2.2 Kinder und familiäre Gewalt
2.2.4 Auswirkungen von Gewalt an Kindern
Laut Margolin & Gordis (2000) bestehen die unmittelbaren Reaktionen der Kinder auf alle Formen der Gewalt aus den Gefühlen der Hilflosigkeit, Angst, Wut und Erregung.
Gewalt gegen Kinder berührt nicht nur deren physische Gesundheit und Sicherheit, son
dern auch ihr psychisches Anpassungsvermögen, ihre sozialen Beziehungen und ihre schulischen Leistungen. Auch Terr (1991) berichtet von beeinträchtigten kognitiven und schulischen Leistungen in Folge von erlebter Gewalt. In Khamis (2000) Studie waren
2.2 Theorie - Kinder und familiäre Gewalt
schlechte Schulleistung der Kinder eng mit dem Auftreten psychischer Misshandlung in der Familie verbunden. Schauer, Elbert, Schauer, Huschka et al. (eingereicht) berichten ebenfalls über verminderte Schulleistung und kognitive Fähigkeiten bei Kindern, die Opfer militärischer Gewalt auf SriLanka geworden sind.
Dieser negative Einfluss geht über emotionale und behaviorale Störungen hinaus und beeinflusst auch das Selbstbild der Kinder, ihre Sicht der Welt, ihre Vorstellungen von Sinn und Bedeutung des Lebens, ihre Erwartungen an die Zukunft und nicht zuletzt ihre eigene moralische Entwicklung. Der Einfluss solcher Gewalterfahrungen reicht weit in die Zukunft der Kinder hinein und betrifft sie auch dann noch, wenn sie erwachsene Mitglieder der Gesellschaft geworden sind. (Margoling & Gordis 2000).
Kinder sind besonders empfindlich für die Folgen von Gewalt, weil die Gewalterfah
rung das „Timing“ typischer Entwicklungsverläufe durcheinander bringen kann. Zum einen kann Gewalt in primären Effekten resultieren, wie erhöhter Ängstlichkeit, Depres
sion und PTBSSymptome (Thabet, Abed & Vostanis, 2004; et al.). Zum anderen lösen diese primären Effekte wiederum sekundäre Reaktionen aus, indem sie Entwicklungsab
läufe der Kinder unterbrechen oder verzögern. RegressionsSymptome können z.B.
Bettnässen, erhöhte Trennungsangst oder verminderte Verbalisierung sein. Verminderte soziale Fertigkeiten oder beispielsweise Konzentrationsstörungen in der Schule sind weitere mögliche Folgen. (Joshi & Lewin, 2004; Quota, Punamäki & El Sarraj, 2003)
Wenige Studien setzen die Folgen von kindlichen Gewalterfahrungen in den Kontext verschiedener Ethnien und Kulturen. Dies ist umso bedauerlicher, als Normen, Vorstel
lungen und Werte, die im Zusammenhang mit Gewalt stehen, von Kultur zu Kultur sehr unterschiedlich sein können. Nicht nur die Schwelle zwischen akzeptierter und misshan
delnder körperlicher Bestrafung liegt in verschiedenen Kulturen sehr unterschiedlich, sondern auch die jeweiligen Familienstrukturen und sonstigen Erziehungsstile. (Margo
lin & Gordis, 2000)
Mertin & Mohr (2002) bestätigen Margolin & Gordis darin, dass Kinder, welche Opfer von häuslicher Gewalt wurden, vermehrt emotionale, kognitive und Verhaltens
Probleme aufweisen. Aggression und antisoziale Verhaltensweisen gehören zusammen
mit Ängstlichkeit, Inhibierung, geringer Sozialkompetenz und Depression zum Verhal
tensbild dieser Kinder. Gewalt und Gewalttolerierendes Rollenverhalten scheinen sich beim Älterwerden bis in die Erwachsenenbeziehungen hinein zu erhalten. (Mertin &
Mohr, 2002)
Bisher gibt es nur wenige Längsschnittstudien, die den Einfluss von kindlichen Ge
walterfahrungen untersuchen. Rogosch et al. (1995) zeigen den Zusammenhang von frü
her Misshandlung und späteren Problemen in PeerBeziehungen. Miller (1999) beob
achtete bei einer Stichprobe sozial benachteiligter Jungen aus einem Stadtgebiet ein er
höhtes Risiko negativen Verhaltens, wenn bezeugte Gewalterfahrungen in der sozialen Umgebung vorlagen.
