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ie große Koalition macht es kleinen Oppositionsparteien schwer. Nicht nur, dass sie der Regierungsmehr- heit im Bundestag hoffnungslos unterle- gen sind. Neuerdings übernehmen die Koalitionäre sogar das Opponieren.Denn zwei Wochen nach der offiziellen Vorstellung des Gesundheitskompro- misses von Union und SPD dominierten vor allem Berichte über Kritiker aus dem Regierungslager. Dennoch dürften FDP, Linkspartei und Grüne sich ein wenig freuen – schwindet doch die Akzeptanz der großen Koalition in der Bevölkerung deswegen auch ohne ihr Zutun.
Knapp 80 Prozent der Deutschen se- hen nach einer ARD-Umfrage in dem Reformkompromiss allenfalls Stück- werk und können keine wirkliche Ver- besserung erkennen. Dass immer mehr Politiker aus dem Regierungslager diese Einschätzung teilen, dürfte das Wahlvolk in seiner Meinung bestärken. So waren es die linken und rechten Flügel beider Volksparteien sowie viele junge Bundes- tagsabgeordnete, die als Erstes gegen den Kompromiss aufbegehrten. Doch schnell machten auch die Koalitionsspitzen mit persönlicher Kritik und gegenseitigen Schuldzuweisungen Schlagzeilen.
Ohne Leistungskürzungen bleibt Reform Flickschusterei
Die Vorwürfe innerhalb und außerhalb der großen Koalition richten sich gegen alle drei Hauptebenen der Blaupause:
gegen die geplante Erhöhung der Kran- kenkassenbeitragssätze um 0,5 Prozent- punkte im kommenden Jahr, gegen die vorgesehene Finanzreform und gegen die angestrebten strukturellen Neuerun- gen. Dass Versicherte künftig deutlich mehr für ihre Krankenkassenbeiträge ausgeben müssen, sorgt insbesondere bei CDU und CSU für Unmut. Die Union
habe private Haushaltsunfälle aus dem Leistungskatalog ausgliedern wollen,
„dann wäre eine Beitragserhöhung nicht nötig gewesen“, kritisierte Thürin- gens Ministerpräsident Dieter Althaus (CDU). Rückendeckung erhält er dabei von Prof. Dr. med. Fritz Beske, dessen Forschungsinstitut sich seit Jahren mit dem bundesdeutschen Gesundheitssy- stem, seinen Entwicklungen und seinen Fehlsteuerungen befasst. „Ich vermisse unverändert den Realitätsbezug der Poli- tik“, erklärte er in einem Interview mit den „Aachener Nachrichten“ zu den Eckpunkten. „Solange die Politik nicht anerkennt, dass gekürzt werden muss, wird es Flickschusterei bleiben.“
Die Unfähigkeit der Koalition, grund- legende Strukturänderungen zu be- schließen, werde den Druck auf Ärzte und Patienten in unzumutbarem Maß er- höhen, warnte Dr. med. Kuno Winn, der Vorsitzende des Harmannbunds. Ähn- lich wertete Prof. Dr. med. Jörg-Dietrich Hoppe die Eckpunkte: Sie blieben die
Antwort darauf schuldig, wie Ärzte und Patienten mit schon bestehender Unter- finanzierung und Rationierung umgehen sollten. Der Präsident der Bundesärzte- kammer monierte, eine Blaupause für ei- ne nachhaltige Finanzreform der Gesetz- lichen Krankenversicherung (GKV) sei- en sie nicht. Hinterfragen muss man sei- ner Meinung nach zudem die angekün- digte neue Gebührenordnung für ambu- lant tätige Ärzte: „Denn mit der Euro- Gebührenordnung wird dem Vertrags- arzt nicht nur eine Leistungsvergütung in festen Preisen in Aussicht gestellt, diese soll offensichtlich auch die Amtliche Ge- bührenordnung für Ärzte ersetzen.“
Selbst wenn Steigerungssätze innerhalb des privatärztlichen Gebührenrahmens vorerst noch möglich blieben, warnte Hoppe, so werde damit doch „die Axt an die Amtliche Gebührenordnung für Ärz- te und damit auch an die private Kran- kenversicherung gelegt“.
Die Kassenärztliche Bundesvereini- gung (KBV) hatte in einer ersten Stel- P O L I T I K
Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 28–29⏐⏐17. Juli 2006 AA1931
Gesundheitsreform
Kritik von vielen Seiten
Die geplante Gesundheitsreform wird zur Belastungsprobe für die große Koalition.
Die vorgelegten Eckpunkte stoßen überwiegend auf Ablehnung.
Ernste Mienen, freundliche Worte: „Ich glaube, dass die Gesundheitsreform Chancen hat“, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) über die Eckpunkte. SPD-Parteichef Kurt Beck sprach von einem maßgeblichen Schritt, CSU-Chef Edmund Stoiber vom Einstieg in eine große Reform.
Foto:ddp
lungnahme begrüßt, dass ein neues Ver- gütungssystem eingeführt wird, die Bud- gets abgeschafft werden sollen und das Morbiditätsrisiko zukünftig bei den Krankenkassen liegen soll. „Entschei- dend werden die Detailformulierungen sein“, hatte der KBV-Vorstand aller- dings eingeschränkt. Hier fürchtet der NAV-Virchow-Bund Fallstricke im Lauf des Gesetzgebungsverfahrens: „Das Be- streben von Teilen der großen Koalition, ambulant tätige Fachärzte abzuschaf- fen, ist noch nicht vom Tisch“, warnte der Bundesvorsitzende des NAV, Dr.
med. Maximilian Zollner.Auch das Ziel, eine schrittweise Gleichschaltung von privater und Gesetzlicher Krankenver- sicherung zu erreichen, sei erkennbar.
