadt Kabul und besetzten bis zum Jahre 1998 bis auf die von Oppositionstruppen gehaltenen nördlichen Provinzen den größten Teil des Landes. (UK Home Office 2006; CIA World Factbook 2006)
Insbesondere Frauen mussten unter der radikalen IslamAuslegung der Taliban lei
den. Im Jahre 1996 erließen sie Gesetze, die es Frauen verbaten außer Haus zu arbeiten, zur Schule zu gehen oder ihre Häuser ohne Begleitung eines männlichen Familienmit
gliedes zu verlassen. Das Tragen der den gesamten Körper verhüllenden Burkha wurde zur Pflicht. Nichtbefolgen dieser Gesetze wurde mit öffentlicher Prügel oder anderen Grausamkeiten bestraft. 1997 wurde allen Frauen der Zugang zu öffentlichen Kranken
häusern in Kabul verwehrt. (Rasekh et al. 1998)
Als Reaktion auf die terroristischen Angriffe am 11. September 2001 auf die USA griffen diese zusammen mit alliierten Truppen und den verbliebenen afghanischen Trup
pen der nördlichen Allianz das TalibanRegime an, das dem Terroristenführer Osama Bin Laden Unterschlupf gewährleistet haben soll. Gegen Ende des Jahres 2001 wurde auf der Konferenz von Bonn ein Plan für den politischen Wiederaufbau des Landes aus
gearbeitet. Im Jahre 2004 kam es zur Wahl des Präsidenten Hamid Karzai und zur Ver
abschiedung der neuen Verfassung. Die Nationalversammlung wurde erstmals 2005 ge
wählt. (UK Home Office 2006; CIA World Factbook 2006)
Nach wie vor ist die Situation Afghanistans nicht stabil, und die Sicherheit wird vor allem noch durch ausländische Truppen (ISAF) gewährleistet (Danish Immigration Ser
vice 2004). In jüngster Zeit kam es wieder vermehrt zu Kämpfen und Ausschreitungen, und die weitere Zukunft des Landes bleibt ungewiss.
2.1.2 Kultur und Gesellschaft
Die Bevölkerungszahl Afghanistans wurde im Juli 2006 auf 31 Millionen geschätzt.
Noch im Jahre 2005 beliefen sich andere Schätzungen auf 25,8 Millionen. Der Anstieg ist vor allem auf die immer noch hohe Zahl der zurückkehrenden Flüchtlinge zurückzu
führen. Fast die Hälfte aller Afghanen ist jünger als 14 Jahre. Die Säuglingssterblichkeit
2.1 Theorie - Zu Afghanistan
liegt 2006 bei geschätzten 160 von 1000 Geburten. Die durchschnittliche Lebenserwar
tung beträgt 43 Jahre. (AIHRC 2005; CIA World Fact Book 2006)
Allein schon aufgrund seiner geographischen Position ist die Gesellschaft Afgha
nistans zusammengesetzt aus verschiedensten Ethnien und Kulturen. Die vier größten von zahlreichen ethnischen Gruppen sind die Paschtunen, die Tadschiken, die Usbeken und die Hazara.
Abbildung 2: Karte ethnolinguistischer Gruppen Afghanistans (Quelle:
www.globalsecurity.org/military/world/afghanistan/mapspeople.htm)
Bereits historisch verankert ist die soziale Be
nachteiligung und Diskriminierung der Hazara, die zwischen 15 und 20 % der Bevölkerung Afghanist
ans stellen. Von der Physiognomie sieht man den Hazara deutlich ihre ehemals mongolische Abstam
mung an. Wohl auch wegen ihrer Religion mussten die schiitischen Hazara besonders unter der Herr
schaft der sunnitischen Taliban leiden, von vielen Repressalien und willkürlicher Gewalt bis hin zu groß angelegten Massakern und Genozid. Viele Hazara flüchteten in den Iran.
Die größte Bevölkerungsgruppe stellen die su
nitischen Paschtunen mit 38% der Gesamtbevölke
rung. Die Gesellschaftsordnung der Paschtunen ist in ca. 60 Stämme, bzw. Clans unter
teilt. Die Einteilung erfolgt streng hierarchisch und patrilinear. Das Konzept des so ge
nannten "Paschtunwali" stellt einen Verhaltenskodex für die männlichen Paschtunen dar und ist bestimmt von Idealen der Gastfreundschaft, Ehre und Rache. Dadurch führt er zu mitunter lange anhaltenden Blutfehden. (CIA World Fact Book)
Die Paschtunen sind vor allem im Süden und Westen des Landes vertreten und ste
hen den Taliban näher als alle anderen ethnischen Gruppen. Die TalibanBewegung hat ihre Wurzeln in der pashtunischen Stammeskul
tur und der Ideologie der radikalen Deobandi
Sekte des Sunnitischen Islam (Scholte et al.
2004).
Offizielle Landessprachen sind das Dari (mit dem Persischen verwandt) und das Paschto, die Sprache der Paschtunen. Daneben gibt es türki
sche Sprachen und ca. 30 weitere Minderheitss
prachen. (CIA World Fact Book) Abbildung 4: Paschtune (Quelle:
www.zmongafghanistan.com) Abbildung 3: Hazara (Quelle:
i6.photobucket.com/albums/y238/ninglu n/Hazara.jpg)
2.1 Theorie - Zu Afghanistan
2.1.3 Die Situation von Kindern in Afghanistan Gesundheit
Die Gesundheitssituation in Afghanistan ist katastrophal schlecht. Laut einer Schätzung des AIHRC (2005) sterben allein 85.000 Kinder pro Jahr an Durchfallerkrankungen. Für 50.000 Kinder steht durchschnittlich ein Arzt zur Verfügung, und jedes fünfte Kind stirbt, bevor es das fünfte Lebensjahr erreicht.
Schulbildung
Ca. 6,5 Millionen Kinder besuchen eine Schule (AIHRC 2005), es gibt jedoch fast nur Grundschulen und kaum weiterführende Schulen. Ein großes Problem des Schulsystems ist der Mangel an Lehrern. Es sei nichts ungewöhnliches, wenn sich in einem Unter
richtsraum an die 100 Kinder aller Altersstufen unter der Obhut eines einzigen Lehrers befinden (Danish Immigration Service 2004).
Kinderarbeit
Die afghanische Verfassung verbietet, dass Kinder unter 15 Jahren mehr als 30 Stunden pro Woche arbeiten. Diesbezügliche Gesetze werden jedoch in keinem Teil des Landes berücksichtigt. Ab dem Alter von sechs Jahren ist es üblich, dass Kinder arbeiten. Das Hüten von Vieh, dass Sammeln von Papier, Altmetall und Feuerholz, das Putzen von Schuhen und das Betteln gehören zu normalen Beschäftigungen von Kindern. Viele Kinder, deren Väter durch den Krieg umgekommen oder arbeitsunfähig geworden sind, tragen nun jedoch die Last, der Haupternährer ihrer Familien zu sein (UK Home Office 2006). 700.000 Witwen und 200.000 durch Bomben und Minen verkrüppelte Väter ha
ben keine andere Überlebensmöglichkeit als ihre Kinder. Viele arbeiten in Fabriken, in Läden oder in der Teppichindustrie. In Kabul arbeiten schätzungsweise 60.000 Kinder unter meist sehr schwierigen und unsicheren Bedingungen. Viele von ihnen werden nicht nur zur Arbeit gezwungen, sondern auch sexuell ausgebeutet. (AIHRC 2005)
Das komplexe Thema Kinderarbeit darf nicht zu simplifizierend betrachtet werden.
