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Gesundheitsstrukturreform, Stufe III
Mehr Flexibilität
D
ie Bonner Regierungsko- alition will offenbar den in den Eckpunktepapieren von CDU/CSU und FDP vorgege- benen Kurs bei den nächsten Schritten zur Strukturreform strikt beibehalten. Allerdings zeichnen sich nach den zweitägigen Klau- surverhandlungen der Koalition und nach Gesprächen mit den Spitzenverbänden der Kranken- kassen und der Ärzteschaft einige marginale Korrekturen ab, die von den zuletzt von Bundesgesund- heitsminister Horst Seehofer in der Öffentlichkeit genannten Vor- gaben abweichen. Noch ist kein koalitionsinterner Konsens erzielt worden, so daß weitere Abklärun- gen Anfang 1996 erfolgen sollen, ehe die Fraktionen voraussichtlich am 16. Januar das bis dahin ge- schnürte Paket goutieren. Erst dann kann das Verhandlungser- gebnis für die Direktiven zur am- bulanten Versorgung in einen Vorreferentenentwurf „gegossen"werden.
Was bis jetzt (Redaktions- schluß: 14. Dezember) bruchstück- weise an die Öffentlichkeit ge- drungen ist, hatte Seehofer bereits bei der jüngsten Vertreterver- sammlung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung am 9. Dezem- ber in Magdeburg angedeutet:
Ohne wirksame Ausgaben- drosselung im stationären Sektor und ohne eine Budgetierung der Krankenhausausgaben noch im Jahr 1996 wird es keine Reform im ambulanten Sektor geben. Dage- gen soll die Budgetierung im am- bulanten ärztlichen und zahn- ärztlichen Bereich nicht fortge- führt werden. Es soll auch in die- sem Bereich die politische Vorgabe der Beitragssatzstabilität gelten.
Die Ausgabenentwicklung soll — wie bereits in den vergängenen 25 Jahren bei den Kassenärzten — strikt an die Entwicklung der
Grundlohnsumme gebunden wer- den. Angestrebt wird für den am- bulanten Sektor eine weitgehende Deregulierung und eine Überant- wortung der Entscheidungen über Beiträge und Leistungen an die Di- rektbetroffenen (Ärzte, Kranken- kassen, Versicherte). Der Gesetz- geber soll klare Rahmenbedingun- gen vorgeben, aber im Detail nicht gängeln, der gemeinsamen Selbst- verwaltung „Vorfahrt" einräumen.
Die FDP hat offenbar darauf gedrängt, daß Regelungen zur Fle- xibilisierung des Vertragsgesche- hens jetzt verankert werden. De- tails hierüber sollen noch abge- sprochen und mit den betroffenen Verbänden der Ärzteschaft und der Krankenkassen festgelegt wer- den. Ziel ist es also, sowohl Bei- trags- als auch Leistungsverant- wortung auf die Ebene der Selbst- verwaltungen zu legen. Wie es sich jetzt abzeichnet, wird es prinzipiell bei einem bundesweiten und kas- senartenübergreifenden, medizi- nisch verantwortbaren Pflichtlei- stungskatalog bleiben. Auf ein ge- nerelles Splitting des Leistungska- taloges in Pflicht- und Grundlei- stungen sowie darüber hinaus auf durch von den Versicherten zu- wählbare Zusatzleistungen oder einen breiteren Korridor von Sat- zungsleistungen (bis zu 20 Prozent des Leistungsvolumens) werden sich die Bonner Koalitionäre vor- aussichtlich nicht verständigen können. Damit wäre eine politi- sche Brücke zur SPD-Opposition vorsorglich gebaut, die sich strikt gegen eine generelle Ausdünnung des Pflichtleistungskatalogs und ein wie immer geartetes Splitting- modell sperrt. Andererseits will die CDU/CSU offenbar dem Drängen der FDP nicht nachge- ben, das Vertragsgeschehen so weit zu liberalisieren, daß sowohl das Vertrags- als auch das Lei- stungsgeschehen regional und kas-
senindividuell weit auseinander- driften mit der Gefahr, einen bun- desweiten „Flickenteppich", der nicht mehr handhabbar ist, zu pro- duzieren. Damit bliebe es also prinzipiell bei bundeseinheitlich gesetzlich festgelegten Leistungs- vorgaben und dem Sicherstel- lungsauftrag durch die Kassenärzt- lichen Vereinigungen und einem kollektivvertraglichen System.
„Weiterungen" und eine Entwick- lung zu einem HMO-System ä la USA oder einem puristischen Ein- kaufsmodell ä la Krankenkas- sen/SPD wären damit (fürs erste) zumindest bei der Koalition poli- tisch tot.
Andererseits will die Koaliti- on offenbar andere bisher tabui- sierte Komplexe anpacken: So könnte den Krankenkassen bei der SGB V-Revision per Satzung ein- geräumt werden, Selbstbehalttari- fe, Beitragsrückgewähr und ande- re Elemente zur Inanspruchnah- mesteuerung festzulegen. Dagegen soll es keine generelle Erhöhung der Selbstbeteiligung zu Lasten der Versicherten geben. Auch könnten die Krankenkassen ermächtigt werden, per Satzung ihr Angebot im Arzneimittel-Leistungsbereich aufzulockern, eventuell im Bereich alternativer Arzneimittel, insbe- sondere bei den Naturheilmitteln.
Eine weitere Option: Geprüft wird, ob den Versicherten (nicht nur den freiwillig Versicherten) die Wahl zwischen dem herkömmli- chen Sachleistungs- oder dem Ko- stenerstattungsverfahren einge- räumt werden soll. Offen ist aller- dings die Frage, ob der System- schwenk zur Kostenerstattung nur eine abrechnungstechnische Vari- ante zum Sachleistungsverfahren sein soll oder ob bei Wahl der Ko- stenerstattung auch die Modalitä- ten der GOÄ zum Zuge kommen sollen (für letzteres votiert die FDP). Dr. Harald Clade Deutsches Ärzteblatt 92, Heft 51/52, 25. Dezember 1995 (1) A-3581