Zollner kritisierte zudem den geplanten Gesundheitsfonds, der „eine Riesen- bürokratie mit entsprechenden Folge- kosten befürchten lässt“.
Zweifel an der Sinnhaftigkeit eines sol- chen Fonds hegt man auch im Regie- rungslager. Vor allem für die SPD macht ein Gesundheitsfonds nur Sinn, wenn dessen Finanzierungsbasis erweitert wird.
Gescheitert sind die Sozialdemokraten mit ihrem Ansinnen, die private Kran- kenversicherung in den Fonds einzube- ziehen und auch andere Einkommensar- ten der GKV-Versicherten zur Finanzie- rung des Gesundheitswesens heranzuzie- hen. Der überraschende Rückzieher von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), wenigstens zusätzliche Steuermittel in den Fonds fließen zu lassen, sorgte auch bei den Parteispitzen für massiven Pro- test. So warf SPD-Fraktionschef Peter Struck der Bundeskanzlerin Wortbruch vor, weil sie auf Druck vor allem der uni- onsgeführten Länder von der Zusage ab- gerückt sei, das Gesundheitssystem stär- ker über Steuermittel zu finanzieren.
In vorderster Reihe wetterte jedoch der SPD-Parlamentarier und Gesund- heitsökonom Prof. Dr. med. Karl Lauter- bach gegen das Fondsmodell: Die Fi- nanzreform der GKV sei gescheitert.
„Der geplante Gesundheitsfonds ist al- lenfalls eine Scheininnovation“, sagte Lauterbach bei einer gesundheitspoliti- sche Fachtagung in Berlin. Ein Zusatz- nutzen sei nicht zu erkennen, weil mithil- fe des Fonds der Beitragseinzug für die Krankenkassen lediglich anders organi- siert werde. Lauterbach, der selbst an den Verhandlungen zwischen Union und
SPD teilgenommen hatte, sieht das zen- trale Ziel der Reform verfehlt: „Wir woll- ten die Krankenkassenbeiträge senken, nun steht fest, dass sie steigen werden.“
Auch die Opposition lässt an den Eckpunkten kein gutes Haar. „Der Ge- sundheitsfonds droht zu Hartz IV zu werden“, urteilte der gesundheitspoli- tische Sprecher der FDP-Fraktion, Da- niel Bahr. Für das Arbeitslosengeld II seien neue Verwaltungsstrukturen auf- gebaut worden, die zu deutlich höheren Kosten geführt hätten. Frank Spieth, gesundheitspolitischer Sprecher der Linkspartei, warf der SPD vor, sich end- gültig von ihren Wahlversprechen ver- abschiedet zu haben. Weder ein einheit- licher Versicherungstarif noch die Ein- beziehung aller Einkünfte zum Beispiel
aus Kapitalvermögen zur Finanzierung der GKV würden umgesetzt.
Die Debatte wird noch schärfer wer- den, wenn, wie im Bundesgesundheits- ministerium angekündigt, Ende Sep- tember/Anfang Oktober der Gesetz- entwurf vorliegen wird. Warum, das hat der Gesundheitssystem-Experte Beske so formuliert: „Vieles kann man sehr leicht als Eckpunkte formulieren, aber sehr schwer im Gesetzgebungsverfah- ren umsetzen. Und hier ist Ulla Schmidt in einem unendlichen Vorteil: Sie kann die Eckpunkte wie ein Gummiband dehnen und einen Gesetzentwurf vorle- gen, der sozialdemokratisch geprägt ist.“ Samir Rabbata, Sabine Rieser
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A1932 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 28–29⏐⏐17. Juli 2006
Wie üblich bei einer Gesundheitsre- form ist auch in diesen Eckpunkten dem Thema „Arzneimittelversorgung“
ein eigenes Kapitel gewidmet. Seit Jah- ren versuchen Politik und Selbstverwal- tung, die steigenden Arzneimittelaus- gaben in den Griff zu bekommen. Arz- neimittelvereinbarungen, Arzneimittel- richtlinien, Arzneimittelinformationen, Pharmakotherapiezirkel, Richtgrößen- prüfungen, Regresse – nichts scheint die Ausgabenzuwächse wirksam bremsen
zu können. Auch in den ersten fünf Mo- naten dieses Jahres haben die gesetzli- chen Krankenkassen 6,8 Prozent mehr für Arzneimittel ausgegeben als im sel- ben Zeitraum des Vorjahres. Allein im Mai lagen die Ausgaben bei rund zwei Milliarden Euro.
„Die Kosten für die Arzneimittelver- sorgung haben sich in den letzten Jah- ren und Jahrzehnten dynamischer als die Einnahmen der GKV und die Ko- sten anderer Leistungsbereiche ent- wickelt“, heißt es dazu in den Eckpunk- ten. Maßgeblich dafür sei unter ande- rem die zunehmende Zahl von Verord- nungen teurer Arzneimittel, deren the- rapeutischer Zusatznutzen nicht für alle
Arzneiverordnungen
Weitere
Einschränkungen
Quelle:GEK-Arzneimittelreport 2006