Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 51–5222. Dezember 2003 AA3341
S E I T E E I N S
W
enn es nach den Partei-Oberen der Sozialdemokraten und vor allem den Direktiven von General- sekretär Olaf Scholz geht, soll das Thema „Modell Bürgerversiche- rung“ zwar weiter verfolgt, zunächst jedoch auf Sparflamme gehalten wer- den. Entgegen der Vorstellung der Parteispitze und der Antragskom- mission votierte der jüngste SPD- Parteitag in Bochum dafür, die grundsätzliche Entscheidung für die Bürgerversicherung zu präzisieren und konkrete Prüfaufträge zu ertei- len. Auch der Parteibasis und den Linken innerhalb der Sozialdemo- kraten ist klar: Der „Weg in die Zukunft“ und eine Grundrevision der maroden Sozialleistungssysteme sind überaus kompliziert und dornen- voll. Deshalb könne man nicht im Hauruck-Stil das Jahrhundertprojekt in Angriff nehmen und die traditio-nellen Sozialleistungssysteme in eine alle Bürger zwangsrekrutierende Bürgerversicherung transformieren, mahnte Bundeskanzler Gerhard Schröder jetzt auch vor der Friedrich- Ebert-Stiftung. Indes: Manchen So- zialexperten innerhalb der Partei geht alles zu schleppend und zu beck- messerisch zu. Horst Schmidbauer, Gesundheitspolitiker der SPD-Bun- destagsfraktion, einer von sechs Ab- weichlern bei der Abstimmung zur jüngsten Gesundheitsreform, will noch in dieser Legislaturperiode rechtzeitig die gesetzgeberischen Weichen in Richtung Bürgerversi- cherung gestellt und alle Details ge- klärt wissen. Denn nach seiner An- sicht ist bereits alles ausdiskutiert. In die Meinung der Ungeduldigen stimmte auch Birgit Fischer, Gesund- heitsministerin in Nordrhein-Westfa- len, ein. Alle Einkommen, alle Kas-
sen und alle Bürger sollten möglichst bald in eine Bürgerversicherung per Gesetz einbezogen werden.
Abweichend dagegen das Insistie- ren von Bundesgesundheitsministe- rin Ulla Schmidt. Sie will jetzt erst den Weg in die Richtung einer Bür- gerversicherung markieren, nicht aber das Endziel jetzt schon darlegen und stramm angehen.
Für den SPD-Generalsekretär wä- re es „ideal“, wenn er und die Partei mit dem Modell der Bürgerversiche- rung in den Bundestagswahlkampf 2006 gehen könnten. Er erhofft sich Stimmen und Stimmung gegen die Alternativen der CDU und das Kopf- pauschalenmodell. Damit die „ande- re Volkspartei“ dadurch zu isolieren und in die kalte Ecke zu drängen wäre für ihn eine gute Taktik für den noch lange nicht ausgerufenen Wahlkampf. Dr. rer. pol. Harald Clade
Gesundheitsreform
Wahlkampfthema A
ls der Europäische Gerichtshof(EuGH) am 9. September 2003 klarstellte, dass Bereitschaftsdienste auch in Deutschland als Arbeitszeit zu werten sind, meinten alle Beteilig- ten, eine jahrelange Hängepartie sei beendet. Schneller als erwartet brach- te das Bundeswirtschaftsministerium dann einen Gesetzentwurf auf den Weg, mit dem das Arbeitszeitgesetz an die maßgebliche europäische Ar- beitszeitrichtlinie 93/104 angepasst werden sollte. Es sah so aus, als ob die neue Arbeitszeitwirklichkeit in den Krankenhäusern zum 1. Januar 2004 Wirklichkeit werden könnte.
Und dann das: Die zuständige EU-Kommissarin, Anna Diamanto- poulou, plädiert jetzt überraschend für eine Änderung der Arbeitszeit- richtlinie. Demnach sollen die Mit- gliedsstaaten künftig selbst entschei- den können, ob sie Bereitschaftsdien-
ste als Arbeitszeit einstufen. Das EuGH-Urteil habe große Proble- me ausgelöst, argumentiert Diaman- topoulou. So müssten allein in Deutschland mindestens 15 000 Ärz- te zusätzlich eingestellt werden, wenn der Richterspruch lupenrein umgesetzt werde. Das Urteil werde mithin die Gesundheitssysteme der EU-Mitgliedsstaaten untergraben.
Die Griechin muss sich den Vor- wurf gefallen lassen, warum sie diese absehbare Entwicklung so spät er- kannte. Denn in Deutschland wird bereits seit Oktober 2000 darüber diskutiert, woher das Geld für die vie- len zusätzlichen Ärzte kommen soll.
Deshalb sieht die Gesundheitsreform ja auch vor, dass den Krankenhäusern bis 2009 jährlich zweckgebunden für die Verbesserung der Arbeitsbedin- gungen 100 Millionen Euro zusätz- lich zur Verfügung gestellt werden.
Bislang ist allerdings noch keine Entscheidung über eine Änderung der EU-Arbeitszeitrichtlinie von 1993 gefallen. In den nächsten Tagen will die EU-Kommission zunächst ei- nen Sachstandsbericht zur Umset- zung der EU-Arbeitszeitrichtlinie in den Mitgliedsstaaten vorlegen. Da- nach setzen die Konsultationen ein.
Dass diese Aktivitäten die Vorarbeit für die Vorlage eines neuen Richtli- nienvorschlags sind, wurde in Brüs- sel weder bestätigt noch verneint.
Die Bundesregierung hat zwar in- zwischen angekündigt, an der Novelle des Arbeitszeitgesetzes festzuhalten.
Allerdings sollen die Neuregelungen für den Krankenhausbereich – also auch Details zum ärztlichen Bereit- schaftsdienst – erst zum 1. Januar 2006 in Kraft treten. Darauf einigte sich der Vermittlungsausschuss (Stand bei Redaktionsschluss). Jens Flintrop