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Archiv "Notfallseelsorge: Lücke im Gefüge der Rettungsdienste" (10.04.1998)

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nfang der 90er Jahre wurde vielerorts die Lücke zwischen notärztlicher Versorgung und psychologischer Betreuung im ret- tungsdienstlichen Gefüge erkannt.

Auf Initiative von Seelsorgern der Kirchen und interessierten Mitarbei- tern aus den Hilfsorganisationen ent- wickelten sich einzelne „Nester“ von Notfallseelsorgern und Kriseninter- ventionsteams (KIT). Die Aufgaben dieser Einrichtungen haben sich in- zwischen vielfältig ausgeweitet. Nicht nur für Notarzt, Feuerwehr und Poli- zei sind sie eine willkommene Ergän- zung der rettungsdienstlichen Res- sourcen, auch niedergelassene Ärzte und Ärzte im Notfalldienst können den Notfallseelsorger oder ein KIT anfordern. Dazu müssen jedoch die Einsatzindikationen, die Verfügbar- keit und der Alarmierungsmodus all- gemein bekannt sein.

1 Erfolglose Reanimation. Die Betreuung von Hinterbliebenen, ins- besondere von älteren und jetzt plötz- lich alleinstehenden Men-

schen, liegt mit Abstand an der Spitze der Einsatzhäufig- keit (2, 5). Für diese Tätigkeit der Notfallseelsorger sind die Mitarbeiter des Rettungs- dienstes besonders dankbar, da es immer ein schlechtes Gewissen hinterläßt, einen Menschen in akuter seeli- scher Not, gegebenenfalls mit dem Verstorbenen zusam- men, alleine zu lassen.

1 SIDS. Der plötzliche Kindstod stellt für alle Betei- ligten eine Extremsituation dar. Selbst erfahrenes Ret- tungsdienstpersonal fühlt sich betroffen und hilflos. Da Adressen und Telefonnum-

mern von SIDS-Selbsthilfegruppen nicht allgemein bekannt sind und diese häufig nicht zeitnah zur Verfügung ste- hen können, wird hier der Einsatz des Notfallseelsorgers besonders wichtig.

1 Unglücksfälle mit Kindern.

Diese Notfälle belasten Eltern, Groß- eltern oder die aufsichtführenden Personen sehr stark. Hilfe durch seeli- schen Beistand kann auch noch ange- fordert werden, wenn sich erst in der Notaufnahme herausstellt, daß die Bezugsperson(en) alleine nicht mit der Situation zurechtkommen.

1 Bewältigung von Schuldge- fühlen. Häufig machen sich Angehöri- ge schwere Vorwürfe, in der Notfallsi- tuation falsch oder zu spät reagiert zu haben.

1 Sterbebegleitung. Nicht selten werden Notarzt und Rettungswagen ins Haus gerufen, wenn das Finalsta- dium bei Patienten mit inkurablen Grundleiden eingetreten ist. Die An- gehörigen können sich überfordert fühlen, mit dem nahen Tod umzuge-

hen. Krankenhauseinweisungen sind hier meist nicht sinnvoll. Ist der zu- ständige Gemeindepfarrer nicht er- reichbar, kann der Notfallseelsorger kurzfristig einspringen.

1 Überbringen von Todesnach- richten. Hierfür werden Geistliche vor allem von Polizeidienststellen herangezogen.

1 Menschen in Suizidgefahr.

Gelegentlich sind Notfallseelsorger schneller erreichbar als Polizeipsy- chologen oder werden parallel ver- ständigt. In manchen Fällen kann durch den geistlichen Beistand eine Suizidgefahr auch beseitigt und damit eine stationäre (Zwangs-)Einweisung vermieden werden.

1 Sterbebegleitung. Gläubige Menschen wollen oftmals in den letz- ten Stunden geistlichen Beistand. Der Notfallseelsorger kann in dringenden Fällen den zuständigen Gemeinde- pfarrer vertreten.