Thorne (2003) betrachtet Kinderarbeit nicht automatisch als soziales Übel und hält die Forderung nach deren radikaler Abschaffung für zu kurzsichtig. Schuld an Kinderarbeit
seien die strukturellen Ursachen von Ausbeutung und Armut. Wichtigstes Ziel sollte die Verbesserung der Lebens und Arbeitsumstände der Kinder darstellen, die sozial und ökonomisch notwendige und sinnvolle Arbeit verrichten. Arbeit könne auch bestimmte Fähigkeiten und soziale Anerkennung vermitteln. Gerade wenn der Übergang von Spiel zu Arbeit graduell geschieht, könne Kinderarbeit auch als ein adaptiver und sinnvoller Sozialisationsprozess betrachtet werden (Thorne, 2003).
Woodhead (1999) meint, das Ziel der internationalen Gemeinschaft sollte die sofor
tige Abschaffung extremer Formen der Kinderarbeit sein, sowie präventive Maßnahmen, um Kinder davor zu bewahren, solche Arbeit verrichten zu müssen. Das Erreichen des Zieles, zumindest extreme Formen der Kinderarbeit abzuschaffen, wirft jedoch verschie
dene Fragen auf:
Welche Folgen hätte eine Intervention für vulnerable Kinder, die in Armut leben und für die ihre Arbeit überlebenswichtig ist und zum Kern der persönlichen Identität ge
hört? Vor allem im Kontext akuter Armut ist es wichtig, dass Interventionsstrategien das langfristige Wohlergehen der Kinder in den Vordergrund stellen und die Intervention von den Kindern als eine Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse angesehen wird.
Woodhead (1999) berich
tet in diesem Zusammenhang über eine missglückte Inter
vention in Bangladesh, wo viele Mädchen in der Textilin
dustrie arbeiteten. Durch ver
stärkten internationalen Druck und Boykott von Textilien, die mit Hilfe von Kinderarbeit hergestellt werden, sahen sich die Fabrikbetreiber tatsächlich
gezwungen, die meisten der Kinder zu entlassen. Eine nachfolgende Studie der ILO und UNICEF zeigte jedoch, dass keines dieser Mädchen nun die Schule besuchte, sondern
Abbildung 5: Afghanische Mädchen beim Teppichweben (Quelle:
vivo)
2.1 Theorie - Zu Afghanistan
im Gegenteil viele von ihnen in gefährlicheren und noch ausbeutenderen Beschäftigun
gen tätig waren als zuvor.
Welche Rolle spielen die Kinder selbst in dem Interventionsprozess? Mitbestim
mung über ihr eigenes Schicksal und ihre Teilnahme am Prozess der Arbeit für eine bes
sere Zukunft werden oft zu wenig berücksichtigt.
Welches Bilder und Vorstellungen von Kindheit liegen der Debatte um Kinderarbeit zu Grunde? Welche Kriterien stehen für eine qualitativ gute Kindheit, und wie können diese in nationalen und internationalen Standards gefördert werden? Große Bereiche der Literatur über Kriterien für eine gute Kindheit sind ausschließlich an den Standards der westlichen Industrienationen ausgelegt.
Die erste Herausforderung darin, die Prävalenz extremer Formen der Kinderarbeit zu vermindern, besteht darin, universelle Qualitätsstandards zu etablieren. Die zweite Her
ausforderung besteht darin, diese Standards in kontext und kultursensitiven, lokal un
terstützten und Kindzentrierten Prozeduren anzuwenden. Die dritte Herausforderung besteht darin, dafür zu sorgen, dass die Kinder, um die sich alles dreht, auch aktive Teil
nehmer an diesem Prozess sein sollten.
Die UNKonvention über die Rechte von Kindern besagt zum Thema Kinderarbeit folgendes:
„States Parties recognize the right of the child to be protected from eco
nomic exploitation and from performing any work that is likely to be ha
zardous or to interfere with the child's education, or to be harmful to the child's health or physical, mental, spiritual, moral or social development.“(UN Convention on the Rights of the Child, 1989: Article 32, in Woodhead 1999)
Um diese Richtlinie durchsetzen zu können, benötigt man jedoch sinnvolle Kriterien um entscheiden zu können, welche Arten von Arbeit für Kinder ausbeutend, gefährlich oder schädlich sind und welche es weniger oder überhaupt nicht sind.
Woodhead berichtet von einer Studie, die versucht, die Meinungen und Ansichten von direkt betroffenen Kindern über Kinderarbeit zu erfragen. Mittels einer halbstan
dardisierten und strukturierten, spielerischen Gruppenarbeit sollen sowohl quantitative als auch qualitative Daten erhoben werden. Die Studie wurde in Bangladesch, Äthiopi
en, den Philippinen und den Zentralamerikanischen Ländern El Salvador, Guatemala und Nicaragua durchgeführt. Über 300 Kinder, von denen die meisten zwischen 10 und 14 Jahre alt waren, nahmen daran teil.
Die Studie zeigt, dass Kinder sehr gut dazu in der Lage sind, ihre Arbeit anhand verschiedener Kriterien kritisch zu bewerten und mit Alternativen zu vergleichen. Sie sind sich vieler Nachteile und Gefahren bewusst, aber auch der Vorteile, die ihre Arbeit mit sich bringt. Die wenigsten von ihnen würden ihren Ausschluss aus der Arbeitswelt als Lösung ihrer Probleme betrachten. Viele Kinder gaben sogar an, dass sie im Falle gesetzlicher Einschränkungen von Kinderarbeit dann eben illegal weiter arbeiten wür
den. (Woodhead, 1999)
Kindersoldaten, Kindesentführung und Organhandel
Seit Präsident Karzai im Jahre 2003 das Mindestalter von Soldaten auf 22 Jahre festge
legt hat, gibt es keine Berichte über neue Rekrutierungen von Kindersoldaten. Die UNI
CEF initiierte Im Jahr 2004 ein Programm zur Demobilisierung und Reintegration von 4.000 von geschätzten 8.000 Kindersoldaten. Die verbleibenden 4.000 wurden ebenfalls aus der Armee entlassen. (UK Home Office 2006)
Im Bericht des AIHRC (2005) wird bestätigt, dass keine Kinder mehr in der Armee dienen, jedoch wird berichtet, dass einige der lokalen Kommandeure immer noch Kin
der zur sexuellen Ausbeutung festhalten.
