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Archiv "Gesundheitsreform: Den Kanzler im Nacken" (17.01.2003)

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D

as brisante Dokument war kaum noch zu entziffern. Im- mer wieder fotokopiert und unter der Hand weitergereicht, wa- ren die Buchstaben mittlerweile verblasst und von Druckerschwär- ze überzogen. In Rekordzeit mach- te in Berlin kurz vor Jahresfrist ein als „geheim“ deklariertes (mittler- weile auch im Internet nachzu- lesendes) Strategiepapier aus dem Kanzleramt die Runde, dessen ge- sundheitspolitische Passage auch unter SPD-Politikern für Verwun- derung gesorgt hat.

Entgegen der bisherigen rot- grünen Regierungslinie sprechen sich die Schröder-Berater um Kanzleramtschef Frank Walter Steinmeier ausdrücklich für Wahl- tarife mit Eigenbeteiligung der Pa- tienten in der Gesetzlichen Kran- kenversicherung (GKV) aus. Ein Affront für Gesundheits- und So- zialministerin Ulla Schmidt, die in Wahlkampfzeiten Forderungen der Union nach Grund- und Wahl- leistungen in der GKV als „Sarg- nägel“ für die solidarische Ge- sundheitsversorgung bezeichnet hatte.

Bei der SPD-Führungsklausur ver- gangene Woche in Wiesbaden mühten sich Kanzler Gerhard Schröder und Ressortchefin Schmidt, ihre Differen- zen herunterzuspielen. Schließlich galt es, Einigkeit in der Parteispitze zu de- monstrieren, um den derben Fehlstart der rot-grünen Bundesregierung vor den Landtagswahlen in Hessen und Niedersachsen am 2. Februar vergessen zu machen.

Es gebe keine Differenzen und man stehe mit dem Kanzleramt „in sehr en- gen Gesprächen“, sagte Schmidt am Rande des SPD-Treffens, bei dem sie

die Grundzüge ihrer geplanten Ge- sundheitsreform vorstellte. Die wichtig- sten Überschriften ihres Reformvorha- bens waren ohnehin bekannt: Die Schaffung von mehr Wettbewerb unter Krankenkassen und Leistungserbrin- gern, die Einführung eines Gesund- heitspasses und die Liberalisierung des Arzneimittelhandels stehen voraussicht- lich ebenso auf der Reformagenda der Ministerin wie die Öffnung der Kran- kenhäuser für die ambulante Versor- gung, die Stärkung des Hausarztes so- wie die Einrichtung eines Nationalen Instituts zur Sicherung der Qualität in

der Medizin. Zudem sollen Kran- kenkassen künftig direkt Verträge mit einzelnen Ärzten abschließen können – das Vertragsmonopol der Kassenärztlichen Vereinigun- gen wäre damit gebrochen.

Nach Informationen verschie- dener Tageszeitungen wurden dar- über hinaus zwei neue Reform- punkte vorgestellt: Demnach pla- ne die Ministerin, die Kassenarzt- zulassung nur noch auf Zeit auszu- stellen und eine Verlängerung an den Nachweis von Fortbildungen zu knüpfen. Außerdem sei eine Publizitätspflicht für Gehälter und Aufwandsentschädigungen der Vorstände von Kassenärztlichen Vereinigungen und Krankenkas- sen vorgesehen. Berichte, wonach die Gesetzesänderung Einsparun- gen von rund acht Milliarden Eu- ro einbringen werde, bestätigte Schmidt nicht.

Mit Spannung wird erwartet, in- wieweit sich die gesundheitspoliti- schen Vorschläge aus dem Strate- giepapier des Bundeskanzleram- tes in den Reformüberlegungen des Gesundheits- und Sozialmini- steriums wiederfinden werden.

Bei den von den Kanzler-Beratern an- geregten „Tarifoptionen mit Bonussy- stem“ zieht Schmidt bereits mit. Sollte sich die Ministerin aber auch der Forde- rung nach Wahltarifen mit Eigenlei- stungen anschließen, wird sie sich ver- mutlich mit dem Vorwurf des Wahl- betruges konfrontiert sehen. Hatte Schmidt doch im Wahlkampf mit ihrem entschiedenen „Nein“ zu Grund- und Wahlleistungen erfolgreich um Unter- stützung bei Gewerkschaften und Pati- entenvertretern geworben. Eine derar- tige „Rolle rückwärts“ wäre nur schwer

zu vermitteln.