1 Krankentransportverweige- rung. Dies ist eine seltene Einsatz- indikation. Insbesondere äl- tere und alleinstehende Mit- bürger lehnen gelegentlich eine notwendige Kranken- hausbehandlung aus nicht nachvollziehbaren Gründen ab. Führt eine einfühlsame Überzeugungsarbeit von Arzt und Sanitätern nicht zum Erfolg, kann die Ein- schaltung von Pfarrer oder Priester sinnvoll sein.

1 Opfer von Gewalt- und Sexualdelikten. Die psy- chologische Betreuung von verletzten Opfern dürfte sel- tener direkt am Einsatzort notwendig werden. Eher ist dies bei Personen notwendig, die zum Beispiel als Geiseln

Notfallseelsorge

Lücke im Gefüge der Rettungsdienste

Die medizinische Notfallrettung in Deutschland hält ein hohes Niveau. Dagegen ist die Hilfe zur Bewältigung von seelischem Schmerz und Tod eher Nebensache.

Heinz Giering

A

NOTFALLMEDIZIN

Seelsorger ergänzen die Rettungskette

Themen der Zeit

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genommen waren oder deren An- gehörige Geiseln sind.

1 Betreuung von Menschen, die durch ein Großschadensereignis ob- dachlos geworden sind. Notfallseel- sorger können hier wichtige Arbeit leisten und werden deshalb von der Feuerwehr regelmäßig alarmiert.

Die Tätigkeiten der Notfallseelsorger oder KIT reichen von der Vermittlung menschlicher Wärme bis

hin zur Organisation von Unterkünften, Kleidung und der Verständigung von Angehörigen und Freun- den.1 Betreuung der Hel- fer. Die Unterstützung des körperlich stark bean- spruchten Personals ist notwendig (Verständigung der Familien über Ein- satzdauer, mentale Hilfe bei Totenbergungen).

1 Mit der Einsatz- indikation „Täterbetreu- ung“ sind weniger Straf- täter im herkömmlichen Sinn gemeint als Men- schen, die ungewollt zu Tätern geworden sind.

Hierzu zählen beispiels- weise Kraftfahrer, die ein Kind tödlich verletzt ha- ben, oder Menschen, die im Affekt Familienange- hörigen schweren Schaden zufügten oder gar töteten.

An diese Einsatzmöglich- keiten des Notfallseelsor- gers wird noch zu selten ge- dacht.

1 Die mentale Auf- bereitung von Einsatzge- schehnissen wird von vielen Angehörigen der Rettungs-

dienste, Feuerwehren und Polizei im- mer noch „belächelt“. Findet sie aber statt, wird sie allgemein gut aufgenom- men (3, 4) und wiederholt. Nur wenige andere Berufe werden regelmäßig ähnlichen Streßsituationen ausgesetzt (4). Andererseits kann sich die tägliche Routine belastender auswirken als der einzelne, spektakuläre Einsatz (4).

Mental nicht aufgearbeitete Belastun- gen führen aber zu einer erhöhten Inzi- denz an Arbeitsunfähigkeit in einem Bereich (6), der besonders engagierte Mitarbeiter nötig hat (4).

Bekanntheitsgrad ist noch zu gering

Wenn auch im allgemeinen der Bekanntheitsgrad von Notfallseelsor- gern noch zu gering ist, so gibt es doch Ansätze zur wissenschaftlichen Auf- arbeitung, zum Beispiel durch das Max-Planck-Institut für Psychiatrie.

Die posttraumatische Belastungs-

störung wurde von der WHO in den ICD-10-Schlüssel aufgenommen, ihre frühzeitige Behandlung soll gesund- heitliche Folgeschäden psychischer Traumatisierung verhindern (5).

Notfallseelsorger und Krisen- interventionsteams werden nie von der Bevölkerung selbst, sondern im- mer durch Rettungsdienst und Not- arzt (zum Beispiel über die Rettungs- leitstelle) oder über Feuerwehr und Polizei alarmiert. Auch der kas- senärztliche Notfalldienst und jeder niedergelassene Arzt können einen

Notfallseelsorger (3) anfordern. Den- noch ergibt sich eine Reihe von Problemen, die noch nicht flächen- deckend gelöst sind.

