Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 102⏐⏐Heft 24⏐⏐17. Juni 2005 AA1701
S E I T E E I N S
K
ommissar Zufall war es wohl zu verdanken, dass die betrügeri- schen Machenschaften einer 53- jährigen Allgemeinärztin aus dem Saarland aktenkundig wurden. Mit falschen Abrechnungen und Schein- rezepten hatte die Ärztin in mehr als 2 700 Fällen rund 750 000 Euro er- gaunert. Inzwischen ist die Allge- meinmedizinerin rechtskräftig ver- urteilt – zu einer Haftstrafe von drei- einhalb Jahren.Dieser Fall hat insofern überregio- nale Bedeutung, als er eine neue Di- mension von Abrechnungsmanipu- lationen im Gesundheitswesen auf- deckt: gemeinschaftlicher Betrug von Ärzten, Angehörigen anderer Heil- berufe und Patienten. Die kriminelle Masche ist einfach gestrickt: Patien- ten sammelten Krankenversicherten- karten ein, die Ärztin rechnete Lei- stungen ab, die nie erbracht wurden,
und stellte Rezepte aus, die von den
„Kartensammlern“ in eingeweihten Apotheken gegen Geld oder gut ver- käufliche Waren eingelöst wurden.
Nach Erkenntnissen der Staats- anwaltschaft im Saarland handelt es sich nicht um einen Einzelfall. Mitt- lerweile sind die Ermittlungen auf annähernd 1 000 Personen (über- wiegend so genannte Kartenbrin- ger) ausgeweitet. Auch andere Bun- desländer scheinen betroffen.
Diese Art von Betrug hat eine an- dere Qualität als die wiederholt be- klagten Abrechnungsmanipulationen einzelner Ärzte. Dies hat oft genug zu einem ungerechtfertigten General- verdacht gegen den ganzen Berufs- stand geführt. Hier geht es offenbar um organisierte Kriminalität, bei der die üblichen Prüfmechanismen der Kassenärztlichen Vereinigungen ver- sagen müssen. Die KVen prüfen le-
diglich die Arztabrechnungen; sie haben keine Verordnungsdaten oder versichertenbezogenen Unterlagen zur Verfügung. „Kommissar Zufall“
war im saarländischen Fall nach In- formationen der Stuttgarter Zeitung ein Drogenabhängiger, gegen den in einem anderen Zusammenhang er- mittelt worden war.
Sollte sich die befürchtete „bun- desweite Dimension“ der Betrüge- reien bewahrheiten, ist guter Rat teuer. Ein Lösungsansatz könnte in der Telematik liegen und in einer verbesserten Zusammenarbeit von KVen und Krankenkassen bei den Prüfverfahren.
Nicht minder hilfreich (im Sinne der Abschreckung) sind unterdessen drakonische Strafen – wie jetzt im Fall der saarländischen Allgemein- ärztin, die für dreieinhalb Jahre ins Gefängnis muss. Josef Maus
Abrechnungsbetrug
Neue Dimension
Niedergelassene Ärzte
Regionale Integration S
owohl der NAV-Virchow-Bundals auch der Hartmannbund tun sich schwer mit so genannten Haus- arztmodellen und flächendecken- den Integrationsverträgen. Befürch- tet wird eine „Vielvertraglerei“, die den ohnedies durch den Bürokratie- und Verwaltungsaufwand stark stra- pazierten Vertragsarzt überfordere.
Der NAV-Virchow-Bund mut- maßt, dass auf eine Durchschnitts- Vertragsarztpraxis bis zu 150 unter- schiedliche Vertragskonstellationen und Versichertenbesonderheiten zu- kämen. Nach Ansicht des Bundes- vorsitzenden des NAV, Dr. med. Ma- ximilian Zollner, sind sektorenüber- greifende Integrationsverträge und hausarztbasierte bundesweite Versor- gungsmodelle nicht immer geeignet.
Dies gelte vor allem dann, wenn nie-
dergelassene Ärzte durch die An- schubfinanzierung benachteiligt und ausgeschlossen werden, die Gesamt- vergütung abgeknappst und die Ver- tragsarztpraxis gegenüber dem domi- nierenden Krankenhaus bei den In- vestitionskosten benachteiligt werden.
Ähnlich urteilt die stellvertreten- de Bundesvorsitzende des Hart- mannbundes, Angelika Haus: Die Vertragsärzte sollten sich nicht vor- schnell der hausarztzentrierten und Integrierten Versorgung – mit oder ohne KV-Beteiligung – unterwerfen.
In der Tat: Eine exakte Risikoab- schätzung sollte vor jedem Ver- tragsabschluss stehen. Sollen gegen die Verlockung eines kleinen Obolus die freie Arztwahl und die berufli- che Autonomie aufs Spiel gesetzt werden? Die beiden Vertragsinno-
vationen kommen in Verruf, weil die Krankenkassen den Vertragswettbe- werb instrumentalisieren. Ihnen geht es vor allem um neue Mitglieder und einen größeren Marktanteil.
Immerhin gibt es knapp einein- halb Jahre nach In-Kraft-Treten des GKV-Modernisierungsgesetzes rund 500 Verträge nach § 140 a ff.
SGB V. Das Vertragsgeschäft ist lo- gistisch kaum mehr beherrschbar.
Der NAV-Virchow-Bund als Vor- kämpfer von Gemeinschafts- und Gruppenpraxen und von Ärztenetz- werken plädiert dafür, Integrations- verträge regional zu begrenzen – et- wa nach dem Vorbild des 1998 auf Initiative von 170 Ärztinnen und Ärzten aller Fachrichtungen in Nürnberg-Nord gegründeten Pra- xisnetzes. Dr. rer. pol. Harald Clade