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Archiv "Kassenärzte zur Gesundheitsreform: „Wir halten die Optionen für die Patienten offen!“" (27.06.2003)

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P O L I T I K

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A1780 Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 2627. Juni 2003

DÄ: Herr Dr. Richter-Reichhelm, täuscht der Eindruck, dass die Gesund- heitsreform an den Anliegen der Ärzte- schaft vorbeiläuft?

Richter-Reichhelm:Ich stelle mal die Gegenfrage, ob es mehr die Anliegen der Ärzte sind oder die der Patienten?

Denn das, was im GMG-Entwurf steht, ist doch eine Politik, die eindeutig gegen die Interessen der Patienten geht. Ein Einzelvertragssystem für Fachärzte, das Aus für die Facharztpraxis um die Ecke, das richtet sich klar gegen die Interes- sen der Versicherten.

DÄ:Ist das den Patienten klar?

Richter-Reichhelm:Ich fürchte, nein.

Vielleicht haben wir noch nicht genug darüber aufgeklärt, was auf die Pa- tienten zukommt. Das Ziel ist: Verlage- rung der ambulanten fachärztlichen Ver- sorgung in die Kliniken und Gesund- heitszentren. Aber man muss auch die Frage stellen, ob nicht auch der Hausarzt in freier Praxis künftig gefährdet ist.

DÄ: Der wird doch durch den Ge- setzentwurf gefördert.

Richter-Reichhelm: Das ist vorder- gründig richtig, aber wenn man sich die dem GMG-Entwurf zugrunde liegenden Gutachten anschaut, wird deutlich, dass ein Nebeneinander von Kollektivver- tragssystem für die hausärztliche Versor- gung und Einzelvertragssystem für die Fachärzte auf Dauer nicht bestehen kann.

Auch der Hausarzt,der jetzt im Kollektiv- vertragssystem scheinbar gesichert ist, ist gefährdet, weil am Ende nur noch das Einzelvertragssystem stehen soll.

Hansen:In dem Gutachten von Pro- fessor Wasem ist ein Szenario beschrie- ben, in dem auch der Sicherstellungs- auftrag für die hausärztliche Versor- gung abgelehnt wird. Das heißt: „Alle Macht den Kassen!“

Richter-Reichhelm: Ja, ich sehe das als klares strategisches Ziel von Rot- Grün, vor allem von Rot. Man geht von der Annahme aus, dass es zu viele Fachärzte gibt. Neueinsteiger sollen deshalb nur noch mit Einzelverträ- gen eine Chance bekommen, und zwar mit Zeitverträgen. Es werden also Praxen ausgedünnt, es werden Praxen einschlafen.

DÄ:Der Deutsche Hausärzteverband scheint die Chancen und Risiken des GMG-Entwurfs anders einzuschätzen.

Richter-Reichhelm: Wir haben vor der letzten Vertreterversammlung Ge- spräche geführt und gemeinsam analy- siert. Es ist unbestritten, dass die wirt- schaftlichen Chancen in den letzten 20 bis 30 Jahren für den Facharzt größer waren als für den Hausarzt. Deshalb ha- ben sich weitaus mehr Fachärzte nie- dergelassen als Hausärzte. Die Kas- senärztlichen Vereinigungen, egal ob sie hausärztlich oder fachärztlich geführt wurden, haben das nicht unterbunden.

Aus Frustration, die ich gut nachvollzie- hen kann, hat der Hausärzteverband dann bei der Politik angeklopft. Das hat bei Andrea Fischer begonnen und sich jetzt fortgesetzt.

Man muss auch einräumen, dass der entscheidende Fortschritt zur Stärkung der hausärztlichen Versorgung, nämlich die Trennung der Vergütung von Haus- und Fachärzten, auf Initiative des Ge- setzgebers vollzogen wurde. Insofern konnten die Hausärzte mit Blick auf die Politik schon sagen: Die tun etwas für uns, die sind uns wohl gesonnen.

Hess:Die Hausärzte haben aber in- zwischen erkannt, dass das, was ihnen als Geschenk angeboten wird, ein Da- naergeschenk ist, zumal es mit der vol- len Arzneimittelhaftung gekoppelt wird.