Verschleppungen und Entführungen von Kindern sind in Afghanistan zu einem ernst zu nehmenden Problem geworden. Viele Kinder in allen Provinzen wurden von Einzel
personen oder von organisierten Banden entführt und zur Zwangsarbeit oder zur Zwangsehe gezwungen oder häufig auch sexuell ausgebeutet und missbraucht. In eini
gen Fällen wurden den Kindern auch Organe entnommen und verkauft. Betroffen sind jedes Jahr hunderte von Kindern ab dem vierten Lebensjahr, Jungen gleichermaßen wie Mädchen. (AIHRC 2005, UK Home Office 2006)
2.1 Theorie - Zu Afghanistan
Waisenkinder, Kinder als Flüchtlinge und Drogenmissbrauch Nach einer Statistik der UNICEF gibt es ca. 700.000 Witwen in Afghanistan, die im Schnitt vier bis sechs Kinder haben, welche somit ohne väterliche Unterstützung auf
wachsen. Für die Vollwaisen gibt viel zu wenige Plätze in öffentlichen Waisenhäusern.
(AIHRC 2005)
Eine weitere problematische Bedingung für viele Kinder ist es, auf der Flucht zu sein, bzw. danach als Flüchtling zurück nach Afghanistan zu kehren. Viele Kinder wur
den im Ausland geboren und haben es nun schwer, sich an die Gegebenheiten Afgha
nistans anzupassen. Ihre Lebensbedingungen waren und sind oft erbärmlich. Sauberes Trinkwasser und angemessene Bekleidung sind für sie oft nicht verfügbar.
Ebenfalls ein ernsthaftes Problem für Kinder in Afghanistan kann der Missbrauch von Drogen sein. Weit verbreitet im Land ist der Anbau und Schmuggel von Opium und Cannabis. Es gibt eine wachsende Anzahl abhängiger Kinder. (AIHRC 2005). Zahlen über den Konsum illegaler Drogen gibt es kaum. Da der Koran den Gebrauch jeglicher bewusstseinsverändernden Substanzen verbietet, ist es sehr schwer, verlässliche Zahlen über den Gebrauch illegaler Drogen zu erhalten.
2.2 Kinder und familiäre Gewalt
2.2.1 Definition
In der Regel wird unterschieden zwischen Gewalt, die ein Kind als direktes Opfer er
fährt, und Gewalt zwischen Familienmitgliedern des Kindes, die das Kind bezeugt. Des weiteren können Gewalterfahrungen in physische, psychische und sexuelle Gewalt un
terteilt werden. Hinzu kommt passive Gewalt in Form von psychischer oder physischer Vernachlässigung.
Die Definition kindlicher Gewalterfahrungen ist keineswegs trivial, sondern zum Teil sehr umstritten. Juristische Definitionen gewalttätigen Verhaltens beschränken sich beispielsweise oft auf direkt ausgeübte physische und sexuelle Gewalt oder lebensbe
drohliche Vernachlässigung, während die klinische Forschung auch rein verbal ausgeüb
te oder nur bezeugte Gewalterfahrungen als schädlichen Einfluss auf die Entwicklung des Kindes berücksichtigt. (Fantuzzo & Mohr, 1999).
Laut Tolan, GormanSmith & Henry (2006) konzentriert sich der Hauptstreitpunkt bei der Definition familiärer Gewalt darauf, ob sie gleichzusetzen ist mit Missbrauch oder Misshandlung, und ob alle möglichen Arten von Gewalt mit eingeschlossen werden sollen, oder nur besonders schwerwiegende. Eine Eingrenzung der Definition auf physi
sche Gewalt halten Tolan, GormanSmith & Henry jedoch für zu eng, da zahlreiche For
men der Gewalt, wie das Ausüben von Zwang, Vernachlässigung und verbale Misshand
lungen ausgeschlossen würden, die jedoch genauso schädlich für das Kind sein können wie die Folgen physischer Gewalt. Als weiteres Definitionsproblem führen Tolan, Gor
manSmith & Henry die Frage an, ob in der Gesellschaft übliche Formen von Gewalt, wie zum Beispiel körperliche Bestrafung von Kindern oder Gewalt unter Geschwistern, in die Definition mit aufgenommen werden sollen oder nicht.
Fantuzzo & Mohr (1999) konzentrieren sich auf bezeugte Gewalt zwischen Ehepar
tern und nennen als eine mögliche Definition häuslicher Gewalt Muster tätlichen und Zwang ausübenden Verhaltens zwischen Partnern, die sowohl physische, psychische und sexuelle Übergriffe, als auch ökonomische Zwangsmittel beinhalten können. Fantuzzo
& Mohr bemängeln, dass die schädlichen Folgen bezeugter familiärer Gewalt an Kin
dern bislang von Forschung und Politik sträflich vernachlässigt wurden.
Margolin & Gordis (2000) fassen theoretische und empirische Literatur zum Thema Gewalt an Kindern und deren Folgen zusammen. Sie unterscheiden drei Arten von Ge
walterfahrungen, die Kinder machen können: Kindesmisshandlung, Gewalt in der Ge
meinschaft und Gewalt zwischen den Eltern. Die Gemeinsamkeit aller dieser Arten von Gewalterfahrung ist, dass sie die direkte Umgebung des Kindes von einem sicheren Zu
fluchtsort zu einem unsicheren Ort machen, und dass sie das Potential der Eltern ver
mindern, für das physische und psychische Wohlbefinden ihres Kindes zu sorgen.
Lange Zeit von vielen Forschern, Politikern und Klinikern übersehen wurde laut Khamis (2000) das Phänomen der psychischen Misshandlung. Psychische Misshandlung wird nach Khamis als häufigste Form der Misshandlung angesehen und ist in ihrem zer
2.2 Theorie - Kinder und familiäre Gewalt
störerischen Einfluss auf das Leben von Kindern am gravierendsten. Psychische Miss
handlung wird konzeptualisiert als wiederkehrende Muster im Verhalten der Erzie
hungspersonen, die dem Kind das Gefühl geben, wertlos, ungeliebt, fehlerhaft oder un
gewollt zu sein. Psychische Misshandlung kann aus verbalen Attacken, aber auch aus Unterlassungshandlungen bestehen. (Khamis, 2000)
Die Weltgesundheitsorganisation benutzt folgende weit umfassende Definition von Kindesmisshandlung:
„Child abuse or maltreatment constitutes all forms of physical and / or emotional illtreatment, sexual abuse, or neglect or negligent treatment or commercial or other exploitation, resulting in actual or potential harm to the child's health, survival, development or dignity in the context of a re
lationship of responsibility, trust or power.“ (WHO 2002) 2.2.2 Prävalenzraten häuslicher Gewalt
So viele Definitionen häuslicher Gewalt es gibt, so viele verschiedene Prävalenzraten werden epidemiologische Studien hierzu auch ermitteln. Fantuzzo & Mohr (1999) be
richten, dass unter anderem aus diesem Grund bislang keine wissenschaftlich verläss
lichen Prävalenzzahlen für von Kindern bezeugte familiäre Gewalt existieren.