P O L I T I K

Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 317. Januar 2003 AA73

Gesundheitsreform

Den Kanzler im Nacken

Während Gesundheitsministerin Ulla Schmidt bei der SPD-Führungsklausur in Wiesbaden den Genossen die Kernpunkte ihrer Gesundheitsreform erläutert,

schmieden Strategen im Kanzleramt eigene Pläne.

Kanzler Schröder, Ministerin Schmidt: Differenzen her-

untergespielt Foto: ddp

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Dass sich Kanzler Schröder mit der- lei „Kurskorrekturen“ weniger schwer tut, hat er seit der Bundestagswahl hin- länglich bewiesen. So kann man das Strategiepapier seiner Berater auch als

„Versuchsballon“ interpretieren, mit dem ausgetestet werden soll, wie weit man beim Wähler, aber auch bei den ei- genen Leuten gehen kann.

Heftige Kritik in SPD-Fraktion auf Kanzleramtspapier

SPD-Fraktionschef Franz Müntefering ist nach einem Bericht der Stuttgarter Zeitung auf Distanz zu den Reformvor- schlägen aus dem Kanzleramt gegan- gen. Wie die Zeitung berichtete, betont Müntefering zwar in einem Brief an die Abgeordneten seiner Fraktion, dass das Gesundheitswesen effizienter gestaltet werden müsse. Deshalb sei es sinnvoll, die Versicherten für die Gesundheits- kosten zu sensibilisieren. „Auszuschlie- ßen sind dagegen Regelungen, die Krankheit bestrafen und Gesundheit belohnen.“ Dies widerspreche dem So- lidaritätsgedanken, so Müntefering.

Auch die Sprecherin der SPD-Linken, Andrea Nahles, lehnte eine „weitere einseitige Belastung der Arbeitnehmer durch mehr Eigenbeteiligung“ strikt ab.

Für den wirtschaftspolitischen Sprecher der SPD-Fraktion, Rainer Wend, ist es dagegen längst überfällig, dass alte SPD-Positionen gekippt werden. Mehr Eigenverantwortung im Gesundheits- wesen könne das Solidarsystem sichern, glaubt der Wirtschaftsfachmann.

Schröder tat gut daran, die Wiesba- dener Klausurtagung zu nutzen, um die Wogen in der Partei zu glätten. Ein neuerlicher Streit mit der Fraktion oder gar eine öffentliche Auseinanderset- zung mit seiner „Superministerin“ wä- re angesichts der anstehenden Land- tagswahlen verheerend für die Regie- rung. Einigkeit lautet deshalb das Ge- bot der Stunde. Diese wird auch tapfer nach außen demonstriert. Intern haben sich die Kanzler-Vordenker aber be- reits zu einem zweiten Treffen verabre- det. „Strategie 2010“ nennt sich die Ex- pertenrunde mittlerweile. Dem Ver- nehmen nach gehören ihr, neben Kanz- leramtschef Steinmeier und dessen Stabschef Stephan Steinlein, Schröders

Büroleiterin Sigrid Krampitz, sein Kom- munikationsberater Reinhard Hesse, die Regierungssprecher Bela Anda und Thomas Steg sowie der Planungschef von Wirtschaftsminister Wolfgang Cle- ment, Henry Cordes, an.

Würden Schmidt und die Fraktion den gesundheitspolitischen Vorschlä- gen der Kanzler-Gruppe folgen, wäre für das Reformpaket der Weg durch den Bundesrat geebnet. Damit erfüllt der „Versuchsballon“ Strategiepapier seine dritte Funktion: Das Papier ist ei- ne Offerte an den politischen Gegner, der bei der anstehenden Reform mit ins Boot geholt werden soll.

Die Rechnung scheint aufzugehen.