Und wenn der Hausarzt, der etwa das Vierfache von dem verordnet, was er an Honoraren erhält, dann auch für das Vierfache haftet, hört es mit der ver-

Kassenärzte zur Gesundheitsreform

„Wir halten die Optionen für die Patienten offen!“

Die anstehende Gesundheitsreform sieht gravierende Einschnitte in das gewach- sene System der Gesetzlichen Kran- kenversicherung vor. Die Regierung will den Hausarzt zum Lotsen im Gesund- heitswesen machen und Fachärzten eine Niederlassung nur noch ermöglichen, wenn diese Einzelverträge mit den Krankenkassen schließen. Das Deutsche Ärzteblatt sprach mit den Vorsitzenden und dem Hauptgeschäftsführer der Kas- senärztlichen Bundesvereinigung (KBV) über die Reform und die berufspoliti- schen Ergebnisse der DÄ-Ärzteumfrage

„Berufsreport Ärzte 2003“ (siehe Heft 21/2003).

Dr. med. Manfred Richter- Reichhelm, Erster Vorsitzender der KBV, Urologe aus Berlin

Dr. med. Leonhard Hansen, Zweiter Vorsitzender der KBV, Allgemeinarzt aus Alsdorf

Dr. jur. Rainer Hess, Hauptgeschäftsführer

der Kassenärztlichen Bundesvereinigung

Das Gespräch fand in der Berliner Dienst- stelle der KBV statt. Die Fragen stellten Norbert Jachertz und Josef Maus.

Fotos:Lange

Interview

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meintlichen Bevorzugung schnell auf.

Ich glaube, dass die meisten Hausärzte lieber Teil einer geschlossenen Ärzte- schaft sein wollen, wenn auch mit einer Koordinierungsfunktion. Eine eigene Hausarzt-KV ist ja nicht nur ein Vorteil, sondern es gibt ein Budget, für dessen Einhaltung man dann alleine haften muss. Die Fachärzte sind dann zwar ab- hängig von den Kassen, aber nicht mehr unter Budgetbedingungen tätig. Der Facharzt kommt stattdessen „unter die Standards“, wie das Hoppe ausgedrückt hat. Und das erkennt die Ärzteschaft jetzt.

Richter-Reichhelm: Richtig, und in den Gesprächen mit den Hausärzten ist dann auch klar geworden, dass wir einen gemeinsamen Gegner haben: Fachärzte, Hausärzte und Psychotherapeuten erle- ben einen Angriff auf die Freiberuflich- keit. Und den wehren wir gemeinsam ab.

DÄ:Dazu ist aber ein geschlossenes Auftreten notwendig.

Richter-Reichhelm: Wir treten ge- schlossen auf.Wir haben uns vor der Ver- treterversammlung dazu bekannt, auch die jeweiligen Gruppeninteressen ernst zu nehmen. Wir wollen, dass Hausärzte, Fachärzte und Psychotherapeuten sich unter dem gemeinsamen Dach der Kas- senärztlichen Vereinigung und der Kas- senärztlichen Bundesvereinigung gut vertreten fühlen. Dem haben wir Rech-

nung getragen, indem wir das 2-Tarife- Modell vorgeschlagen haben: ein Haus- arzttarif im Sachleistungssystem mit Überweisungspflicht zum Spezialisten und ein Facharzttarif in der Kostenerstat- tung mit Selbstbehalt für den Versicher- ten. Wir haben ferner die paritätische Vertretung von Haus- und Fachärzten im Vorstand der Kassenärztlichen Bundes- vereinigung – auch mit Folgewirkung auf die KVen – abgestimmt und durch die Vertreterversammlung gebracht.

DÄ: Der Trend zur Spezialisierung entspricht gesellschaftlichen Vorstellun- gen und wird mit Qualifizierung gleichge- setzt. Hat sich der Trend denn gewandelt?