Laut Tolan, GormanSmith & Henry (2006) kommt ebenfalls erschwerend die Unei
nigkeit unter den Forschern hinzu, an welcher Art von Stichproben Prävalenzraten häus
licher Gewalt erhoben werden sollten (repräsentative Stichproben der Normalbevölke
rung oder Stichproben vulnerabler Gruppen).
Bei der nordamerikanischen Bevölkerung berichten Tolan, GormanSmith & Henry über Prävalenzraten von Kindesmisshandlung von 1,2%. Diese Zahl basiert auf Berich
ten von dortigen offiziellen und sozialen Einrichtungen. Über 60% dieser Kinder wur
den vernachlässigt, 19% wurden körperlich misshandelt, 10% wurden sexuell miss
braucht und 5% wurden emotional misshandelt. Untersuchungen an ausgewählten, vul
nerablen Populationen ergeben dagegen erwartungsgemäß höhere Zahlen und variieren zwischen 3% und 36%. (Tolan, GormanSmith & Henry, 2006)
Khamis (2000) untersuchte die Prävalenz psychischer Misshandlung von Kindern in palästinensischen Familien, welche kriegerischer und politischer Gewalt ausgesetzt wa
ren. Es wurden Interviews mit 1.000 Kindern im Alter von 12 bis 16 Jahren durchgeführt und soweit möglich auch mit ihren Eltern. 16,4% der Kinder können als psychisch miss
handelt betrachtet werden. 14,1% der Kinder gaben an, in ihrer Familie auch physisch misshandelt worden zu sein.
2.2.3 Risikofaktoren für häusliche Gewalt
Tolan, GormanSmith & Henry (2006) fassen die Literatur über die wichtigsten Risiko
faktoren für häusliche Gewalt zusammen: Als ein wichtiger Prädiktor gewalttätiger Übergriffe in der Familie stellen sich dabei mentale Krankheiten wie Angststörungen, Depression, Persönlichkeitsstörungen und Substanzabhängigkeiten heraus. Die wichtigs
ten Umweltfaktoren, die häusliche Gewalt vorhersagen, sind Armut und Stress.
In Khamis (2000) Studie an palästinensischen Kindern wendeten Familien mit zwei Eltern und Familien aus Flüchtlingslagern mehr psychische Gewalt gegen ihre Kinder an, als Familien mit nur einem Elternteil oder Familien aus ländlichen und städtischen Gebieten. In Familien, die an Armut litten, kam es mit größerer Wahrscheinlichkeit zu psychischer Misshandlung an Kindern als in Familien, die über ein genügend großes Einkommen verfügten. Ebenso Prädiktoren für psychische Gewalt waren Ungleichheit der Geschlechter, strenge Disziplin und das Fehlen elterlicher Unterstützung. Die psy
chische Misshandlung der Kinder ging einher mit anderen Formen der Misshandlung wie körperlicher Gewalt und Kinderarbeit. Hochgehaltene traditionelle Familienwerte dagegen gingen einher mit weniger psychischer Misshandlung der Kinder.
2.2.4 Auswirkungen von Gewalt an Kindern
Laut Margolin & Gordis (2000) bestehen die unmittelbaren Reaktionen der Kinder auf alle Formen der Gewalt aus den Gefühlen der Hilflosigkeit, Angst, Wut und Erregung.
Gewalt gegen Kinder berührt nicht nur deren physische Gesundheit und Sicherheit, son
dern auch ihr psychisches Anpassungsvermögen, ihre sozialen Beziehungen und ihre schulischen Leistungen. Auch Terr (1991) berichtet von beeinträchtigten kognitiven und schulischen Leistungen in Folge von erlebter Gewalt. In Khamis (2000) Studie waren
2.2 Theorie - Kinder und familiäre Gewalt
schlechte Schulleistung der Kinder eng mit dem Auftreten psychischer Misshandlung in der Familie verbunden. Schauer, Elbert, Schauer, Huschka et al. (eingereicht) berichten ebenfalls über verminderte Schulleistung und kognitive Fähigkeiten bei Kindern, die Opfer militärischer Gewalt auf SriLanka geworden sind.
Dieser negative Einfluss geht über emotionale und behaviorale Störungen hinaus und beeinflusst auch das Selbstbild der Kinder, ihre Sicht der Welt, ihre Vorstellungen von Sinn und Bedeutung des Lebens, ihre Erwartungen an die Zukunft und nicht zuletzt ihre eigene moralische Entwicklung. Der Einfluss solcher Gewalterfahrungen reicht weit in die Zukunft der Kinder hinein und betrifft sie auch dann noch, wenn sie erwachsene Mitglieder der Gesellschaft geworden sind. (Margoling & Gordis 2000).
Kinder sind besonders empfindlich für die Folgen von Gewalt, weil die Gewalterfah
rung das „Timing“ typischer Entwicklungsverläufe durcheinander bringen kann. Zum einen kann Gewalt in primären Effekten resultieren, wie erhöhter Ängstlichkeit, Depres
sion und PTBSSymptome (Thabet, Abed & Vostanis, 2004; et al.). Zum anderen lösen diese primären Effekte wiederum sekundäre Reaktionen aus, indem sie Entwicklungsab
läufe der Kinder unterbrechen oder verzögern. RegressionsSymptome können z.B.
Bettnässen, erhöhte Trennungsangst oder verminderte Verbalisierung sein. Verminderte soziale Fertigkeiten oder beispielsweise Konzentrationsstörungen in der Schule sind weitere mögliche Folgen. (Joshi & Lewin, 2004; Quota, Punamäki & El Sarraj, 2003)
Wenige Studien setzen die Folgen von kindlichen Gewalterfahrungen in den Kontext verschiedener Ethnien und Kulturen. Dies ist umso bedauerlicher, als Normen, Vorstel
lungen und Werte, die im Zusammenhang mit Gewalt stehen, von Kultur zu Kultur sehr unterschiedlich sein können. Nicht nur die Schwelle zwischen akzeptierter und misshan
delnder körperlicher Bestrafung liegt in verschiedenen Kulturen sehr unterschiedlich, sondern auch die jeweiligen Familienstrukturen und sonstigen Erziehungsstile. (Margo
lin & Gordis, 2000)
Mertin & Mohr (2002) bestätigen Margolin & Gordis darin, dass Kinder, welche Opfer von häuslicher Gewalt wurden, vermehrt emotionale, kognitive und Verhaltens
Probleme aufweisen. Aggression und antisoziale Verhaltensweisen gehören zusammen
mit Ängstlichkeit, Inhibierung, geringer Sozialkompetenz und Depression zum Verhal
tensbild dieser Kinder. Gewalt und Gewalttolerierendes Rollenverhalten scheinen sich beim Älterwerden bis in die Erwachsenenbeziehungen hinein zu erhalten. (Mertin &
Mohr, 2002)
Bisher gibt es nur wenige Längsschnittstudien, die den Einfluss von kindlichen Ge
walterfahrungen untersuchen. Rogosch et al. (1995) zeigen den Zusammenhang von frü
her Misshandlung und späteren Problemen in PeerBeziehungen. Miller (1999) beob
achtete bei einer Stichprobe sozial benachteiligter Jungen aus einem Stadtgebiet ein er
höhtes Risiko negativen Verhaltens, wenn bezeugte Gewalterfahrungen in der sozialen Umgebung vorlagen.