Widom (1995) demonstrierte den so genannten „Cycle of Violence“ an einer Stich
probe von 1.575 Kindern, die über einen Zeitraum von 20 Jahren hinweg untersucht wurden. Kinder, welche vor ihrem 12. Lebensjahr physisch oder sexuell misshandelt oder vernachlässigt worden waren, wurden später mit größerer Wahrscheinlichkeit we
gen delinquentem Verhalten von der Polizei festgenommen und zeigten mehr kriminel
les, gewalttätiges Verhalten als die Kontrollgruppe.
Solche Längsschnittstudien erlauben zwar Rückschlüsse auf zeitliche Zusammen
hänge, sind jedoch nicht in der Lage, echte Kausalzusammenhänge aufzuzeigen. Da man das Auftreten und die Dosierung von Gewalt nicht im experimentellen Kontext kontrol
lieren kann, ist es prinzipiell nur möglich, empirische und zeitliche Zusammenhänge – niemals jedoch Kausalzusammenhänge – aufzuzeigen.
Psychobiologische Effekte
Perry (1997) erläutert verschiedene Wege, mittels derer sich Gewalterfahrungen auf die kindliche Neurobiologie auswirken können. Das kindliche Gehirn ist aufgrund seiner hohen Plastizität extrem empfindlich für Umwelteinflüsse. Das chronische Erleben von Gewalt kann aufgrund zu intensiver Stimulation bestimmter Hirnregionen zu einer ab
normalen neurologischen Entwicklung führen. Die Auswirkungen von Gewalt beein
flussen das Erregungsniveau eines Kindes und ihre Fähigkeit, angemessen auf Stresssi
tuationen zu reagieren. Außerdem berichtet wird von Veränderungen des allgemeinen
2.2 Theorie - Kinder und familiäre Gewalt
Erregungsniveaus, gesteigertem Muskeltonus, erhöhtem Schreckreflex, Schlafstörungen und abnormalen cardiovaskulären Regulationsmechanismen bei Kindern, die traumati
schen Erlebnissen ausgesetzt waren. (Perry, 1997; Prasad, 2000)
De Bellis (2001) hält psychobiologische Veränderungen des kindlichen Gehirns auf
grund erlebter Gewalt für eine wesentliche Komponente einer komplexen Entwicklungs
störung, welche einen Risikofaktor für eigenes gewalttätiges Verhalten darstellt und so
mit zu einem intergenerationalen Zyklus der Gewalt führen kann. De Bellis & Putnam (1994) berichten von erhöhter Catecholaminaktivität und einem übererregten Dopami
nergen System, das in Zusammenhang steht mit dem posttraumatischen Stresssymptom der Hypervigilanz.
Chronischer Stress scheint zu einer Dysregulation der so genannten HPAAchse („hypothalamicpituitaryadrenal“) zu führen. Diese stellt eines der wichtigsten Stress
RegulationsSysteme dar und wird über FeedbackMechanismen so gesteuert, dass Stress zuerst zu einem Anstieg der CortisolProduktion führt, aber anschließend ein ne
gativer FeedbackMechanismus zu einem erniedrigten CortisolSpiegel führt (Nelson &
Carver, 1998). Ebenfalls verbunden mit Stress und traumatischen Ereignissen ist eine abnormale Funktion der so genannten HPGHAchse („hypothalamicpituitarygrowth hormone“). Dies kann zu Verzögerungen und Störungen des pubertären Wachstums füh
ren. Beginn der Pubertät und sexuellen Verhaltens können von traumatischen Ereignis
sen verschoben werden, die Forschungsergebnisse sind jedoch noch nicht eindeutig be
züglich der Richtung, in welche die Verschiebung stattfindet. (De Bellis & Putnam, 1994)
Des weiteren führt Prasad (2000) zahlreiche weitere neuroendokrine Dysregulatio
nen in Zusammenhang mit kindlichen Gewalterfahrungen und PTBS an, unter anderem bezüglich der Neurotransmitter Noradrenalin, Serotonin und Dopamin. Auf nähere De
tails soll im Rahmen dieser Arbeit jedoch nicht weiter eingegangen werden.