Hansen:Es ist einfach für die Versor- gungsrealität notwendig.Wir bekommen eine immer älter werdende Bevölke- rung, eine Singlegesellschaft, eine Erosi- on der sozialen Netzwerke. Dafür und für die Behandlung von chronischen Krankheiten wird die hausärztliche Ver- sorgungsebene gebraucht. Die Feststel- lung „Spezialisierung gleich Qualifizie- rung“ stimmt so nicht. Nein, wir müssen uns zu der Notwendigkeit der Struktu- rierung der Versorgung bekennen.

Richter-Reichhelm:Trend hin, Trend her, in unserem 2-Tarife-Modell hat der Versicherte die Möglichkeit, sich zu ent- scheiden: für ein System, in dem er vom

„Lotsen Hausarzt“ an die Hand genom- men wird, oder für den direkten Zugang

zum Facharzt mit Selbstbeteiligung. Der Charme unseres Angebots an die Politik liegt genau darin: Wir halten die Option für den Versicherten offen.Wenn die bei- den Tarife bei den Krankenkassen ge- trennt geführt werden, wären wir außer- dem erstmals in der Lage, zentrale Fra- gen zu beantworten: Kommt es zur Risi- koselektion, und kann eine hausarztge- steuerte Versorgung Kosten sparen?

DÄ: Die Hausärzte sind dabei aber herausgefordert, treten sie doch in Kon- kurrenz zu den Spezialisten.

Hansen:Wir brauchen gute Hausärz- te und gute Fachärzte miteinander – und nicht nebeneinander. 88 Prozent der Pa- tienten haben schon jetzt einen Haus- arzt. Der wird aber häufig nur sequen- ziell kontaktiert. Wenn man da für eine Struktur sorgt, ist das auch ein Angebot für die Politik. Und so verstehen wir das auch – als unseren Beitrag für eine ver- nünftige Reform, die der Wahlfreiheit des Patienten Rechnung trägt.

DÄ: Das Modell klingt zwar ein- leuchtend – ebenso Ihre Vorstellung von einer differenzierten Vertragsgestaltung –, dennoch hat unsere Ärzteumfrage er- geben, dass die „Basis“ sich überwie- gend nicht gut vertreten fühlt und auch wenig Vertrauen in die Konzepte der ärztlichen Interessenvertretungen hat.

Richter-Reichhelm: Nur 30 Prozent der befragten Ärzte meinen, dass sie im Reformprozess gut vertreten werden.

Noch schlimmer sieht es bei der Frage aus, ob die Konzepte der ärztlichen In- teressenvertretung in der Lage sind, die Probleme im Gesundheitswesen in den nächsten vier Jahren zu lösen. Dem stim- men nur 15 Prozent zu. Das kann man nicht losgelöst von den Rahmenbedin- gungen sehen, unter denen wir arbeiten müssen. Die politischen Vorgaben für die niedergelassenen Ärzte sind sehr re- striktiv. Dass sie damit Probleme haben und sagen, die machen das nicht ordent- lich, das liegt doch auf der Hand.

Hansen:Also, Fakt ist, dass die Mehr- heit in der Ärztebefragung die Zusam- menarbeit zwischen Hausarzt und Facharzt sowie dem Krankenhaus im- mer noch als gut einstuft. Gewünscht wird, dass dies so bleiben oder verbes- sert werden möge. Die Kolleginnen und Kollegen sind meist nicht berufspoli- P O L I T I K

Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 2627. Juni 2003 AA1781

Grafik

DÄ-Umfrage: Berufsreport Ärzte 2003

Können Sie sich vorstellen, statt über die KV direkt mit den Krankenkassen Einzelverträge abzuschließen?*

nein, Einzelverträge liefern den Arzt den Krankenkassen aus nein, Einzelverträge zerstören die flächendeckende Versorgung ja, Einzelverträge sind unbedingt abzuschließen ja, Einzelverträge sollte man abschließen können,

aber mit der KV als Berater und Dienstleister im Rücken Können Sie sich vorstellen, dass die Qualitätssicherung ambulanter ärztlicher Leistungen statt wie bisher durch die KV zukünftig durch eine staatliche Institution abgewickelt wird?*