Widom (1995) demonstrierte den so genannten „Cycle of Violence“ an einer Stich
probe von 1.575 Kindern, die über einen Zeitraum von 20 Jahren hinweg untersucht wurden. Kinder, welche vor ihrem 12. Lebensjahr physisch oder sexuell misshandelt oder vernachlässigt worden waren, wurden später mit größerer Wahrscheinlichkeit we
gen delinquentem Verhalten von der Polizei festgenommen und zeigten mehr kriminel
les, gewalttätiges Verhalten als die Kontrollgruppe.
Solche Längsschnittstudien erlauben zwar Rückschlüsse auf zeitliche Zusammen
hänge, sind jedoch nicht in der Lage, echte Kausalzusammenhänge aufzuzeigen. Da man das Auftreten und die Dosierung von Gewalt nicht im experimentellen Kontext kontrol
lieren kann, ist es prinzipiell nur möglich, empirische und zeitliche Zusammenhänge – niemals jedoch Kausalzusammenhänge – aufzuzeigen.
Psychobiologische Effekte
Perry (1997) erläutert verschiedene Wege, mittels derer sich Gewalterfahrungen auf die kindliche Neurobiologie auswirken können. Das kindliche Gehirn ist aufgrund seiner hohen Plastizität extrem empfindlich für Umwelteinflüsse. Das chronische Erleben von Gewalt kann aufgrund zu intensiver Stimulation bestimmter Hirnregionen zu einer ab
normalen neurologischen Entwicklung führen. Die Auswirkungen von Gewalt beein
flussen das Erregungsniveau eines Kindes und ihre Fähigkeit, angemessen auf Stresssi
tuationen zu reagieren. Außerdem berichtet wird von Veränderungen des allgemeinen
2.2 Theorie - Kinder und familiäre Gewalt
Erregungsniveaus, gesteigertem Muskeltonus, erhöhtem Schreckreflex, Schlafstörungen und abnormalen cardiovaskulären Regulationsmechanismen bei Kindern, die traumati
schen Erlebnissen ausgesetzt waren. (Perry, 1997; Prasad, 2000)
De Bellis (2001) hält psychobiologische Veränderungen des kindlichen Gehirns auf
grund erlebter Gewalt für eine wesentliche Komponente einer komplexen Entwicklungs
störung, welche einen Risikofaktor für eigenes gewalttätiges Verhalten darstellt und so
mit zu einem intergenerationalen Zyklus der Gewalt führen kann. De Bellis & Putnam (1994) berichten von erhöhter Catecholaminaktivität und einem übererregten Dopami
nergen System, das in Zusammenhang steht mit dem posttraumatischen Stresssymptom der Hypervigilanz.
Chronischer Stress scheint zu einer Dysregulation der so genannten HPAAchse („hypothalamicpituitaryadrenal“) zu führen. Diese stellt eines der wichtigsten Stress
RegulationsSysteme dar und wird über FeedbackMechanismen so gesteuert, dass Stress zuerst zu einem Anstieg der CortisolProduktion führt, aber anschließend ein ne
gativer FeedbackMechanismus zu einem erniedrigten CortisolSpiegel führt (Nelson &
Carver, 1998). Ebenfalls verbunden mit Stress und traumatischen Ereignissen ist eine abnormale Funktion der so genannten HPGHAchse („hypothalamicpituitarygrowth hormone“). Dies kann zu Verzögerungen und Störungen des pubertären Wachstums füh
ren. Beginn der Pubertät und sexuellen Verhaltens können von traumatischen Ereignis
sen verschoben werden, die Forschungsergebnisse sind jedoch noch nicht eindeutig be
züglich der Richtung, in welche die Verschiebung stattfindet. (De Bellis & Putnam, 1994)
Des weiteren führt Prasad (2000) zahlreiche weitere neuroendokrine Dysregulatio
nen in Zusammenhang mit kindlichen Gewalterfahrungen und PTBS an, unter anderem bezüglich der Neurotransmitter Noradrenalin, Serotonin und Dopamin. Auf nähere De
tails soll im Rahmen dieser Arbeit jedoch nicht weiter eingegangen werden.
2.3 PTBS in ehemaligen Kriegsgebieten
Zu PTBS allgemein
Zur Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) wurden innerhalb der Arbeitsgruppe, in der diese Arbeit entstand, bereits viele Studien und Arbeiten veröffentlicht, so dass an dieser Stelle ausdrücklich auf eine detaillierte Schilderung des Konzeptes verzichtet wird und nur die wichtigsten Eckdaten genannt werden.
Laut DSMIV gehört die PTBS zur Gruppe der Angststörungen und wird durch fol
gende drei Symptomgruppen gekennzeichnet: Wiedererleben, Vermeidung und ein er
höhtes Erregungsniveau. Zur Diagnose bedarf es sechs Kriterien. Kriterium A erfordert das Erleben eines traumatischen Ereignisses, von dem Gefahr für Leib oder Leben aus
geht, und auf das mit großer Furcht, Hilflosigkeit und Entsetzen reagiert wird. Die Kri
terien B, C und D beziehen sich auf die Symptome des Wiedererlebens, der Vermeidung und der Übererregung. Das Kriterium E verlangt eine Dauer der Symptomatik über einen Zeitraum von mindestens vier Wochen, und das Kriterium F erfordert das Vorhan
densein von funktionellen Einschränkungen psychosozialer Art. (APA, 1994)
Die neuere Forschung zu PTBS betrachtet diese vor allem als eine Gedächtnisstö
rung. Die pathologisch veränderte Organisation der Gedächtnisinhalte ist auf physiologi
scher Ebene insbesondere in Form von veränderten Strukturen des medialen temporalen Lappens und des limbischen Systems gekennzeichnet. Außerdem kommt es zu den be
reits im Kapitel über die psychobiologischen Effekte von Gewalt erwähnten Verände
rungen hormoneller Regulierungssysteme. (Elbert & Schauer, 2002; Prasad, 2000; Nel
son & Carver, 1998; De Bellis & Putnam, 1994)
Für detaillierte Informationen bezüglich der PTBS sei außerdem auf Yule (1999) verwiesen. Epidemiologische Untersuchungen über PTBS in der Normalbevölkerung veröffentlichte unter anderem Breslau (2001, 2002). Neuroanatomische Korrelate zu PTBS und Untersuchungen mittels Bildgebender Verfahren untersuchte Bremner (1999, 2002). Einen Überblick über verschiedene psychologische Modelle zu PTBS verschaf
fen Brewin & Holmes (2003).