Während die von den etablierten Hilfsorganisationen eingerichteten Kriseninterventionsteams auf die funktechnischen Einrichtungen des Rettungs- und Sanitätsdienstes zu- rückgreifen können (1, 2), sind Not- fallseelsorger der Kirchen auf regional völlig unter- schiedliche Alarmierungs- wege angewiesen. Dies kann dazu führen, daß sich Telefonnummern je nach diensthabendem Pfarrer ändern (müssen). Eine Einrichtung für den Notfall wird aber nur angenom- men und kann dauerhaft nur funktionieren, wenn sich die Alarmierungswege institutionalisieren. Hier- für fehlen in der prekären finanziellen Lage der Sozi- alversicherung augenblick- lich die notwendigen Gel- der.

Ähnliches gilt für die optische Kennzeichnung von Notfallseelsorgern (besonders wichtig im Rahmen von Großeinsät- zen). Inzwischen hat sich vielerorts eine gelbe Ein- satzjacke durchgesetzt, die in Stil, Form und Material den Rettungsdienstjacken ähnlich ist.

Im Gegensatz zu den Teams des Rettungsdien- stes steht dem Notfallseel- sorger relativ unbegrenzt Zeit zur Verfügung. Er kann damit ohne Zeit- druck auf die Bedürfnisse der Hilfesu- chenden eingehen und diese über eine längere Strecke begleiten. Hierbei ist er auch größtenteils von hierarchi- schen Strukturen unabhängig. Der Notfallseelsorger ist nur seinem eige- nen Gewissen verantwortlich, woge- gen beispielsweise Polizeipsycholo- gen auch die polizeilichen Interessen im Auge behalten und vertreten müs- sen.

Einrichtungen der Notfallseel- sorge sind noch nicht flächendeckend vorhanden, ihr Bekanntheitsgrad ist Notfallseelsorger haben die Kompetenz und die Zeit, Angehörige in Notsituationen

psychologisch zu betreuen. Foto: Wolfgang Heubeck

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noch viel zu gering. Dabei leisten sie aber vor Ort wichtige Arbeit, die bis- her nicht oder nur unzureichend abge- deckt werden konnte. Dies muß sich künftig noch viel mehr in das Bewußt- sein aller in der Notfallversorgung der Bevölkerung Tätigen, bis hin zu den politisch Verantwortlichen und den Kirchenleitungen, einprägen. Mögli- cherweise könnte der Notfallseelsor- ge auch ein Platz in den Rettungs- dienstgesetzen der Länder einge- räumt werden (zum Beispiel Alarmie- rungsmöglichkeiten über Rettungs- leitstellen).

Der Einsatz von Notfallseelsor- gern muß zeitnah (2) und rund um die Uhr gewährleistet sein. Hierfür ist ein besserer Informationsfluß zwischen den an der Notfallrettung beteiligten Institutionen notwendig. Dies beginnt in erster Linie bei bundes- oder zumin- dest landesweit zu vereinheitlichen- den Alarmierungswegen. Um nicht nur den Fortbestand bereits gut funk- tionierender Systeme der Notfallseel- sorge zu sichern, sondern eine flächen- deckende Verfügbarkeit anzustreben, müssen neue Finanzierungswege ge- funden werden. Der Einsatz als Not- fallseelsorger, insbesondere in Bal- lungsräumen, wird dauerhaft neben der Vollzeittätigkeit als Gemeinde- seelsorger nicht sinnvoll möglich sein.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärztebl 1998; 95: A-874–876 [Heft 15]

Literatur

1. Daschner KH: Fallbeispiel „Kriseninterven- tion im RD“. Rettungsdienst 1997; 20:

17–21.

2. Grabe V: Rettungsdienst-Nachsorge. Leben retten 1996; 22: 158–160.

3. Hünnighausen B: Notfallseelsorge – Einsatz für den „Mann des Himmels“. marburger bund – Ärztliche Nachrichten 1997; 50, 4: 12.