nein, das wäre das Ende der ärztlichen Therapiefreiheit nein, denn dann würde die Ökonomie über die Medizin siegen ja, dann würde objektiver geprüft

ja, dann würden Patienteninteressen stärker berücksichtigt Können Sie sich vorstellen, dass andere Einrichtungen die Abrechnung Ihrer ärztlichen Leistungen effektiver vornehmen könnten als die KV?*

nein, alle anderen Varianten wären teurer

nein, das sollte in den Händen der Selbstverwaltung bleiben ja, durch private Abrechnungsstellen

ja, direkt durch die Krankenkassen

66,1 % 27,5 %

31,9 % 5,9 %

70,1 % 52,9 %

11,5 % 4,0 %

22,0 %

50,0 % 32,3

11,8 %

* Mehrfachnennungen möglich, n = 1 071 (niedergelassene Ärzte) Quelle: Berufsreport Ärzte 2003 – Deutsches Ärzteblatt

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tisch interessiert. Sie sind ganz stark mit ihrem Beruf verwachsen. Trotz der hoch problematischen Rahmenbedin- gungen würde eine Mehrheit diesen Be- ruf wieder ergreifen. Sie fühlen sich ih- rer Profession verbunden und erwarten von uns, dass wir die Bedingungen so verbessern, dass sie gute Ärzte sein können – ein jeder an seiner Stelle.

Richter-Reichhelm: Ich gebe Ihnen ein klassisches Beispiel: Wir glaubten, einen tollen, auch politischen Erfolg er- rungen zu haben, als wir das Arzneimit- telbudget unter Ulla Schmidt beseitigt hatten und stattdessen Arzneimittelvo- lumen vereinbart haben. Dabei sind erstmals die Ist-Ausgaben zugrunde ge- legt worden und nicht wie sonst immer die Soll-Vorgaben mit einem engen Budget. Nun haben wir diese Arznei- mittelvolumen nicht überall einhalten können, und was passiert? Die Politik holt wieder den Hammer heraus und führt den Kollektivregress auf kaltem Weg über den GMG-Entwurf wieder ein. Da haben Sie die klassische Reakti- on. Die Politik haut kräftig drauf, wenn irgendetwas nicht so funktioniert, wie sie es sich vorstellt – und das spiegelt sich in diesem Umfrageergebnis wider.

Hansen:Man muss auch sehen, dass sich unser jetziges Konzept in der Um- frage noch nicht niedergeschlagen ha- ben kann. Eine Umfrage der Brendan- Schmittmann-Stiftung besagt, dass 73 Prozent entsetzt, verärgert und depri- miert sind über die innerärztliche Zer- strittenheit. Und das ist über die ganzen Jahre forciert, kultiviert und ritualisiert worden. Ich glaube, dass jetzt, wo mit den Verbänden gemeinsam ein Ansatz posi- tiv kommuniziert wird, unsere Glaub- würdigkeit als Institution auch nach draußen nur gewinnen kann.

DÄ:In den Schlagzeilen ist aber von den KVen nur als Kartellen die Rede, die es zu zerschlagen gilt. Sehen das die Ärz- te in der Praxis nicht auch schon so?

Richter-Reichhelm: Das glaube ich nicht. Ein Beispiel: Wir hatten in der KV Berlin im vierten Quartal 2002 einen ver- tragslosen Zustand,weil die KBV den Er- satzkassen-Impfvertrag gekündigt hatte und die Ersatzkassen Einzelverträge schließen wollten. Das haben wir als KV aber zusammen mit den Berufsverbän- den abgewehrt. Die Kinderärzte und All-

gemeinärzte haben sich nicht locken las- sen. Das ist die beste Antwort auf die Kri- tik.Die Ärzte fühlen sich im Kollektivver- tragssystem der KVen gut aufgehoben.

