• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Gesundheitsreform in England: Kritik kommt von allen Seiten" (09.03.2012)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Gesundheitsreform in England: Kritik kommt von allen Seiten" (09.03.2012)"

Copied!
2
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

A 466 Deutsches Ärzteblatt

|

Jg. 109

|

Heft 10

|

9. März 2012

GESUNDHEITSREFORM IN ENGLAND

Kritik kommt von allen Seiten

Mehr Wettbewerb, weniger Zentralismus, mehr Gestaltungsmöglichkeiten für die Hausärzte: Der staatliche britische Gesundheitsdienst steht vor weitreichenden Reformen. Selten waren diese jedoch derart umstritten.

D

ie Debatten dauern seit mehr als einem Jahr an, die Kritik will nicht verstummen, und in Kürze stimmt das Oberhaus des britischen Parlaments, das House of Lords, endgültig über das umstrittene Ge- setz zur Reform des nationalen briti- schen Gesundheitsdienstes (Natio- nal Health Service, NHS) ab. Nun stoßen Reformen im Gesundheits- wesen nie auf ungeteilte Zustim- mung. Aber dieser Gesetzentwurf hat ungewöhnlich heftige Kontro- versen entfacht, die Kritiker auf al- len Seiten des medizinischen und politischen Spektrums elektrisiert und beinahe zum Bruch des konser- vativ-liberalen Regierungsbündnis- ses geführt, das seit Mai 2010 das Vereinigte Königreich regiert.

Dabei sieht der Gesetzentwurf keine Änderungen bei der Finanzie- rung des NHS vor. Diese soll nach wie vor aus Steuermitteln erfolgen.

Geplant ist jedoch, mehr Dynamik ins System zu bringen, indem künf- tig Gruppen von Hausärzten, so - genannte Clinical Commissioning Groups (CCGs), entscheiden, wo- für der größte Teil des NHS-Bud- gets ausgegeben wird. Die CCGs

bestimmen dann, wo welche Leis- tungen für die Patienten vorgehal- ten werden müssen, und sind damit auch für die Zuweisung der Finanz- mittel verantwortlich. Nach Ansicht des konservativen Gesundheitsmi- nisters Andrew Lansley wissen die Ärzte besser, welche Versorgung vor Ort gebraucht wird, als die Pri- mary Care Trusts, Treuhandfonds für die Primärversorgung, die dafür zurzeit verantwortlich sind. Lansley will frischen Wind in ein System bringen, das lange zentral gesteuert wurde, und er glaubt, dass die Hausärzte diejenigen sind, die den Wandel einleiten können.

Die Hausärzte sollen die Versorgung steuern

Lansleys Pläne sind weder neu noch besonders revolutionär. Seit den 1990er Jahren ist der NHS in England (anders als in Schottland, Wales oder Nordirland) aufgeteilt in „Einkäufer“ – diejenigen, die das Budget verwalten und Leistungen einkaufen – und „Leistungsanbie- ter“, zu denen auch Krankenhäuser und Hausärzte gehören. Ziel war es, eine Art Markt zu schaffen. Gleich-

wohl sind die Erfahrungen mit die- sem Modell enttäuschend. Zwar schneidet das englische NHS-Sys- tem im Vergleich zu den anderen im Vereinigten Königreich besser ab.

Doch die Unterschiede sind nicht besonders groß. Wenn aber jetzt die Hausärzte die Verantwortung für die Versorgungssteuerung übernäh- men, könne das dem System den Antrieb geben, der bislang gefehlt habe, sagt Minister Lansley.

Er will die Verantwortung für die Gesundheitsversorgung auf die lo- kale Ebene verlagern. Entsprechend schränkt der Gesetzentwurf die Ver- antwortlichkeiten des Gesundheits- ministers ein. Geplant ist, dass von April 2013 an die CCGs die Ver - antwortung für den Großteil der Krankenhausleistungen übernehmen.

Um Interessenkonflikte zu vermei- den, werden die Hausärzte jedoch keine eigenen Versorgungsverträge mit dem NHS verhandeln. Diese Aufgabe soll ein neues Gremium, das National Commissioning Board, übernehmen. Es wird darüber hinaus auch für die Sicherstellung der fach- ärztlichen Akutversorgung zustän- dig sein.

Hoch geschätzte nationale Institution:

Krankenschwestern, NHS-Mitarbeiter und Patienten protestieren in London gegen die Reformpläne von Gesundheitsminister Andrew Lansley.

