5.6.1 Prädiktoren häuslicher Gewalt
Signifikante Prädiktoren für die Anzahl von Typen häuslicher Gewalterfahrungen waren die Größe des Haushaltes, die tägliche Arbeitszeit des Kindes, die Summe der Familien
besitzgüter und die Anzahl von Typen kriegerischer Gewalterfahrungen.
Um die Haushaltsgröße als Risikofaktor für häusliche Gewalt zu erklären, könnte man spekulieren, dass mehr Mitglieder in einem Haushalt auch engere räumliche und soziale Verhältnisse bedeuten. Die zwischenmenschlichen „Reibungsflächen“ vergrö
ßern sich und das Konfliktpotential steigt. Das enge Zusammenleben könnte sozialen Stress verursachen und Konflikte eskalieren dadurch vermutlich schneller in Gewalt. Je mehr Menschen unter einem Dach zusammenleben, desto größer wird die Wahrschein
lichkeit für das Kind, Zeuge oder Opfer familiärer Gewalt zu werden. Starr (1988) kommt zu vergleichbaren Ergebnissen und berichtet über eine Zunahme der gegen Kin
der gerichteten Gewalt mit zunehmender Familiengröße.
Die tägliche Arbeitszeit des Kindes korreliert positiv mit der Anzahl an Typen häus
licher Gewalterfahrungen. Es liegt nahe anzunehmen, dass Kinder im Schulalter nicht freiwillig bis zu zwölf Stunden täglich am Webstuhl arbeiten, sondern nur unter Aus
übung von Zwang, psychischem Druck und auch körperlicher Gewalt von ihren Familien und Arbeitgebern dazu gebracht werden. Vermutlich ist dabei umso mehr psychische und physische Gewalt nötig, je länger am Tag die Kinder arbeiten müssen. Das Ergebnis ist konsistent mit dem von Khamis (2000) berichteten Zusammenhang psychischer Ge
walt und Kinderarbeit. 11,8% der 1000 palästinensischen Kinder aus Khamis Stichprobe gingen einer Arbeit nach. Die Kinder, die arbeiten mussten hatten dabei signifikant hö
here Werte auf den Skalen psychischer Misshandlung, als Kinder, die nicht arbeiten mussten.
Die Summe der vom Kind angegebenen Familienbesitzgüter fungiert in dieser Stu
die als ein Indikator für Armut. In der Literatur wird Armut als ein gesicherter Risiko
faktor für häusliche Gewalt angesehen. Je ärmer die Verhältnisse sind, in denen die Fa
milie lebt, desto mehr Gewalt erfährt das Kind (Tolan, GormanSmith & Henry, 2006).
Die Summe der Familienbesitzgüter korreliert als Prädiktor für häusliche Gewalt negativ mit der Anzahl an Typen häuslicher Gewalterfahrungen. Hypothese Nr. 3 kann somit be
stätigt werden.
Je mehr Typen kriegerischer Gewalt ein Kind erlebt hat, umso mehr Typen häusli
cher Gewalt hat es auch angegeben. Hypothese Nr. 4 kann somit ebenfalls bestätigt wer
den. Kriegerische Gewalterfahrungen sind ein Risikofaktor für das Erleben häuslicher Gewalt. Im Gegensatz zu Armut wurden kriegerische Gewalterfahrungen als Prädikto
ren für häusliche Gewalt in der Literatur bisher nicht untersucht. So gesehen handelt es sich um eine neue Erkenntnis, die erst erklärt werden muss. Ein möglicher kausaler Zu
sammenhang zwischen kriegerischer und häuslicher Gewalt liegt im Stress, den kriege
rische Gewalterfahrungen mit sich bringen und unter denen die betroffenen Personen
5.6 Diskussion - Zusammenhang von Krieg, häuslicher Gewalt und PTBS
noch längere Zeit im Sinne einer Traumatisierung leiden. Stress ist in der Literatur be
reits als ein Risikofaktor für häusliche Gewalt bekannt (Tolan, GormanSmith & Henry, 2006), daher liegt es nahe, auch posttraumatischen Stress als Risikofaktor für häusliche Gewalt in Betracht zu ziehen. Vermutlich sind viele der Familien, die Opfer kriegeri
scher Gewalt wurden, vor dieser auch geflüchtet. Zum traumatischen Stress kommt bei diesen Menschen also noch der sozioökonomische Stress hinzu, den die widrigen Le
bensumstände als Flüchtling mit sich bringen.
Khamis (2000) stellt in seiner Studie fest, dass Kinder, die in Flüchtlingslagern le
ben, mehr psychische Misshandlung in ihren Familien erleben, als andere Kinder. Er er
klärt dies dadurch, dass diese Familien einem sehr viel größeren soziopolitischen und ökonomischen Stress ausgesetzt sind, geht jedoch nicht näher auf die genauen Kausalzu
sammenhänge ein. Denkbar wären zwei Arten der Kausalwirkung. Zum einen könnte der sozioökonomische Stress ein unangepasstes, unruhiges oder agressives Verhalten bei den Kindern auslösen, so dass sie in ihren Familien mehr Anlass geben, geschlagen zu werden. Zum anderen könnte der sozioökonomische Stress aber auch bei den Eltern ein höheres Erregungs und Aggressionsniveau verursachen, so dass diese häufiger ihre Kinder schlagen.
5.6.2 Prädiktoren der PTBS-Symptomatik
Prädiktoren für die Stärke der PTBSSymptomatik waren die Anzahl von Typen häusli
cher Gewalt, die Anzahl von Typen kriegsbedingter Gewalt und die tägliche Arbeitszeit des Kindes.
