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Zwischen Interessenvielfalt und Zeitknappheit

Im Dokument Prekäre Privilegien (Seite 136-140)

7 Prekäre Privilegien im Alltag junger Ingenieur_innen

7.1 Selbstbestimmtes Leben unter Zeitdruck

7.1.1 Zwischen Interessenvielfalt und Zeitknappheit

Welche Lebensbereiche sind den verschiedenen Interessentypen wichtig? Die Angehörigen des Typs „Ausbalancierte Selbstverwirklichung im Beruf“ haben deutliche Karriereinteressen als Führungskräfte. Sie charakterisieren sich als ehrgeizig, zielstrebig und erfolgsorientiert im Be-ruf. Gleichzeitig betonen sie die Wichtigkeit von freien Wochenenden und von Privatleben.

Frau Kuhn sagt: „Wir sind ja so diese Generation Y, die Berufliches und Privates wirklich aus-balanciert wissen wollen.“ Sie positionieren sich als Menschen mit vielseitigen Interessen. Um diesen nachgehen zu können, begrenzen sie ihre zeitliche Verfügbarkeit für die Erwerbsarbeit.

Sie sehen sich als junge Generation, die Beruf und Familie vereinbaren möchte, und formulie-ren dies durchaus als Anspruch an die Gesellschaft und an Unternehmen.

Die Personen des Typs „Entspannter Nichtaufstieg“ haben sich gegen Karriere entschieden, denn „Geld ist nicht alles“, so eine häufig verwendete Formulierung, mit der sie sich von ma-teriellen Interessen und Statusinteressen abgrenzen:

„Ich möchte halt gerne einfach nur Zeit haben und zufrieden sein, glücklich sein und die Zeit nutzen, so wie ich sie halt nutze, wie auch immer das dann

sein mag. Das ist so das große Interesse.“ (Frau Esser)

Ihnen ist es wichtig, eine Vielfalt gleichberechtigter Interessen in unterschiedlichen Lebensbe-reichen miteinander zu vereinbaren. Mit Begriffen wie „Leben im Gleichgewicht“ oder „Leben im Rhythmus“ beschreiben sie ihren Wunsch nach einer Ausgeglichenheit zwischen Erwerbs-arbeit und anderen Lebensbereichen. Dafür setzt sich dieser Typ im Rahmen von gewerkschaft-licher Arbeit auch politisch ein.

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Im Zentrum der Selbstpositionierungen des Typs „Strategischer Verzicht im Beruf“ stehen fa-miliäre Interessen oder individuelle Interessen wie Freundschaften und Hobbys. Unter den genen Interessen wird der Beruf eher nachrangig positioniert. Die Abgrenzung davon, „die ei-gene Identität voll und ganz mit dem Berufsleben zu verknüpfen“ (Frau Burger), wird politisch mit der Vision einer nicht erwerbszentrierten und nicht profitorientierten Gesellschaft verbun-den. Bei einigen ist die eigene Familie das zentrale außerberufliche Interesse. Bei anderen um-fasst dies verschiedene Aspekte des Alltags, wie den Wunsch nach kollektivem Wohnen, nach einem Leben mit Kindern außerhalb von Kleinfamilien oder nach einer Zentralität von Freund-schaftsbeziehungen. Die Begrenzung beruflicher Anforderungen schafft somit Freiräume für eine Vielfalt an Aktivitäten und sozialen Beziehungen, die aber selbst wiederum Terminabstim-mungen und Planung erfordern.

Im Typ „Kalkulierte Vernachlässigung der Selbstsorge“ wird die Vereinbarung der Interessen und Anforderungen aus Beruf und Familie konfliktträchtiger erlebt als in den drei anderen Ty-pen. In meinem Sample wird dieser Typ ausschließlich von Frauen vertreten. Ein anspruchs-voller Beruf und eine aktive Rolle in der Familie stehen nebeneinander im Zentrum ihrer Selbst-positionierungen. Die eigenen Pläne werden daran ausgerichtet, trotz langer Erwerbsarbeitszei-ten für die Familie präsent und greifbar zu sein:

„In der Industrie muss man Präsenz zeigen. Wenn ich weniger da wäre, würde ich weniger interessante und verantwortliche Aufgaben bekommen, sondern

Assistenzrollen.“ (Frau Ünsal)