2.3 Theorie - PTBS in ehemaligen Kriegsgebieten
PTBS und gesundheitliche Beschwerden
Eine Untersuchung an einer Stichprobe von 2.301 Veteranen des GolfKriegs ergab er
höhte Prävalenzen von neurologischen, kardiovaskulären, gastrointestinalen und mus
koskeletalen Beschwerden bei PTBSErkrankten. Weibliche Veteranen berichteten dabei von signifikant mehr gesundheitlichen Problemen als männliche (Wagner et al., 2000).
Auch Norris, Maguen, Litz, Adler et al. (2005) konnten einen Zusammenhang von phy
sischer Gesundheit und PTBSSymptomen nachweisen. Ein besonders starker Prädiktor für gesundheitliche Symptome war dabei die ÜbererregungsSymptomatik. Chandler (2005) untersuchte PTBSDiagnosen und PTBSSymptome als mediierende Variablen zwischen Trauma und physischer Gesundheit. Der Grad von der Gesundheit abträgli
chem Verhalten war direkt verbunden mit der Schwere des erlebten Traumas. PTBS
Symptome waren abermals ein Prädiktor für gesundheitliche Beschwerden. Für detail
lierte Informationen bezüglich des Zusammenhangs von PTBS und gesundheitlichen Beschwerden siehe auch Schnurr & Green, 2003.
PTBS bei erwachsenen Überlebenden organisierter Gewalt Zur Prävalenz von PTBS in Krisengebieten wurden viele Studien mit Erwachsenen ver
öffentlicht. Zu diesen soll hier nur in aller Kürze etwas gesagt werden, da die vorliegen
de Arbeit den Fokus vor allem auf Kinder legt.
De Jong, Komproe & Ommeren (2001, 2003) haben in einer Studie 3.048 Personen aus den ehemaligen Konfliktregionen Algerien, Kambodscha, Äthiopien und Palästina untersucht und dabei die Prävalenz von Affektstörungen, somatoformen Störungen und PTBS untersucht. Es handelt sich um Populationen mit sehr geringem Einkommen, die Krieg, kriegerische Konflikte oder Massengewalt erlebt haben. Untersucht wurden nur Personen über 16 Jahren. PTBS und an
dere Angststörungen waren am häufigs
ten vertreten. Gewalterfahrungen in Ver
bindung mit bewaffneten Konflikten waren dabei mit einem besonders häufi
gen Auftreten von Störungen verbunden.
PTBSPrävalenz
Algerien 37,4%
Kambodscha 28,4%
Äthiopien 15,8%
Gaza 17,8%
Tabelle 1: PTBSPrävalenz in verschiedenen Stich
proben (de Jong et al. 2001)
Die PTBSPrävalenzraten der vier Stichproben sind in Tabelle 1 dargestellt. Die vier verschiedenen Populationen zeigten jeweils unterschiedliche Muster von Risikofaktoren für PTBS. Dies könnte ein kulturspezifischer Effekt sein, und man könnte daraus schlie
ßen, dass PTBSSymptome in unterschiedlichen Populationen von unterschiedlichen de
terminierenden Faktoren herrühren.
De Jong et al. (2001) erwäh
nen weitere epidemiologische Studien, welche die PTBS
Prävalenz in verschiedenen Flüchtlingspopulationen erhe
ben sollten. Deren Ergebnisse sind in Tabelle 2 dargestellt.
Lopes Cardozo et al. (2000) untersuchten an einer Stichprobe von 1.358 KosovoAl
banern die Prävalenz von PTBSSymptomen und anderen psychischen Störungen. Die befragten Personen waren mindestens 15 Jahre alt und hatten 1998 und 1999 den Bür
gerkrieg und das Einschreiten der NATOTruppen erlebt. 17,1% der Befragten erfüllten die DSMIV Kriterien für PTBS. Es gab einen signifikanten linearen Zusammenhang zwischen der psychischen Gesundheit und der Anzahl traumatischer Erlebnisse. 43%
der Befragten hatten unspezifische psychische Probleme.
Da die PTBS geschichtlich betrachtet als „VietnamVeteranenSyndrom“ entdeckt wurde, war der Zusammenhang dieser Störung mit Krieg und Gewalt schon immer ge
geben und wird kaum mehr angezweifelt. In so gut wie allen Populationen aus aktuellen und ehemaligen Krisengebieten wurden jedenfalls erhöhte Prävalenzraten von PTBS ge
funden. (Siehe auch Neuner, Schauer, Karunakara, Klaschnik et al., 2004)
Annahme von PTBS als Störung mit interkultureller Validität Yule (1999) beschreibt von interkulturellen Unterschieden bei der Entwicklung von PTBS. Beispielsweise zeigte sich schon bei VietnamVeteranen, dass Soldaten hispani
scher Abstammung eine deutlich höhere PTBSPrävalenz zeigten als alle anderen Ethni
en. Auch bei der Symptomatisierung gibt es kulturelle Besonderheiten. Wardak (1993)
Studie Land PTBS
Prävalenz
Mollica et al. 1993 Kambodscha 15%
El Sarraj et al. 1996 Gaza 20%
Somasundaram &
Sivayokan 1994 Sri Lanka 14%
Tabelle 2: PTBSPrävalenzraten weiterer Studien (de Jong et al., 2001)
2.3 Theorie - PTBS in ehemaligen Kriegsgebieten
stellte bei der afghanischen Bevölkerung fest, dass diese ähnlich wie andere orientali
sche Kulturen zu starker Somatisierung emotionaler Probleme neigen. Des weiteren stellte er fest, dass Schuldgefühle, Suizidgedanken, Suizidversuche und das Weinen beim männlichen Geschlecht weitgehend von soziokulturellen Faktoren verhindert wer
den. Der Islam verbietet Selbstmord als eine kriminelle Handlung, so dass die betroffe
nen Menschen kaum offen von Suizidgedanken sprechen würden, selbst wenn sie wel
che haben sollten.
Trotz solcher kultureller Besonderheiten geht die vorliegende Arbeit von PTBS als einem interkulturell validen Konzept aus. Die Tatsache, dass PTBS zahlreiche neurophy
siologischen Korrelate hat, belegt, dass jeder Mensch daran erkranken kann, egal in wel
cher Kultur er aufgewachsen ist (Elbert, Schauer, Neuner, Wienbruch et al., 2003; Elbert
& Schauer, 2002; Bremner, 1999, 2002; Prasad, 2000; De Bellis, 2000; Nelson & Car
ver, 1998).
Dennoch sei darauf hingewiesen, dass die interkulturelle Validität noch nicht von al
len Seiten her anerkannt ist und bestimmte Kritiker wie Summerfield (2001) sogar das gesamte PTBSKonzept für ein soziopolitisches Konstrukt halten.