Hansen:Es ist natürlich nicht so, dass wir Demonstrationen für den Erhalt der KVen erleben. Aber ich habe den Ein- druck, dass das GMG uns als Institution innerärztlich sogar stärkt. In den letzten Monaten hatten wir viele Gespräche mit Arztgruppen, die klipp und klar gesagt haben, dass sie sich auf einen ruinösen Wettbewerb um Einzelverträge nicht ein- lassen wollen, weil sie genau wissen, mit welcher Ohnmacht sie den Krankenkas- sen ausgeliefert sind und wie sie über den Tisch gezogen werden. Unser Dilemma ist, dass wir als Körperschaften öffentli- chen Rechts dazu verdammt sind, das un- ten nicht riechen zu lassen, was von oben, von der Politik, als Gestank kommt. Un- ser Handicap ist, dass von unserer Geld-

verteilung und unseren Maßnahmen vie- le individuelle Existenzen abhängen, was sehr bedrohlich für den Einzelnen wir- ken kann. Und wenn da jemand nicht zu- rechtkommt, dann kreidet er das uns an.

Bei ruhigem Nachdenken würde wahr- scheinlich konstatiert, dass es ohne KV gegebenenfalls noch schlimmer wird.

DÄ:Für viele Ärzte ist die KV tatsäch- lich der Exekutor der Politik. Sie empfin- den die KV als eine vorgesetzte Behörde, nicht aber als ihre Selbstverwaltung.

Richter-Reichhelm:Das ist die Zwit- terrolle. Die KV ist an einem gewissen Punkt der verlängerte Arm des Staates und muss exekutieren, wenn Verstöße ge- gen kassenärztliche Pflichten da sind. Die KV muss auch in gemeinsamer Selbstver- waltung mit den Krankenkassen Regres- se umsetzen. Das führt natürlich nicht zur großen Zufriedenheit und zum Glück der betroffenen Ärztinnen und Ärzte. Hinzu kommt, dass die Interessenvertretung sehr stark kastriert worden ist:Wir haben die Budgetvorgaben und können uns nur innerhalb des Grundlohns entwickeln.

Dass wir ein paar Leistungen ausbudge- tieren konnten, war schon ein Erfolg. Ge- liebt wird man dafür aber noch nicht.

Hess:Und das nutzt die Politik. Die SPD versucht schon seit gut zehn Jah- ren, die ärztlichen Selbstverwaltungen, jedenfalls die Kassenärztlichen Vereini- gungen, zu entmachten. In den alten Ge- setzentwürfen der SPD steht das alles schon drin. Das ist ein gesellschaftspoli- tischer Machtkampf. Es geht um das Gesundheitswesen der Zukunft, um die Fragen: Wird das ein zentralisiertes, in- stitutionalisiertes System, oder gibt es da noch Freiberufler in eigener Praxis?

Wir haben, und das ist ein Fehler der Vergangenheit, vielleicht zu lange an den Einzelpraxen gehangen und zu spät die Weichen umgelegt zu einer Förderung von größeren Kooperationen. Und wir haben die Strukturentscheidung Haus- arzt/Facharzt nie sauber hinbekommen.

Von daher haben wir in der Tat eine offe- ne Flanke geboten. Nehmen Sie das Gut- achten Unter-, Fehl- und Überversor- gung:Alles, was da drin steht, haben Ärz- te geschrieben. Damit ist die Festung sturmreif geschossen worden.

DÄ: Und der Sturm ist jetzt nicht mehr aufzuhalten?

Hess: Zumindest kommt jetzt eine Gegenbewegung. Die Ärzte wollen nicht in die Abhängigkeit der Kassen geraten und damit in ihrer beruflichen Unabhän- gigkeit massiv gefährdet werden. Und das muss man auch den Patienten ver- mitteln! Da müssen wir den Finger in die Wunde legen: Die Patienten werden in Zukunft nicht mehr zu unabhängigen Ärzten gehen können, sondern zu Ärz- ten, die von den Kassen vertraglich ab- hängig sind und damit auch in ihren me- dizinischen Entscheidung gesteuert wer- den. Der Streit um die Disease-Manage- ment-Programme kreist doch um die Frage:Wer bestimmt in Zukunft, wie und nach welchem Standard ein Patient be- handelt wird. Machen das die Ärzte oder definieren das die Kassen? Ich bin nicht bereit, in Sack und Asche zu gehen, weil wir nur Fehler gemacht hätten. Hier steckt eine gewaltige gesellschaftspoliti- sche Auseinandersetzung dahinter!