4. Meier K: Supervision im Rettungsdienst:

Wer hilft den Helfern? Rettungsdienst 1997;

20: 64.

5. Müller-Cyran A: Rettungsdienst – mehr als nur Vitalfunktionsmechanik. Rettungs- dienst 1997; 20: 16–17.

6. Warzecha M: Notfallseelsorge – Symposium in Gütersloh. Die Johanniter 1996; 5: 13.

Anschrift des Verfassers Dr. med. Heinz Giering Nürnberger Notärzte e.V.

1. Oberarzt der Anästhesieabteilung am Krankenhaus Rummelsberg Postfach 11 60

90592 Schwarzenbruck

as Dilemma des Sozialstaates ist heute, daß einerseits die Staatsverschuldung abgebaut und die Verwaltung verschlankt wer- den soll. Andererseits ist aber die Me- dizin- und Pharmaforschung durch industriepolitische und finanzwirt- schaftliche Maßnahmen zu fördern, die Wirtschaftskraft und Wettbe- werbsfähigkeit der Unternehmen zu stützen, die Wohlfahrt und Wohlbe- findlichkeit der Bürger zu steigern.

Da der Staat jedoch bei den sozialen Sicherungssystemen traditionellen Modellen folgt, löst er das Dilemma nicht. Er gerät vielmehr unter den Druck der Folgen seiner Fehlsteue- rungen wie der Wirkungen der Markt- kräfte.

Der Staat, interpretiert als Sozial- staat, betreibt seit 20 Jahren die Ra- tionalisierung des Gesundheitswesens mit der Normierungskraft seiner Ge- setze, mit der Regulierungsmacht sei- ner Sozial- und Gesundheitsverwal- tung – einschließlich seiner parastaat- lichen Exekutivorgane in Gestalt der Körperschaften der Kassenärzte und Krankenkassen. Unter dem Diktat der Maastricht-Kriterien ist der Staat gehalten, hier die Staatsverschuldung abzubauen und dort Qualitätsverbes- serungen zur Wohlfahrtssteigerung zu fördern. Finanzwirtschaftlich ist seine Lösung gegenwärtig, den Konsum über die Mehrwertsteuer abzuschöp- fen und die einkommensstärkeren

Mittelschichten zu belasten, vorne- weg die freien Berufe. Steuerlich ent- lastet werden dagegen die einkom- mensschwächeren Sozialschichten – zur Erhaltung des sozialen Friedens, und die Unternehmen – zur Stärkung ihrer europäischen und globalen Wettbewerbsfähigkeit.

Gleichwohl wird er dem Dilem- ma seiner Wirtschafts- und Technik- abhängigkeit nicht entkommen, das ihn in die Leistungskontrolle und Ausgabenminderung der immer teu- reren Gesundheitsgüter hineintreibt und ihn zur Qualitätssteigerung der immer besseren Gesundheitsangebo- te antreibt. Die Folge ist faktisch eine zunehmende Rationierung der Lei- stungen auf legislativem, administrati- vem und nicht zuletzt massenmedia- lem Weg. Sie soll das Wachstum des Sozialbudgets bremsen und es doch offenhalten für den Finanzbedarf des medizinischen Fortschritts.

Zwang zur

Rationalisierung und Rationierung

Die Körperschaften des Gesund- heitswesens versuchen das Dilemma zwischen der Verknappung der Fi- nanzmittel und der Ausweitung des Leistungsangebots durch Qualitätssi- cherung und -management zu lösen.

Durch gesetzliche Vorschriften und

Gegen Staats- und Körperschaftszwang

Ärzte und Patienten als Kunden

des Gesundheitswesens

Das Gesundheitssystem steckt im Dilemma zwischen Verknappung der Finanzen und Ausweitung des Leistungsangebots. Die Zukunft gehört der berufs- und betriebsrechtlichen Freiheit zu neuen Organisations- und Leistungsformen.