PTBS bei Kindern
Die Erkenntnis, dass Kinder ebenso wie Erwachsene an PTBS leiden können, wird heut
zutage nicht mehr bezweifelt, ist aber noch relativ neu. Die Kriterien nach DSMIV für PTBS bei Kindern unterscheiden sich nur geringfügig von denen für Erwachsene. Bei
spielsweise dürfen Albträume und Intrusionen unspezifisch und nicht Traumazentriert sein. Die Symptomatik des Wiedererlebens zeigt sich bei kleinen Kindern oft in Form von repetitivem Nachspielen des Erlebten. (APA 1999)
Mertin & Mohr (2002) stellen bezüglich der Diagnose von PTBS die unreflektierte Übernahme der DSMIV Kriterien von Erwachsenen für Kinder in Frage. In einem Überblick über die vorhandenen Studien stellen sie jedoch jene PTBSSymptome dar, die bei Kindern zuverlässig erfasst werden konnten. Dazu gehören Wiedererleben durch intrusive Gedanken, unangenehme Träume bezüglich des traumatischen Ereignisses oder generalisiert auf andere Ängste und Gefahren, sowie kognitive und behaviorale
Vermeidung. Symptome der Empfindungs und Gefühllosigkeit („numbing“) werden von Kindern dagegen weniger häufig berichtet als von Erwachsenen. Ein gesteigertes Erregungsniveau wird bei Kindern in Form von Hyperaktivität, Konzentrations und Gedächtnisschwierigkeiten sowie Schlafstörungen beobachtet. (Mertin & Mohr, 2002;
Schauer et al., eingereicht)
Kinder reagieren auf Gefahren und lebensbedrohliche Situationen mit Ängstlich
keits Somatisierungs und Rückzugssymptomen. Insbesondere jüngere Kinder fallen dabei oft auf ein niedrigeres Entwicklungsniveau zurück. Fast alle Kinder erleben große Angst, leiden unter Schlafstörungen und klammern vermehrt an ihren Eltern. (Quota, et al., 2003)
Die Faktoren, die bestimmen, ob und wie schwer eine PTBS ausgebildet wird, hän
gen einerseits von der traumatischen Situation selber ab, aber auch von bestimmten Ei
genschaften des Kindes und der Art und Weise, in der die Mutter des Kindes oder ande
re dem Kind nahe stehende Personen auf die lebensbedrohliche Situation reagieren. Die physische und emotionale Nähe des traumatischen Ereignisses, sowie seine Schwere und Intensität bestimmen die weiteren psychischen Folgen (Qouta et al. 2003).
Terr (1991) unterscheidet zwischen einzelnen und chronischen traumatischen Ereig
nissen und hält letztere für weitaus schädlicher für die Entwicklung des Kindes. Emery
& LaumannBillings (1998) halten es für sinnvoller, PTBSSymptome anstelle von PTBSDiagnosen zu untersuchen, weil sehr viele Kinder, die an Symptomen leiden, dennoch nicht die DiagnoseKriterien nach DSMIV erfüllen.
Neuner et al. untersuchte 264 Kinder aus drei Regionen Sri Lankas, die vom Tsuna
mi besonders stark betroffen waren. Die Prävalenzrate von PTBS aufgrund des Tsunami variierte in den drei Regionen zwischen 14 und 39%. Weitere 5 bis 10% hatten eine PTBS ohne Bezug zum Tsunami.
Besonders hohe Prävalenzraten von PTBS bei Kindern in Deutschland finden sich in Familien, die dem Asylbewerbungsverfahren unterliegen. 20% einer Stichprobe von 120 Kindern erfüllten die Kriterien für eine PTBS. (Ruf, Neuner, Gotthardt, Schauer et al., 2005)
2.3 Theorie - PTBS in ehemaligen Kriegsgebieten
Schaal & Elbert (2006) berichten über eine PTBSPrävalenz von 44% bei einer Stichprobe von 68 Waisenkindern aus Ruanda, welche Opfer des dort stattgefundenen Genozids waren, noch zehn Jahre, nachdem die traumatischen Erfahrungen gemacht wurden.
Dyregrov, Gjestad & Raundalen (2002) führten eine der seltenen Längsschnittstudi
en zu PTBS an einer Stichprobe von 94 irakischen Kindern durch und zeigten, dass die PTBSSymptome, an denen diese litten, erst zwei Jahre nach den als traumatisch erleb
ten Kampfhandlungen signifikant in ihrer Intensität abnahmen. In einer anderen Längs
schnittstudie von Thabet & Vostanis (2000) an palästinensischen Kindern aus dem GazaStreifen waren die PTBSSymptome bereits nach einem Jahr signifikant zurückge
gangen. Die PTBSPrävalenz betrug zu Beginn 40% und nach einem Jahr noch 10.0%.
2.3.2 Risikofaktoren für PTBS bei Kindern Genetische Faktoren
Obwohl sie in dieser Arbeit nicht ausgewertet werden können, sei erwähnt, dass es deut
liche Hinweise auf moderierende genetische Faktoren bei der individuellen Reaktion auf Gewalterfahrungen, und damit verbunden, bei der Entwicklung von PTBS gibt.
Caspi et al. (2002) untersuchten in einer Längsschnittstudie an über 500 männlichen Personen, von denen 8% im Alter zwischen 3 und 11 Jahren schwer misshandelt und 28% wahrscheinlich misshandelt wurden, die Rolle genetischer Polymorphismen in Zu
sammenhang mit der Frage, warum manche dieser misshandelten Jungen antisoziales Verhalten entwickeln und andere nicht. Ein Gen auf dem XChromosom, welches ver
antwortlich ist für die Expression von Monoaminooxidase A, stellte sich dabei als ein prädiktiver Faktor für die Entwicklung antisozialen Verhaltens heraus. Misshandelte Kinder mit einem Genotyp, der zu einem hohen Niveau von MonoaminooxidaseEx
pression führt, entwickeln mit geringerer Wahrscheinlichkeit antisoziales Verhalten als Kinder mit dem entsprechend anderen Genotyp. Bezüglich der Empfänglichkeit von Kindern auf äußerliche Angriffe kann der Genotyp demzufolge eine moderierende Rolle spielen.
In einer anderen Längsschnittstudie an der selben Stichprobe untersuchten Caspi et al. (2003) die Rolle eines Polymorphismus des 5HTT Gens bezüglich der Entwicklung von Depression in Folge von umweltbedingten Stresserfahrungen. Das 5HTT Gen spielt eine wichtige Rolle bei der Serotoninwiederaufnahme und hat sich ebenfalls als ein mo
derierender Faktor für die individuelle Reaktion auf äußerliche Angriffe herausgestellt.