Wo liegen nun aus Sicht der Interviewten die Schwierigkeiten und Probleme in der Umsetzung dieser Interessen? Wie konstruieren sie das Spannungsfeld zwischen Interessenvielfalt und Zeitmangel? Ein Konflikt besteht darin, dass Zeiten für sich selbst und für Beziehungen an den Rand gedrängt werden. Durch die engen Zeitpläne fehlt es ihnen an Muße und an Zeit, um sich Freundschaften zu widmen. Die eine Variante des karriereorientierten Typs „Ausbalancierte Selbstverwirklichung im Beruf“, die karriereorientierten Mütter mit ebenfalls vollzeiterwerb-stätigen Partnern, konstruieren sich als aktive und selbstbewusste Karrierefrauen und als Ma-nagerinnen eines unter der Woche eng getakteten Familienalltags. Frau Albrecht stellt fest: „Die Zärtlichkeit in der Partnerschaft bleibt auf der Strecke, weil wir abends müde ins Bett fallen.“

Und Frau Kuhn bemerkt, die Beziehung zu Freund_innen, Eltern und Geschwistern zu pflegen, sei

„nicht immer ganz einfach, weil man jedem gerecht werden will. […] Und manchmal fragt man sich, gerade jetzt so zum Ende des Jahres, warum tut man

sich das eigentlich an“. (Frau Kuhn)

Der gleiche Konflikt findet sich zugespitzt in den Selbstpositionierungen des Typs „Kalkulierte Vernachlässigung der Selbstsorge“. Hier finden sich ebenfalls stark beruflich identifizierte

Frauen, aber mit einer anders ausgeprägten Mutterrolle, nämlich als aktive Sorgearbeiterin im Alltag. Hier geht es um emotionale Präsenz, organisatorischen Überblick und Alltagsunterstüt-zung. Um diese Sorgearbeit mit der anspruchsvollen Berufstätigkeit zu vereinbaren, nehmen sie eine Gefährdung der Selbstsorge wissend in Kauf:

„Es ist meine eigene Entscheidung, dass ich weniger für mich selber mache und dafür mehr für andere. […] Das Größte was ich für mich mache, ist das mit der

Arbeit.“ (Frau Pamuk)

Eine Eigenschaft des Typs liegt darin, dass die Vereinbarung von Berufs- und Sorgearbeit das zentrale eigene Interesse darstellt. Dies wird so hoch gewichtet, dass die berufstätigen Mütter daneben auf den Wunsch nach Muße und Zeit für sich selbst verzichten. Erholung gibt es in ihrem Alltag kaum. Dies begründen sie mit einem Ideal von Mutterschaft, das an einer starken Rolle in der Familie und am Leben der Kinder orientiert ist. Und so schildern sie, dass sie einerseits erfüllt davon und stolz darauf sind, dass sie hohe Ansprüche in Berufs- und Sorgear-beit miteinander vereinbaren und ihnen andererseits die Leichtigkeit und Unbeschwertheit feh-len.

Auffällig im Kontrast zu diesem Konflikt, der jeweils von Frauen beschrieben wird, ist die Variante des karriereorientierten Typs „Ausbalancierte Selbstverwirklichung im Beruf“, dem in meinem Sample nur Männer zugeordnet sind. Hierbei handelt es sich um Väter, deren jewei-lige Partnerin die Sorgearbeit im Alltag nahezu komplett übernimmt. Die Vereinbarung von Selbstsorge, Vollzeiterwerbstätigkeit und Familie ist für sie kaum ein Problem. Interessanter-weise finden sich bei den karriereorientierten Vätern dennoch kaum verbindliche soziale Be-ziehungen neben der Kernfamilie. Sie gleichen einander in der selbstgewählten Beschränkung auf Beruf und Familie. Herr Quade ist abends und am Wochenende zu erschöpft, um Zeit mit anderen Personen als seiner Partnerin zu verbringen. Er würde gerne seine jahrelang vernach-lässigten Freundschaften wieder pflegen, kann aber nur selten „den inneren Schweinehund“

überwinden. Herr Nasser verfolgt, seit er Vater ist, keine eigenen Hobbys oder Interessen mehr, sondern pflegt nur ab und zu „spontane Interessen“. Das sind dann Dinge, die ihn jeweils kurz-fristig interessieren und einen Alltagsbezug haben. Als Beispiel nennt er das Programmieren von Apps für sein Kind in seiner Herkunftssprache. Das hat dann eine Weile Priorität und füllt seine Freizeit. Herr Tammens vertritt diese Begrenzung auf Beruf und Familie explizit als selbstbestimmte strategische Alltagspraxis. Er konstruiert dies als Widersetzung gegen die all-gemeine „Getriebenheit“, die er bei jüngeren Kolleg_innen sieht:

„Das macht dann halt Stress, wenn man arbeiten muss und eine Familie hat und noch seine Hobbys oder noch sozial engagiert ist oder ehrenamtlich etwas macht. […] Heutzutage geht alles so schnell, dass es auch nicht verkehrt ist zu sagen, man will nicht alles machen, und ich konzentriere mich auf das

Wesent-liche. Vielleicht ist es langweilig, dass ich sage Arbeit und Familie, aber für mich ist es stressfreier.“ (Herr Tammens)

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Im Typ „Strategischer Verzicht im Beruf“ ist die Zeitknappheit in den Alltagsschilderungen ebenfalls ein Konflikt – und das trotz der bewussten Grenzziehung gegenüber den beruflichen Anforderungen durch die Wahl der Teilzeiterwerbstätigkeit. Durch die vielfältigen Interessen in unterschiedlichen Lebensbereichen fehlt es an Zeiten der Ruhe und Muße:

„Dann habe ich das Gefühl, ich muss ständig noch irgendwas fertig machen, und komme überhaupt nicht mehr dazu, einfach mal einen Nachmittag in der

Sonne zu sitzen oder so.“ (Frau Burger)

Die Konstruktion des Zeitmangels unterscheidet sich in diesem Typ aber von der subjektiven Wahrnehmung der beiden zuvor genannten Typen. Die beiden zuvor genannten Typen akzep-tieren Zeitknappheit als individuelle Gestaltungsaufgabe. Hingegen messen die strategisch Ver-zichtenden ihre Alltagspraxen an ihrem Wunsch nach einer Gesellschaft, die nicht an kapitalis-tischen Zwängen von Steigerung und Wachstum und den Normen von Eigenverantwortung und beruflichem Erfolg ausgerichtet ist. So verweist in diesem Typ der Zeitmangel auf den zugrunde liegenden Konflikt, dass die Realisierung der eigenen Wünsche generell durch die bestehenden Bedingungen begrenzt wird. Frau Burger würde gerne den Beruf in Richtung Handwerk wech-seln, aber sie traut sich trotz ihrer Situation relativer sozialer Sicherheit nicht, sich dem gesell-schaftlichen Druck zu einer „straighten Biografie“ zu verweigern. Herr Dohm erlebt viele kleine Dilemmata durch die kritische Verortung seiner eigenen Handlungsmöglichkeiten in so-zialen Ungleichheitsstrukturen. Als Beispiele nennt er, dass er und seine Frau sich für die eigene Familie eine private Krankenversicherung und eine private Kita und Schule leisten, wobei sie eigentlich in einer Gesellschaft leben möchten, die eine verbesserte soziale Infrastruktur und Versorgung für alle Menschen bietet. Frau Fenger erlebt sich in einer „Umbruchphase“, weil ihr kürzlich durch eine eigene Erkrankung bewusst wurde, dass ihr ein „soziales Leben“ wich-tiger ist als „ein Haufen Kohle“.

Einzig der Typ „Entspannter Nichtaufstieg“ zeichnet sich durch die Abwesenheit von Konflik-ten in diesem Spannungsfeld aus. Dies gelingt den Ingenieur_innen dieses Typs durch Grenz-ziehungspraxen, konkret durch den Verzicht auf Karriere und durch Bescheidenheit in materi-ellen Dingen. Sie grenzen sich von Menschen ab, bei denen aus ihrer Sicht die Statusorientie-rung ein Hindernis für die VereinbaStatusorientie-rung verschiedener Lebensbereiche darstellt: „Geld ist nicht alles“ und „man lebt nicht, um zu arbeiten, sondern umgekehrt“, so bringt es Frau Esser auf den Punkt. Dadurch ermöglichen sich diese Interviewten „inneren Frieden und persönliches Gleich-gewicht“ (Herr Clasen).

Bis hierhin wurde deutlich, dass junge Ingenieur_innen den Lebensbereichen jenseits des Be-rufes große Bedeutung beimessen, sich aber unter der Bedingung, dass ihnen neben dem Beruf

wenig Zeit bleibt, vielfach auf die Vereinbarung von Beruf und Familie beschränken. Im Fol-genden werfe ich einen genaueren Blick darauf, wie sie den Lebensbereich Familie konstruieren und gestalten und wie sie diesen von Freizeit bzw. Muße abgrenzen.

Im Dokument Prekäre Privilegien (Seite 136-140)