Horst Baier

D

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Verwaltungsauflagen beschränkt der Staat jedoch hier die Einnahmen der Krankenkassen und begrenzt dort ih- re Leistungsaufgaben. Bei den Ver- tragsärzten löst er Kontrollsanktio- nen und damit Bürokratisierungs- schübe aus. Sie führen nicht zur ge- forderten ständigen Qualitätsverbes- serung, sondern führten zunächst zum Preisverfall medizinischer Lei- stungen und führen heute zu Qua- litätsverringerungen (zumindest in der Gesetzlichen Krankenversiche- rung). So kippt die Rationa-

lisierung in die Rationie- rung – als Folge des Staats- versagens und der „Körper- schaftsstarre“ inmitten des medizin-wissenschaftlichen und medizin-technischen Fortschritts.

Die Körperschaften des Gesundheitswesens ha- ben – auf der einen Seite – unter dem Rationalisie- rungszwang das Wirtschaft- lichkeitsgebot gezwunge- nermaßen zur obersten Ma- xime gemacht. Die gesetzli- chen Krankenkassen be- nutzen als parastaatliche Behörden ihre Organisati- onsgewalt gegenüber ihren Partnern im ambulanten und stationären Leistungs- sektor, um die Leistungen

zu rationalisieren und die Ausgaben zu rationieren – zumal ihre Einnah- men unter dem Druck der Wirt- schaftsverbände und durch die staat- liche Gesetzgebung selbst gedrosselt werden. Und doch geraten sie, genau wie der Staat, in das Dilemma zwi- schen Verknappung der Finanzmittel und medizinisch-technischem Fort- schritt in Diagnostik und Therapie, in Prävention und Rehabilitation und damit auch neuen Leistungsangebo- ten. Die Kassen versuchen, diesen Widerspruch durch die Verbindung von Rationierung der Ausgaben und Qualitätsverbesserung der Leistun- gen im Zuge von Qualitätssiche- rungsprogrammen zu lösen. Die Fra- ge bleibt aber, ob sie hierfür die geeig- nete Organisationsform und das nöti- ge flexible Management haben. Was heute als Marketing bei den Kran- kenkassen bezeichnet wird, ist erst der Anfang einer neuen Beweglich-

keit durch Wettbewerb mit einem nutzen-kosten-optimierten, qualitäts- vollen Leistungsangebot für die Ver- sicherten.

Bei den Körperschaften der Ver- tragsärzte hat sich – auf der anderen Seite – die ursprünglich die Selbstver- waltung stärkende Gesamtvergütung der Versorgung zu einem politischen Steuerungsinstrument verwandelt.

Die Honorarverteilung steht vieler- orts unter dem Diktat einer Ideologie der Vorrangigkeit der Primärversor-

gung mitsamt der Verdrängung der freiberuflichen Fachärzte. Die näch- ste Stufe des gesundheitsideologi- schen Dirigismus ist gegenwärtig die Umdrehung des Honorarverteilungs- maßstabes in ein finanzielles Ratio- nierungsinstrument, das die Preise medizinischer Leistungen verfallen und ihre Qualität sinken läßt. Gleich, ob die globalen oder arztgruppenbe- zogenen Budgetierungen zu arztindi- viduellen oder zu patientenbezoge- nen Pauschalierungen zusammen- schrumpfen – ein solches Buchhalter- ideal, das heute die Kassenärztlichen Vereinigungen weitgehend be- herrscht, bringt jedenfalls keine bes- sere „Fortschritts“medizin. Ergebnis ist statt dessen eine entgeltbilligere, mengensortierte, aber verwaltungs- teurere „Bedarfs“medizin. Der Kor- poratismus im Gesundheitswesen führt immer tiefer in eine sozialisti- sche Zentralverwaltungs- und Be-

darfsdeckungswirtschaft – paradox in- mitten eines liberalisierten Binnen- markts der Europäischen Union.