Richter-Reichhelm:Das ist richtig. Im Dezember vergangenen Jahres haben wir auf der Vertreterversammlung zum

„Dienst nach Vorschrift“ aufgerufen, um genau das zu tun, was Herr Hess einfor- dert, nämlich den Patienten klarzuma- chen: Du gehst in eine „Neue Welt“, die P O L I T I K

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„ . . . und dann holt die Politik wieder den Hammer heraus!“

Dr. med. Richter-Reichhelm

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nicht zu deinem Nutzen sein wird. Leider hat sich die Basis von diesen Vorschlägen nicht leiten lassen. Da ist zu wenig ange- kommen.Wir sind zu ärztlich, als dass wir unsere Interessen auf den Rücken der Patienten umsetzen.

Hansen:Ich streike nicht auf Kosten meiner Patienten, weist die Befragung des Deutschen Ärzteblattes aus. Aber der gleiche Prozentsatz ist bereit, die Patienten zu mobilisieren . . .

DÄ: Kann es sein, dass die Gegen- bewegung zu spät kommt?

Richter-Reichhelm: Im Bundestag werden wir nichts mehr verändern kön- nen. Die Zeit ist viel zu kurz. Und weil der SPD das Wasser bis zum Hals steht, wird sie Geschlossenheit praktizieren.

Aber ich rechne mir im Bundesrat etwas aus, und darauf arbeiten wir hin. Wir werden dort Überzeugungsarbeit lei- sten.Wir treten für die flächendeckende, wohnortnahe Versorgung in freier Praxis ein. Und wenn dieses Gesetz so kommt, dann geht das verloren. Das kann der Union, die sich für den Mittelstand stark macht, nicht recht sein und der FDP schon gar nicht.

DÄ: Konkret, glauben Sie, dass die Einzelverträge kommen?

Richter-Reichhelm: Von welchem Einzelvertrag reden wir? Reden wir von einem Vertrag, den ein Facharzt, der neu ins System kommt,braucht,um ambulant tätig zu sein?

DÄ:Den meinen wir.

Richter-Reichhelm:Da bin ich skep- tisch. Ich glaube es nicht.

DÄ:Wenn sie doch kommen: Könn- ten die KVen dabei eine Beratungs- und Koordinierungsfunktion wahrnehmen?

Richter-Reichhelm:Das machen wir doch jetzt schon. Nehmen Sie das DMP Brustkrebs in Berlin. Das läuft ohne die KV. Die Kassen haben mit den Kranken- häusern und mit interessierten Arztgrup- pen verhandelt. Wir haben diese Arzt- gruppen begleitet, sie beraten. So war es auch bei den ambulanten Operateuren:

Dienstleistung durch die KV.

Hansen:Und da haben die Kranken- kassen inzwischen auch ihre Erfahrun- gen gemacht. Im Herbst vergangenen Jahres hat sich deren Bundesebene so

stark gefühlt, dass sie beispielsweise die Regelung der DMP-Dokumention über einen Bundesmantelvertrag abgelehnt hat. Jetzt merkt man vor Ort, dass die Umsetzung wahnsinnig schwierig ist, oh- ne KV praktisch unmöglich. Die Landes- ebene der Kassen ist, gelinde gesagt, auf ihre Bundesebene, nicht gut zu sprechen, weil so viel Sand im Getriebe steckt. Es ist einfach so:Auf der Selbstverwaltungs- ebene sind wir unverzichtbar.

Richter-Reichhelm:Nehmen Sie doch die jüngsten Zahlen über die Ausgaben der GKV. Die Verwaltungskosten der Kassen sind um drei Prozent gestiegen.