Je mehr häusliche und kriegerische Gewalterfahrungen ein Kind machen musste, de
sto stärker ist seine PTBSSymptomatik. Dieses Ergebnis bestätigt den aus der Literatur bekannten DosisEffekt, der besagt, dass eine Person mit umso größerer Wahrschein
lichkeit eine PTBS entwickeln wird, je mehr traumatische Erlebnisse sie im Laufe ihres Lebens erfahren hat (Neuner et al., 2004; Catani et al., 2005; Schaal & Elbert, 2006).
Hypothese Nr. 5 wird somit bestätigt.
Dass die tägliche Arbeitszeit des Kindes ebenfalls ein Prädiktor für die Stärke der PTBSSymptomatik ist, kann auf mehrere Arten interpretiert werden. Wie im vorigen
Abschnitt beschrieben, hängt die Arbeitszeit der Kinder direkt mit der Häufigkeit an Ty
pen häuslicher Gewalterfahrungen zusammen. Möglicherweise sind die Arbeitsbedin
gungen des Kindes aber auch unabhängig von der dabei erlebten Gewalt ein ungünstiger Faktor für die entweder schon vorhandene, oder sich entwickelnde PTBS. Wie bereits erwähnt, ist das genaue Ausmaß der negativen Folgen von schwerer Kinderarbeit nicht bekannt. Angesichts der reizarmen Umgebung während der stundenlangen monotonen Arbeit an einem Webstuhl könnte man eine gewisse sensorischer Deprivation anneh
men, die sich ungünstig auf die psychische und hirnorganische Entwicklung des Kindes auswirkt (siehe dazu Fox, Leavitt & Warhol, 1999) und womöglich auch einen negativen Einfluss auf die Vulnerabilität, bzw. die Resilienz des Kindes bezüglich der Entwick
lung einer PTBS hätte.
5.6.3 PTBS, Krieg und häusliche Gewalt
Im Vergleich zu anderen Populationen aus Krisengebieten (beispielsweise Sri Lanka in Schauer et al., eingereicht) haben die Kinder der vorliegenden Stichprobe mit durch
schnittlich 1,51 Ereignistypen bei den Jungen und 0,87 Ereignistypen bei den Mädchen, relativ wenige Typen traumatischer Erlebnisse angegeben und haben dennoch eine ver
gleichbar hohe PTBSPrävalenz. Daher erscheint die Frage berechtigt, welche Faktoren die Vulnerabilität für die Entwicklung einer PTBS erhöht haben könnten.
Obwohl die Kinder aufgrund ihres geringen Alters die schwersten Kriegsjahre der afghanischen Geschichte nicht selbst miterlebt haben, ist dennoch anzunehmen, dass sie indirekt davon betroffen wurden. Im Entwicklungsbericht der Vereinten Nationen (UNDP 2004) wird geschätzt, dass ungefähr 2 Millionen Afghanen an ernsten psychi
schen Problemen leiden, und dass der größte Teil der Bevölkerung aufgrund des jahr
zehntelangen Kriegszustandes mehr oder weniger starke Symptome aufweist, die dem Spektrum der PTBS zuzuordnen sind. Im Sinne sogenannter „Cycle of violence“Theo
rien lässt sich nun spekulieren, dass das aus der Literatur bekannte, hohe Niveau von PTBS in der erwachsenen Bevölkerung, sich in Form von höherer Gewalt an den Kin
dern niederschlägt. Die kriegerischen Ereignisse wirken sich also nicht nur direkt auf die psychische Gesundheit der Kinder aus, indem sie traumatischen Stress verursachen,
5.6 Diskussion - Zusammenhang von Krieg, häuslicher Gewalt und PTBS
sondern auch indirekt, indem sie ein psychosoziales Umfeld schaffen, das der Entwick
lung der Kinder enorm abträglich ist und weiteren traumatischen Stress in Form von häuslicher Gewalt verursacht.
Die ursprüngliche „Cycle of violence“Theorie (Widom, 1995) besagt jedoch ledig
lich, dass Menschen, welche in ihrer Kindheit viel familiäre Gewalt erfahren haben, spä
ter als Erwachsene mehr gewalttätiges oder delinquentes Verhalten zeigen, als Men
schen, die als Kinder weniger familiäre Gewalt erlebt haben. Die Hypothese, dass Er
wachsene, die an PTBS leiden deswegen häufiger ihre Partner oder Kinder schlagen, ist zwar naheliegend, wurde jedoch noch nicht durch wissenschaftliche Studien belegt. Um dieser Frage nachzugehen müsste zusätzlich der psychische Gesundheitszustand der El
tern erfasst werden.
Angesichts der sonstigen widrigen Umstände unter denen Kinder in Afghanistan aufwachsen, kann eine ohnehin schon erhöhte Vulnerabilität für PTBS vermutet werden.
Werden die Kinder noch zusätzlich durch häusliche Gewalt und Zwangsarbeit belastet, könnte womöglich schon ein einzelnes traumatisches Ereignis eine PTBS auslösen, die unter normalen Bedingungen durch verschiedene Resilienzfaktoren abgefangen werden würde.
Der in dieser Arbeit gefundene Zusammenhang von Erlebnissen kriegsbedingter Ge
walt und der vom Kind erfahrenen häuslichen Gewalt ist ein Hinweis auf eine mögliche Kausalkette von traumatisierenden kriegerischen Gewalterfahrungen der Eltern zu ver
mehrter häuslicher Gewalt und damit zur indirekten Entwicklung von PTBS bei der nachfolgenden Generation. Die Ergebnisse dieser Arbeit scheinen einen solchen interge
nerationalen Zusammenhang von kriegerischen Ereignissen, häuslicher Gewalt und PTBS zu bestätigen, es bedarf jedoch weiterer Studien, insbesondere paralleler Befra
gungen von Eltern und Kindern, um eine solche Hypothese zu belegen.