Geschlecht
Die meisten Studien berichten über höhere Werte von Mädchen auf SelbstBerichtSka
len der Angst, Depression und Stressreaktionen in Folge traumatischer Ereignisse, als von Jungen (Yule, 1999). Laut Qouta, Punamäki & El Sarraj (2003) sind Mädchen emp
fänglicher für PTBSSymptome als Jungen. Mädchen leiden mehr an Intrusionen und zeigen mehr Vermeidungsverhalten und Hypervigilanz. An Kindern des mittleren Os
tens konnte diese Tendenz jedoch noch nicht nachgewiesen werden (Qouta, Punamäki &
El Sarraj, 2003). Bei Mertin & Mohr (2000) gab es einen signifikanten Zusammenhang von Geschlecht und dem PTBSSymptom der Hypervigilanz, welches bei 96% der Mäd
chen im Vergleich zu 75% der Jungen vertreten war. Schaal & Elbert (2006) berichten von einer fast doppelt so hohen PTBSPrävalenz bei Mädchen im Vergleich zu Jungen bei einer Stichprobe ruandesischer Waisenkinder.
Alter
Was den Einfluss des Alters der Kinder auf die Entwicklung einer PTBS betrifft, gab es in der bisherigen Forschung sehr widersprüchliche Ergebnisse. Auf der einen Seite wird argumentiert, jüngere Kinder seien im Vorteil aufgrund ihrer ungenaueren Wahrneh
mung und des schlechteren Verständnisses des traumatischen Ereignisses. Auf der ande
ren Seite heißt es, jüngere Kinder seien anfälliger für die Entwicklung von PTBSSym
ptomen aufgrund ihrer weniger effektiven Copingstrategien (Qouta et al. 2003). Margo
lin & Gordis (2000) führen an, dass besonders kleine Kinder die erlebte Gewalt und das damit verbundene Risiko noch nicht genügend verstehen können und daher in gewisser Weise vor den psychischen Folgen geschützt sind. In der Studie von Mertin & Mohr (2000) hatte das Alter der Kinder keinen signifikanten Effekt bezüglich der PTBSSym
2.3 Theorie - PTBS in ehemaligen Kriegsgebieten
ptomatik. Schaal & Elbert (2006) berichten dagegen von einer stärkeren PTBSSympto
matik bei Kindern, die zum Zeitpunkt des Traumas zwischen acht und dreizehn Jahre alt waren, verglichen mit Kindern, die zwischen drei und sieben Jahre alt waren.
Häusliche Gewalt
Famularo, Fenton & Kinscherff (1993) versuchten, die unterschiedlichen Effekte ver
schiedener Misshandlungsformen an Kindern in Hinblick auf die Entwicklung einer PTBS zu untersuchen. Dabei hatten Kinder, die sexuell missbraucht wurden oder die Zeugen von Gewalt innerhalb der Familie wurden, mit größerer Wahrscheinlichkeit eine PTBS entwickelt als Kinder, die andere Formen der Misshandlung erleben mussten.
63% der Kinder, die sexuell missbraucht wurden, erfüllten die Kriterien für eine PTBS.
Von den Kindern, die nicht sexuell missbraucht worden waren, wurde nur bei 28% eine PTBS diagnostiziert. 50% der Kinder, die Zeuge von Gewalt geworden waren, entwi
ckelten eine PTBS, verglichen mit 20% der Kinder, die nicht Zeuge von Gewalt gewor
den waren. Auch emotionale Misshandlung war ein signifikantes Kriterium für die Ent
wicklung einer PTBS. Physische Misshandlung oder Vernachlässigung waren dahinge
gen keine signifikanten Kriterien, um Kinder mit PTBS von solchen ohne zu unterschei
den.
GrahamBermann & Levandosky (1998), Kilpatrick & Williams (1997) und Lehman (1997) gehören zu den ersten Forschern, die PTBS speziell an Kindern untersuchten, die in ihren Familien Zeuge von Gewalt geworden waren. GrahamBermann & Levandosky (1998) untersuchten eine Stichprobe von 64 Kindern im Alter von sieben bis zwölf Jah
ren, die alle Zeugen emotionaler und physischer Gewalt gegen ihre Mutter geworden wa
ren. 13% dieser Kinder erfüllten alle Kriterien für eine PTBS. Kilpatrick & Williams (1997) zogen aus ihrer Untersuchung an 35 Kindern zwischen sechs und zwölf Jahren ebenfalls den Schluss, dass das Bezeugen häuslicher Gewalt als Stressor ausreichend stark sein kann, um PTBSSymptome bei Kindern auszulösen. In der Studie von Leh
mann (1997) hatten 56% der 84 untersuchten Kinder eine PTBS. GrahamBermann &
Levandovsky (1998) waren im Gegensatz zu Lehmann (1997) dazu in der Lage, physisch
missbrauchte Kinder gesondert zu betrachten, und fanden keinerlei signifikante Grup
penunterschiede zu Kindern, die selber nicht misshandelt wurden.
Ebenfalls den Zusammenhang von posttraumatischen Symptomen und häuslicher Gewalt untersuchten Mertin & Mohr (2002) an 56 Kindern, deren Mütter Zuflucht in Frauenhäusern SüdAustraliens gefunden hatten. Mertin & Mohr halten ein posttrauma
tisches StressNetzwerk für am besten geeignet, die Reaktionen von Kindern, welche Zeugen häuslicher Gewalt wurden, zu verstehen. 20% der 56 Kinder von Mertin &
Mohrs (2002) Stichprobe erfüllten die Kriterien einer PTBS Diagnose. Die häufigsten Symptome dieser Kinder waren unangenehme Gedanken, bewusste Vermeidung, Hyper
vigilanz und Schlafstörungen. Ebenfalls vertreten waren unangenehme Träume, Irritier
barkeit, Konzentrationsschwierigkeiten und eine erhöhte Schreckhaftigkeit. Die Kinder waren zwischen 8 und 16 Jahren alt, mit einem Durchschnittsalter von 10 Jahren. Eine Variable, die Mertin & Mohr zu folge wichtig zu erfassen sei, ist die psychische Ge
sundheit der Mütter und ihre emotionale Beziehung zu den Kindern, da der Mutter
KindBeziehung eine wichtige Pufferfunktion bei ehelichen Konflikten zukommt. Mer
tin & Mohr (2002) kommen ebenfalls zu dem Schluss, dass allein schon das Bezeugen häuslicher Gewalt ein ausreichender Stressor ist, um bei einem Kind eine PTBS auszu
lösen.
Kriegserlebnisse
Qouta, Punamäki & El Sarraj (2003) untersuchten die Prävalenz und die Prädiktoren von PTBS in Zusammenhang mit militärischer Gewalt. Die Stichprobe von Qouta et al.
(2003) bestand aus 121 palästinensischen Kindern und ihren Müttern. Die Kinder waren zwischen sechs und sechzehn Jahre alt. Zur Zeit der Interviews lag der letzte intensive Beschuss der Häuser und Zelte der betreffenden Familien durch die israelische Armee noch kein halbes Jahr zurück.
Qouta et al. verwendeten eine eigens entworfene Liste traumatischer Ereignisse, die typisch waren für die Zeit der „Al Aqsa Intifada“. Die abgefragten Ereignisse bestanden aus sieben Erfahrungen von militärischer Gewalt am eigenen Leib und fünf Erfahrun
gen, die anderen widerfuhren und von der befragten Person bezeugt wurden. Die PTBS