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Deutsches Ärzteblatt 93,Heft 49, 6. Dezember 1996 (1)
Versicherten-Chipkarte
Eiertanz
osehr die Bonner Regie- rungskoalition auch be- müht ist, mit drakonischen gesetzlichen Maßnahmen die Aus- gabenentwicklung im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zu drosseln und das Inan- spruchnahmeverhalten der Versi- cherten zu zügeln, in einem Punkt tritt Bonn auf der Stelle: Vorerst jedenfalls soll die Krankenversi- chertenkarte („Chipkarte“) unver- ändert eingesetzt werden können, ohne Vorkehrungen zu treffen, um eine unerwünschte Mehrfachinan- spruchnahme von Vertragsärzten während ein und desselben Quar- tals zu kontrollieren und zurückzu- drängen. Bundesgesundheitsmini- ster Horst Seehofer bekundete zwar wiederholt Sympathie für die Wünsche der Ärzteschaft und ins- besondere den Vorschlag der Kas- senärztlichen Bundesvereinigung (KBV), der gemeinsamen Selbst- verwaltung von Ärzten und Kran- kenkassen eine „Option“ ein- zuräumen, um die Chipkarte entsprechend zu modifizieren.
Schließlich hat die Fallzahlenana- lyse (Entwicklung der Zahl der Fälle beziehungsweise Kranken- scheine) durch das Wissenschaftli- che Institut der Ortskrankenkas- sen und des Zentralinstituts für die
kassenärztliche Versorgung ein- deutig nachgewiesen, daß gerade seit Einsatz der Chipkarte ab An- fang 1994 (und des Ersatzes des papierenen Krankenscheines) die Direktinanspruchnahme von Fachärzten und die Mehrfachinan- spruchnahme von Ärzten gleicher Fachrichtung deutlich zugenom- men haben. Dies kann zu medizi- nisch unerwünschten Folgen und zu vermeidbaren Ausgabenschü- ben bei den Krankenkassen führen. Entsprechend müßte die Politik auch daran interessiert sein, mißbräuchliche Inanspruchnah- men abzustellen.
Namentlich der Hartmann- bund hatte empfohlen, daß die Chipkarte nach der jeweils ersten Inanspruchnahme des Fachgebie- tes im Kalendervierteljahr für jede weitere Inanspruchnahme dessel- ben Fachgebietes ohne Über- weisung gesperrt werden solle.
Auch der Berufsverband der Allgemeinärzte Deutschlands e.V.
(BDA) hatte dies anläßlich der jüngsten Delegiertenversammlung im September angeregt. Die Kas- senärztliche Bundesvereinigung hat „aus aktuellem Anlaß“ Seeho- fer aufgefordert, den Karteninhalt entsprechend zu ändern und zu er- gänzen – allerdings ohne das
Recht auf freie Arztwahl zu be- schneiden oder dem Primärarzt- modell Vorschub zu leisten.
Seehofer steckt in einer Zwickmühle: Das Kartenände- rungsprojekt ließe sich ohne Zwei- fel nicht im Eilzugstempo erledi- gen und zeitgleich mit den beiden GKV-Neuordnungsgesetzen ge- setzlich über die Hürden hieven.
Der Inhalt der Chipkarte ist exakt und abschließend per Gesetz fest- gelegt, so daß eine spezialgesetzli- che Regelung notwendig wäre – einmal davon abgesehen, daß da- tenschutzrechtliche Bedenken et- wa gegen die nachträgliche Prü- fung des versichertenbezogenen Inanspruchnahmeverhaltens über- prüft und gegebenenfalls aus- geräumt werden müßten. Auch müßten die Datenschutzbeauf- tragten ein Wort mitsprechen kön- nen. Für Seehofer ergibt sich über- dies eine zusätzliche Schwierig- keit, nämlich den Chipkartenzu- gang zum Vertragsarzt unter geän- derten Vorzeichen mit der neu eröffneten Möglichkeit zu koordi- nieren, wahlweise Kostenerstat- tungsleistungen auch im Bereich aller gesetzlich Versicherten in Anspruch zu nehmen (das 2. NOG enthält eine entsprechende Öff- nungsklausel). Dr. Harald Clade