Bedarfsberechnete Inanspruchnehmer

Bisher war vom Staat und von den Körperschaften der Krankenkas- sen und der Kassenärzte die Rede, nicht jedoch von den Nachfragern und Anbietern von medizinischen Lei- stungen. Wir haben uns an- gewöhnt, von Systemen der sozialen Sicherung zu spre- chen mit ihren Zwangsklien- telen der Sozialversicherten sowie mit ihren verbands- und kammerorganisierten Leistungsanbietern, hier den zwangskorporierten Kassenärzten. Dabei über- sehen wir allzuleicht, daß diese Sozialleistungsorgani- sation des Verbände- und Körperschaftsstaates im Kern und in der Wirkung marktfeindlich ist. Nicht der Kassenversicherte als „Kun- de“, als freier Konsument mit individuellen Nachfra- gebedürfnissen, ist der Ori- entierungspunkt, sondern der bedarfsberechnete Inan- spruchnehmer des Sozial- budgets. Nicht der Kassenarzt als

„Kunde“ seiner genossenschaftlichen Dienstleistungsorganisation Kassen- ärztliche Vereinigung ist der Aus- gangspunkt, sondern der budgetori- entierte Verteilungsagent der KV-Ho- norarmasse.

Widerspruch zwischen Rationierung

und Qualitätssteigerung

Die Versichertenklientele sind der Motor, der den Sozialstaat und seine Verbände in den Widerspruch zwischen Rationierung aus Finanz- knappheit und Qualitätssteigerung durch Fortschritts- und Erwartungs- spiralen treibt. Der Wertewandel hat die Bürger ergriffen und neue Erwar- tungen und Bedürfnisse geschaffen.

Der vielbesprochene Hedonismus der wert- und sozialgewandelten Gesell-

Karikatur: Dirk Meissner, Köln

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schaft ist selbst widersprüchlich:

genußfreudige Selbstverwirklichung hier und risikoängstliche Sozialsicher- heit dort. Der Sozialversicherte ist längst mit seinen individuellen Erwar- tungen und Bedürfnissen auf den Markt der Gesundheitsgüter hinaus- getreten. Real bleibt er aber noch un- ter der Kuratel der Körperschaften.

Neue Chance für den freien Arztberuf

Ist also auf der Seite des Kassen- patienten eine Entwicklung von der Sozialisierung der Krankheit zur Re- privatisierung der Gesundheit im Zei- chen neuer Individualität und Plura- lität der Lebensführung zu verzeich- nen, so finden wir auf der Seite des Kassenarztes eine Reprofessionalisie- rung. Seine genossenschaftliche Kol- lektivierung durch den Leipziger Ver- band, später durch die öffentlich- rechtlichen Kassenärztlichen Vereini- gungen, war notwendig: erstens we- gen der Verbandsparität gegenüber den mächtigen Krankenkassen, zwei- tens zwecks Sicherstellung des Ver- sorgungsauftrages, drittens zur Finan- zierung des medizinischen und techni- schen Fortschritts. Die Folgen sind heute hinderlich. Kollektivverträge verführen zur Kostendämpfung und führen nicht zur Nutzenoptimierung im Sinne einer Qualitätsverbesserung.

Der Sicherstellungsauftrag ist auf die Herstellung gleicher Lebensverhält- nisse mittels ausreichender und zweckmäßiger Versorgung gerichtet, weshalb dieser den individualisierten Lebenslagen und pluralisierten Le- bensstilen mitsamt der je persönli- chen Risikoprofile und -bewältigun- gen nicht mehr gerecht wird.

Individualisierung und Pluralisierung

der Kundenwünsche

Aus den Kassenhaushalten läßt sich der medizinische Fortschritt nicht mehr bezahlen. Zahlreiche neue Me- thoden und Verfahren würden das Budget der Kassen sprengen und die Honorarbudgets der KVen aus- höhlen, zumal unter dem Spardiktat des Staates. Der Weg jedoch der Indu-

strialisierung, nämlich immer mehr und billigere Massengüter zu erzeu- gen und zu vertreiben, ist einem Dienstleistungs- und Kommunikati- onsberuf wie dem ärztlichen ver- sperrt. Verstärkt wird dies durch die Individualisierung und Pluralisierung der Kundenwünsche.