„Das ist doch unser Regierungspro- gramm“, kommentierte der Unions- Gesundheitsexperte Horst Seehofer ge- genüber dem Berliner Tagesspiegel das Kanzleramtspapier. Wenn eine fort- schrittliche Denkschule zum Maßstab des Regierungshandelns werde, sei die Zustimmung der Union für die Reform-

pläne im Bundesrat möglich. Und auch der hessische Ministerpräsident Roland Koch kündigte am Donnerstag vergan- gener Woche zum Abschluss der CSU- Klausurtagung in Wildbad Kreuth an:

„Die Regierung bekommt unsere Hand gereicht, wo sie bereit ist, auf der Grundlage unserer Prinzipien Kompro- misse zu machen.“

Schröder drängt seine Ministerin zur Eile

Davon unbeirrt laufen derweil im Ge- sundheits- und Sozialministerium die Arbeiten an der geplanten Gesund- heitsreform auf Hochtouren. Der SPD- Fraktionsvorstand hat bereits grünes Licht für die Pläne von Schmidt gege- ben. Bei ihrer Klausurtagung in Wörlitz bei Dessau signalisierte auch die Frak- tion von Bündnis 90/Die Grünen Zu- stimmung. Kanzler Schröder drängte Schmidt vergangenes Wochenende in Berlin dazu, das Tempo bei der Aus- arbeitung der Reform weiter zu er- höhen. Außerdem, so Schröder, müsse die Arbeit der Rürup-Kommission (die noch vor der Sommerpause Ergeb- nisse vorlegen wird) stärker mit den Konzepten aus dem Ministerium „ver- zahnt“ werden.

Schmidt sagte, der Zeitplan sei so,

„dass wir vor der Sommerpause mit der parlamentarischen Beschlussfassung fertig sind“. Mit ersten Eckpunkten wird nun bereits in den nächsten Tagen gerechnet. Vor Ostern noch soll das Gesetzesvorhaben in erster Lesung den Bundestag passieren.

Ob bis dahin der Duktus der Gruppe um Steinmeier in dem Gesetzentwurf erkennbar sein wird, bleibt Spekulati- on. Bisher mühte sich Schröder, den Vorstoß seines Hauses als „Gedanken- skizze“ und „Arbeitspapier“ herunter- zuspielen. Es sei selbstverständlich, dass im Kanzleramt über den Tag hinaus gedacht werde, sagte er in einem Zei- tungsinterview. Mit Blick auf seine Be- rater fügte der Kanzler hinzu: „Ent- scheidungen treffe am Ende ich.“ Eine deutliche Botschaft – auch für seine Ministerin. Samir Rabbata

Das Strategiepapier aus dem Kanzleramt im Internet:

www.aerzteblatt.de/plus0303 P O L I T I K

A

A74 Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 317. Januar 2003

Strategiepapier aus dem Bundeskanzleramt

(Auszug)

Auf dem Weg zu mehr Wachstum, Beschäftigung und Gerechtigkeit

[. . .]

Das Kernproblem des Gesundheitswesens liegt in falsch gesetzten Anreizstrukturen, die zu einer Verschwendung von gesellschaftlichen Ressour- cen führen. Diese Anreizstrukturen müssen korri- giert werden, ohne die solidarische Versorgung aufzugeben. [. . .] Dazu sollten mehr Wettbewerbs- elemente und mehr Transparenz eingeführt wer- den, zum Beispiel durch:

– Tarifoptionen mit Bonussystem: zum Beispiel Bonus für primäres Aufsuchen des Hausarztes und für Wahrnehmung präventiver Maßnahmen, Beitragsrückerstattung für kostenfreie Jahre, Wahltarife mit Eigenleistungen.

– Es ist richtig, direkte Verträge zwischen Ärz- ten/Krankenhäusern und Krankenversicherungen möglich zu machen (Veränderung Sicherstel- lungsauftrag).

– Liberalisierung des Vertriebs und der Preisbil- dung für Arzneimittel. Positivliste für Arzneimittel einführen.

– Mehr Wettbewerb zwischen privaten Kranken- kassen durch Übertragung gebildeter Altersrück- stellungen bei einem Versicherungswechsel. Da- durch würde ein wirksamer Wettbewerb um Be- standskunden einsetzen.

[. . .]

Referenzen

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