DEUTSCHES
ÄRZTEBLATTSozialdemokraten
Harte Kritik an
Blüms „Gesundheitsreform"
Die Sozialdemokraten blasen jetzt zum Generalangriff auf Blüms
„Gesundheitsreform" . Das Geset- zeswerk sei nicht nur sozial unge- recht, sondern zudem noch kosten- treibend, warf die SPD der Bundes- regierung bei einem „Werkstattge- spräch" zur Gesundheitsreform in Bonn vor. Obwohl die Versicherten mehr mit Gesundheitskosten bela- stet würden, sei mit einer Senkung der Krankenkassenbeiträge nicht zu rechnen. „Noch nie in der bundes- deutschen Geschichte" , so der SPD- Sozialexperte Rudolf Dreßler, „hat ein Sozialminister den Patienten mit solcher Kaltschnäuzigkeit das Geld aus der Tasche gezogen" .
„Gesundheitsreform — wer zahlt die Zeche?" — so das Motto der SPD-Anhörung. Die Antwort füh- render Sozialdemokraten auf die wohl eher rhetorisch gemeinte Frage war eindeutig: Die Patienten, Ärzte, Zahnärzte und Pharmaindustrie würden weitgehend geschont, die Kranken hingegen zur Kasse gebe- ten. Und damit nicht genug: Der Gesundheits-Reform-Gesetzentwurf (GRG) trage „nicht nur das Kains- mal der sozialen Ungerechtigkeit" , sondern er werde „alles noch teurer machen" , erklärte Dreßler vor etwa.
500 Sozialdemokraten im überfüll- ten Saal der SPD-Bundestagsfrak- tion. Sein Versprechen, die Beiträge zu senken, könne der Bundesar- beitsminister nicht erfüllen, obwohl er den Patienten mit höherer Selbst- beteiligung belaste. Im Gegenteil:
Mit den neuen Pflegeleistungen lege er einen „Sprengsatz" in die Finan- zen der Krankenkassen. Nach Auf- fassung der Sozialdemokraten ist die Absicherung des Pflegerisikos grundsätzlich nicht die Aufgabe der Krankenversicherung, sondern des Staates. Hilfen für Pflegebedürftige müßten vom Steuer-, nicht vom Bei- tragszahler finanziert werden.
Harte Kritik an der „Gesund- heitsreform" kam auch von Ge-
werkschaftsseite. Ulrike Peretzki- Leid, Mitglied der Bundesvorstan- des der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr, warf der Bundesregierung vor, mit der Gesundheitsreform „einen ent- scheidenden Schritt auf ihrem Weg in eine entsolidarisierte Gesell- schaft" zu tun. Mit dem GRG schaf- fe der Bundesarbeitsminister zwei Gruppen von Krankenkassenmit- gliedern, nämlich: „Die Gesunden, denen Beiträge zurückerstattet wer- den, und die Kranken, die mit er- höhter Selbstbeteiligung bestraft werden. "
Front gegen die Pharmaindustrie
Sowohl die Gewerkschafterin als auch die SPD-Sozialpolitiker lie- ßen kein gutes Haar an Blüms Ge- sundheitsreform. Sogar die Festbe- tragsregelung für Arzneimittel, vor noch gar nicht langer Zeit von So- zialdemokraten durchaus mit Sym- pathie betrachtet, wurde als „zum Scheitern verurteilt" verdammt. Die Festbeträge seien ein „zentraler He- bel` um die Versicherten mehr als bislang an den Arzneimittelkosten zu beteiligen, meinte der nordrhein- westfälische Sozialminister Her- mann Heinemann. Der Pharmain- dustrie werde es sicher gelingen, mit geringfügig variierten Präparaten das Festbetragssystem zu umgehen.
Leidtragende seien wiederum die Patienten. Sie müßten ab 1991 für zahlreiche Medikamente die prozen- tuale Selbstbeteiligung aufbringen.
Minister Heinemann und der SPD-Bundestagsabgeordnete Horst Peter wiederholten die alte SPD- Forderung, die Pharmaindustrie zu Preisverhandlungen mit den Kran- kenkassen zu zwingen. Ein neu zu gründendes Arzneimittelinstitut müsse außerdem eine Arzneimittel- Positivliste erarbeiten. „Nur so kön-
nen wir endlich davon wegkommen, daß wir in der Bundesrepublik mit 150 000 unterschiedlichen Arznei- mitteln einen traurigen und zugleich unglaublich teuren Weltrekord hal- ten` sagte Heinemann. 3000 bis 5000 verschiedene Medikamente ge- nügen nach Auffassung des Mini- sters — damit könnten die Kranken- kassen immerhin jährlich eine Mil- liarde Mark einsparen.
Erinnerung an alte SPD-Forderungen
Nicht nur im Arzneimittelsek- tor, sondern in allen Leistungsberei- chen habe der Bundesarbeitsmini- ster tiefgreifende Strukturprobleme mit dem GRG-Entwurf überhaupt nicht berührt. Das wesentliche Man- ko im bundesdeutschen Gesund- heitswesen liege darin, daß der Be- darf an Gesundheitsleistungen über- haupt nicht ermittelt, geschweige denn geplant werde. In ihrem neuen sozialpolitischen Programm „Die Zukunft sozial gestalten" zeigen die Sozialdemokraten Lösungswege aus ihrer Sicht auf. So sollten Kranken- kassen, Gebietskörperschaften und.
Kassenärzte die Menge der benötig- ten Gesundheitsleistungen in regio- nalen Gesundheitskonferenzen er- mitteln und entsprechend begren- zen. Die Zahl der Arztpraxen könne beispielsweise nicht ins Uferlose an- wachsen. Damit könnten — so die SPD-Argumentation — nicht nur Überkapazitäten abgebaut und so Kosten eingespart werden. Auch die Unterversorgung, etwa in der Psych- iatrie oder in der Prävention, könn- ten die Gesundheitsplaner so ent- decken und gezielt beseitigen.
Ferner verlangt die SPD eine grundlegende Reform der Kranken- kassenorganisation. Besonders dringlich sind nach SPD-Meinung:
• die Einführung des Kassen- wahlrechts auch für Arbeiter;
• eine gesetzliche Vorschrift für alle Kassenarten, einen inter- nen bundesweiten Finanzausgleich durchzuführen;
• die Schaffung einer Versiche- rungspflicht für alle Arbeitnehmer, um so die Finanzen der Krankenkas-
sen zu stärken. BN
Dt. Ärztebl. 85, Heft 36, 8. September 1988 (31) A-2419