Die haben enorm aufgerüstet, um den administrativen Aufgaben gewachsen zu sein, die wir als KV geleistet haben. Die AOK soll auf Bundesebene 22 Millionen Euro investiert haben, um die Infrastruk- tur zur Verwaltung der DMP zu schaf- fen. Das ist wieder dieser Wahnsinn:

Man redet von Abschaffung der doppel- ten Facharztschiene, weil man Doppel- investitionen vermeiden will, macht aber dann genau das bei den Krankenkassen, und zwar zulasten der Versicherten. Ein absoluter Irrsinn. Der ist nur ideologisch zu erklären und nicht anders.

DÄ:Die Gesundheitszentren werden in unserer Umfrage akzeptiert, wenn sie von niedergelassenen Fachärzten getra- gen werden. Sie werden abgelehnt, wenn sie kommerziell und klinikkettenartig sind oder von den Krankenkassen kom- men. Wer aber organisiert die nieder- gelassenen Fachärzte, wenn sie als Frei- berufler Zentren aufmachen wollen?

Richter-Reichhelm: Die KVen kön- nen genau dieser Dienstleister sein. In- teressierte Fachärzte, die sich in einem Ärztehaus zusammenschließen wollen, um die Vokabel Gesundheitszentren zu vermeiden, haben wir übrigens immer unterstützt. Wir haben immer gesagt, tut euch in größeren Einheiten zusammen, ihr senkt damit eure Kosten und verbes- sert letztendlich die Qualität der Versor- gung.Wenn das nun Ärzte sind, die in ei- nem Einzelvertragssystem tätig sein

müssen, wird man sicher eine Rechts- konstruktion finden müssen. Als Kör- perschaft wäre die KV ja nur noch für die Ärzte zuständig, die im Kollektiv- vertragssystem sind. Aber wir können das, das Know-how haben wir.

DÄ:Können Sie sich vorstellen, dass ein Zentrum von niedergelassenen Ärz- ten getragen, aber dann mit zusätzlichen angestellten Ärzten betrieben wird?

Richter-Reichhelm:Natürlich, es ist aber eine Frage des Berufsrechts, ob das zulässig wird.

Hansen: Eine Offensive hin zu ko- operationsfreundlichen Vertragsbedin- gungen würde angenommen. Das Ge- sundheitszentrum wäre das Endglied in einer Kette. Von uns aus sollte das in der Freiberuflichkeit, aber auch in der Kom- bination mit angestellten Ärztinnen und Ärzten ermöglicht werden.

Hess: Die KVen müssen Strukturen etablieren, die auf die Belange einer frei- beruflichen Tätigkeit zugeschnitten sind.

Wir wollen die freiberufliche Sozietät, in der auch Angestellte tätig sind.Wir könn- ten das so machen wie bei den Rechtsan- wälten.

DÄ:Können niedergelassene Fachärz- te ihre Praxis aufgeben und als Freibe- rufler in ein Gesundheitszentrum gehen?

Hess:Das Gesundheitszentrum nach dem GMG-Entwurf kann eine GmbH oder auch etwas anderes sein – aber nur mit angestellten Ärzten. Da dürfen über- haupt keine Freiberufler drin sein!

Richter-Reichhelm:Ein angestellter Arzt arbeitet nicht so effizient wie ein Freiberufler.

Hansen:Es ist unsere Aufgabe, derar- tige Pläne des Ministeriums, die nicht den Versorgungsrealitäten entsprechen, ad absurdum zu führen, bevor sie über- haupt realisiert werden.

Richter-Reichhelm:Ich glaube auch, dass wir mehr Möglichkeiten zur öffentli- chen Darstellung der Fähigkeiten schaf- fen müssen. Ein Hinweis darauf, wie es beispielsweise die Amerikaner machen, welche Vorzüge bestimmte Kliniken oder Praxen haben, das sollte möglich sein. Das verlangt sowohl die Öffentlich- keit als auch die Politik. Die betrachten uns als KV immer als eine Art Blackbox.

Ich denke, wir sollten Licht und frische

Luft ‘reinlassen. )

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A1784 Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 2627. Juni 2003

„Die Kassen merken jetzt, dass es ohne KV praktisch unmöglich ist . . .“

Dr. med. Leonhard Hansen

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