P O L I T I K

(2)

Deutsches Ärzteblatt

|

Jg. 109

|

Heft 10

|

9. März 2012 A 467 Der Gesetzentwurf zielt außer-

dem darauf ab, die Angebotsseite zu liberalisieren. In der Vergangen- heit hatten die Treuhandfonds so gut wie keine Wahlmöglichkeiten unter den Leistungsanbietern. Lans- ley will jetzt die Zugangsbarrieren zur Patientenversorgung im NHS senken und „jedem qualifizierten Anbieter“ erlauben, sich um Versor- gungsverträge zu bewerben. Das könnte dazu führen, dass beispiels- weise gemeinnützige Organisatio- nen das psychiatrische Kranken- haus vor Ort unterbieten und damit künftig die Versorgung sicherstel- len oder dass ein privates Unterneh- men den Zuschlag für einen Vertrag zur Akutversorgung erhält.

Die Idee eines derart freien Markts beunruhigt die Mitarbeiter des NHS, denn es untergräbt ihr Monopol – was ja tatsächlich das Ziel des Gesetzentwurfs ist. Um den Wettbewerb zu regulieren und zu verhindern, dass ökonomische Erwägungen die Patientenversor- gung gefährden, stattet das Gesetz die Regulierungsbehörde Monitor mit erweiterten Befugnissen aus.

Lansleys Reformpläne zielen dar - auf ab, ein Gesundheitssystem zu schaffen, in dem die Patienten – durch ihre Hausärzte – größeren Ein- fluss gewinnen, das mehr Wahlmög- lichkeiten und den transparenteren Vergleich von Behandlungsergeb- nissen schafft sowie mehr Innovatio- nen ermöglicht, indem neue Akteure Zugang zum Gesundheitsmarkt er- halten. Aber: Der Gesetzentwurf ist komplex, umfangreich und stellen- weise schwer verständlich. Außer- dem ist es Lansley nicht gelungen, sein politisches Anliegen klar und nachdrücklich einer breiten Öffent- lichkeit zu vermitteln. Inzwischen hagelt es Kritik von allen Seiten.

Einiges an Kritik ist klar interes- sengesteuert. Niemand, der jahre- lang in einem System gearbeitet hat, begrüßt Veränderungen, die womöglich den eigenen Arbeits- platz gefährden. Öffnet man den NHS für den Wettbewerb, bedeutet das automatisch, dass es auch Ver- lierer geben wird. Im nationalen Gesundheitsdienst werden Löhne und Gehälter zentral vereinbart, darüber hinaus gibt es großzügige

Alters regelungen. Die Angst davor, dass private Unternehmen diese be- queme Situation zerstören, Arbeits- kräfte entlassen oder Löhne kürzen, während sie zugleich Profite ab- schöpfen, die sonst in die Versor- gung geflossen wären, bringt vor allem die Gewerkschaften auf. Man wirft Lansley vor, den NHS „priva- tisieren“ zu wollen – für manche reicht das als Argument, um die Pläne als Ganzes zu verdammen.

Das Gesundheitssystem ist kein perfekter Markt Allerdings geht der Widerstand ge- gen die Reformpläne über die bloße Vertretung von Eigeninteressen hin aus. Lansleys Vorschläge, die ei- genen Kompetenzen zu beschnei- den, hat Verfassungshüter auf den Plan gerufen. Nach deren Ansicht ist es Aufgabe des Ministers, ge- genüber dem Parlament die Verant- wortung dafür zu übernehmen, wie und wofür die 110 Milliarden Pfund ausgegeben werden, die jährlich in den NHS fließen. Nach der (unge- schriebenen) britischen Verfas- sung könne der Minister sich nicht per Gesetz aus der Ver- antwortung stehlen.

Weniger abgehoben, aber mit ähnlichem Nachdruck ar- gumentieren die Wettbewerbs- gegner. Das Gesundheitssys- tem sei kein perfekter Markt, denn zwischen Patienten und Leistungserbringern herrsche ein Informationsgefälle. Des- halb, sagen die Kritiker, habe Wettbewerb im NHS nichts zu suchen. Gebraucht werde statt- dessen Kooperation. Die Wett- bewerbsgegner warnen, das System verkomme zu einem Spielplatz der Anwälte, wo die Wettbewerber, die glaubten, zu kurz gekommen zu sein, jede Entscheidung der CCGs unter Be- rufung auf europäisches Wettbe- werbsrecht anfechten. Aufgrund der massiven Kritik sind einige Ände- rungen bereits abgemildert worden.