Einem solchen Trend in der Kon- sumentennachfrage, auch nach Ge- sundheitsleistungen, kommt die Insti- tution des freien Berufes ideal entge- gen. Ihr stabiler Kern, vorneweg bei den Ärzten, ist die von Personen er- brachte und auf Personen bezogene Dienstleistung; die Dynamik ständi-

ger und nachhaltiger Qualitätsverbes- serung läuft über die Faktoren Wis- sen, Leistung, Mitteilung und Qua- litätsstandard. Alle vier Faktoren er- fordern die weiterlaufende fachliche Spezialisierung, die technische und organisatorische Rationalisierung, Kommunikation und Kooperation mit seinen „Kunden“ und Kollegen, schließlich eine standardisierte Qua- litätsauswertung. Es ist deshalb wider- sinnig, gerade die Ärztinnen und Ärz- te, ob in freier Praxis oder in der Kli- nik, unter ein Spardiktat mit Lei- stungsrationierung und Preisverfall zu setzen, davon die Primärversorgung profitieren und dafür die Allgemein- medizin expandieren zu lassen. Dies ist nur aus einer Perspektive möglich, die Medizin versteht als Bedarfs-

deckung national festgeschriebener Bedürfnisse, als eine Art Buchhaltung der Volksgesundheit – und nicht als dynamischen Markt mit Angebot und Nachfrage von Leistungen gemäß dem medizinisch-technischen Fort- schritt.

Die Zukunft der Ärzteschaft liegt nicht in der Abwehr von neuen Orga- nisations-, Kooperations- und Kom- munikationsformen, womöglich mit Beharren auf die überkommene Ein- Mann-Praxis. Die Zukunft gehört der berufs- und betriebsrechtlichen Frei- heit zu neuen Organisations- und Lei- stungsformen, etwa in fachübergrei- fender Gemeinschaftspraxis oder Vernetzung mit der stationären Ver- sorgung. Das Partnerschaftsgesell- schaftsgesetz hat den freien Berufen hier eine neue Beweglichkeit gege- ben. Aber vergessen wir nicht den er- sten Qualitätsfaktor eines freiberufli- chen Arztes: nämlich Aus-, Weiter- und Fortbildung, Wissens- und Erfah- rungskompetenz für eine persönlich nachgefragte und persönlich erbrach- te Dienstleistung.

Chancen durch die Nachfrage nach erstklassiger Medizin

Die Zeit der gesetzlichen Zwangsversicherung für alle Erkran- kungsrisiken ist vorbei. Angesagt ist die Privatisierung der Krankenversi- cherung – bei steuer- oder umlagefi- nanziertem, nachhaltigem Sozial- schutz im subsidiären Notfall. Hierin liegt die Chance für freiberufliche Ärzte und freie Ärzteverbände – auf einem zukünftigen Gesundheits- markt, der durch die Nachfrage ihrer

„Kunden“ nach erstklassiger Medizin bestimmt wird.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärztebl 1998; 95: A-876–878 [Heft 15]

Anschrift des Verfassers Prof. Dr. med. Horst Baier Universität Konstanz

Sozialwissenschaftliche Fakultät Lehrstuhl für Soziologie

Postfach 55 60 78457 Konstanz

Zum Autor

Prof. Dr. med. Horst Baier, der Autor dieses Beitrags, war von 1975 an bis zu seiner Emeritie- rung am 31. März 1998 Inhaber eines Lehrstuhls für Soziologie an der Universität Konstanz (siehe auch Varia/Personalien in diesem Heft). Baier ist ein Verfechter marktwirtschaftlicher Lösungen für die Probleme im Gesundheits- wesen. Ausführlicher sind seine Thesen nachzulesen in seinem jüngst veröffentlichten Buch

„Gesundheit als Lebensqualität.

Folgen für Staat, Markt und Me- dizin“ (Texte und Thesen 270), Zürich, Osnabrück: Fromm Ver- lag, 1997. Rie

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