Beispielsweise soll die Regulie- rungsbehörde Monitor künftig nicht nur den Wettbewerb fördern, son- dern auch die Kooperation.

Inzwischen geht man davon aus, dass das House of Lords für einen

Zusatzartikel stimmen wird, der diesen Passus ganz aus dem Gesetz streicht. Das Oberhaus ist ein ei- genartiges Gremium, dem einige Lords angehören, die ihren Sitz ge- erbt haben, und viele, denen von wechselnden Regierungen ein Sitz auf Lebenszeit verliehen wurde.

Die lange Vormachtstellung der La- bour Party (1997 bis 2010) hat dazu geführt, dass 242 Anhängern der Labour Party 216 Konservative und 92 Liberale gegenüberstehen. Rein rechnerisch verfügt die Koalitions- regierung damit auch im Oberhaus über eine Mehrheit. Allerdings blei- ben bei dieser Betrachtung die Lords unberücksichtigt, die sich keiner Partei zugehörig fühlen – immerhin 184 –, oder Wankelmüti- ge aufseiten der Liberalen.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass viele von Lansleys Re- formen bereits unter der Labour- Regierung von Tony Blair ange - stoßen wurden. Schon damals er- hielten „alle qualifizierten Leis- tungserbringer“ Zugang zum NHS,

wurden den Krankenhäusern und den Patienten größere Handlungsspielräume eröffnet.

Inzwischen scheint Labour diese Vorstöße vergessen zu haben und betreibt Fundamen- talopposition gegen die Regie- rungspläne.

Sollte das House of Lords das Reformgesetz ablehnen oder bis zur Unkenntlichkeit verändern, dürfte es im Unter- haus rekonstruiert werden, denn das House of Commons hat ihm bereits zugestimmt.

Premierminister David Came- ron hat sich bislang loyal gezeigt gegenüber seinem Gesundheitsminister. Andere Konservative hingegen zeigen sich beunruhigt. Ihre Befürch- tung: Wird das Gesetz verabschie- det und die Kritik daran bewahrhei- tet sich, wird man es den Konserva- tiven anlasten, ein System zerstört zu haben, das trotz all seiner Män- gel als hoch geschätzte nationale Institution gilt. Es könnte kaum um

mehr gehen.

Nigel Hawkes

Übersetzung: Heike Korzilius Lansley in der Kritik:

Dem Gesundheits - minister ist es nicht gelungen, sein politi- sches Anliegen klar und nachdrücklich zu vermitteln.

Fotos: picture alliance

P O L I T I K

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Das Geset- zeswerk sei nicht nur sozial unge- recht, sondern zudem noch kosten- treibend, warf die SPD der Bundes- regierung bei einem „Werkstattge- spräch" zur Gesundheitsreform

Auch die Behandlung im Kran- kenhaus ohne ärztliche Überweisung oder Einweisung fällt noch für 65 Pro- zent der Erwachsenen unter freie Arztwahl („wichtig“: 58 Prozent)D. 66

„Als der Hartmannbund dann 1949 wiederge- gründet worden ist, ist seine Wiedergründung von vornherein eine bewußt politische Entschei- dung gewesen." Jungmann macht damit

Wenn auch die vom Bundesgesundheitsminister progno- stizierten Überschreitungen in Höhe von 4,8 Milliarden DM zu hoch ge- griffen scheinen, so dürfte eine Sum- me von 3,5 Milliarden

Wenn man fragt, warum jetzt- eine Pflegeversicherung notwendig ist, so liegt dies ne- ben der Zunahme der Pflege- fälle auch an der vermehrten Verlagerung der Pflege von

Die Bürger in Westdeutschland betrieben aber wesentlich mehr Selbstmedikati- on als die im Osten: „Die Patienten in den neuen Bundesländern sind offen- sichtlich weniger in der

■ Die Steuerung des Niederlas- sungsverhaltens über Vergütungs- anreize soll weiterentwickelt wer- den, z.B. soll die Abstaffelung aller Leistungen von Ärzten, die

Kommission, und nun scheint ihre Ende besiegelt zu sein, ohne daß sie bisher Brauchbares zu Tage ge- fördert hat. Der Finanzausschuß des Stadtrates hat soeben der Kom- mission