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Prekäre Privilegien und soziale Ungleichheit

Im Dokument Prekäre Privilegien (Seite 35-40)

3 Prekäre Privilegien

3.1 Prekäre Privilegien und soziale Ungleichheit

Im ursprünglichen Wortsinne sind Privilegien „Sonderrechte von Personen oder Personengrup-pen, die in einer Demokratie dem Gleichheitsgrundsatz zuwiderlaufen“ (Reinhold 1997: o. S.).

Prekarität bezeichnet unsichere Lebensverhältnisse (Dörre 2013: 393). Die Privilegierungen und Prekarisierungen, die ich anknüpfend an die Auswertung des Forschungsstandes zu den Lebensbedingungen von Ingenieur_innen (vgl. Kapitel 2) im Blick habe, hängen mit sozialer Ungleichheit zusammen. Nach der Definition von Reinhard Kreckel liegt soziale Ungleichheit vor, wenn

„die Möglichkeiten des Zugangs zu allgemein verfügbaren und erstrebenswerten sozialen Gütern und/oder sozialen Positionen, die mit ungleichen Macht- und/oder Interaktionsmöglichkeiten ausgestattet sind, dauerhafte Einschränkun-gen erfahren und dadurch die Lebenschancen der betroffenen Individuen, Grup-pen oder Gesellschaften beeinträchtigt bzw. begünstigt werden“.

(Kreckel 2004: 17)

Mit Bezug auf Kreckels Definition sozialer Ungleichheit definiere ich Privilegierung als eine Begünstigung der Möglichkeiten, die eigenen Wünsche und Interessen zu realisieren. Mit Pre-karisierung bezeichne ich eine Beeinträchtigung der Möglichkeiten, die eigenen Wünsche und Interessen zu realisieren. Somit definiere ich den Begriff prekäre Privilegien als die gleichzeitig günstigen und aktuell in vielfältiger Hinsicht einschränkenden Bedingungen für die Realisie-rung eigener Wünsche und Interessen.

Im individuellen Erleben haben Privilegierung und Prekarisierung vielfältige Formen und Ur-sachen. Sie wirken sich auf die Möglichkeiten der eigenen Lebensgestaltung aus, betreffen den Zugang zu Ressourcen, soziale Teilhabemöglichkeiten und die Verweigerung oder Gewährung von gesellschaftlicher Anerkennung (vgl. Wachendorfer 2004: 123, Rommelspacher 1995: 90).

Privilegierung und Prekarisierung können gleichzeitig wirken, so dass Personen in verschiede-nen Aspekten ihres Lebens gleichzeitig gesellschaftlich begünstigt und eingeschränkt sein kön-nen. Dies verdeutlicht Raewyn Connell anhand der sozialen Konstruktion von Männlichkeit.

Connell argumentiert, dass Männlichkeit die dominante, machtvolle Position in hierarchischen Geschlechterverhältnissen darstellt, in sich selbst aber heterogen ist. Männer verschiedener so-zialer Gruppen, die, etwa im Kontext von Rassismus, diskriminiert oder bevorteilt sind, stehen demnach in einem Hierarchieverhältnis zueinander. Trotzdem können auch jene Gruppen von Männern, die dem zu einem Zeitpunkt vorherrschenden hegemonialen Ideal von Männlichkeit nicht entsprechen, von den Privilegien profitieren, die mit Männlichkeit als privilegierter Posi-tion in Geschlechterverhältnissen einhergehen (Connell 2005: 97–102). Für soziale PosiPosi-tionen gilt, dass „jeder und jede in bestimmter Hinsicht privilegiert und in anderer auch wieder diskri-miniert wird“ (Rommelspacher 1995: 90).

Die hier untersuchten prekären Privilegien sind Auswirkungen einer neoliberalen politisch-öko-nomischen Regulierung. Neoliberalismus basiert auf der Theorie, dass

„man den Wohlstand der Menschen optimal fördert, indem man die individuellen unternehmerischen Freiheiten und Fähigkeiten freisetzt, und zwar innerhalb ei-nes institutionellen Rahmens, dessen Kennzeichen gesicherte private Eigentums-rechte, freie Märkte und freier Handel sind“. (Harvey 2007: 8)

Neoliberale Politik geht mit einer Deregulierung, Privatisierung und dem Rückzug des Staates aus vielen Bereichen der Daseinsvorsorge einher (ebd.: 9). Dies führt zu vielfältigen Prekari-sierungsprozessen. Im Anschluss an Pierre Bourdieu verstehe ich Prekarisierung als umfas-sende gesellschaftliche Tendenz der „Errichtung einer zum allgemeinen Dauerzustand gewor-denen Unsicherheit“ (Bourdieu 1998: 100). Als Unsicherheitsbedrohung betrifft diese Unsi-cherheit auch jene, die Prekarität – im engeren Sinne von materieller ExistenzunsiUnsi-cherheit – noch nicht selbst erfahren haben. Sie durchzieht alle Lebensbereiche. Dies hängt damit zusam-men, dass soziale Infrastrukturen und Sozialleistungen so reformiert werden, dass die Eigen-verantwortung für die Lebenssituation und den Umgang mit Unsicherheit steigt, während sich sozioökonomische Ungleichheiten verschärfen. Im Zentrum der Prekarisierungsforschung stan-den lange Zeit die Erwerbsarbeit und die darüber vermittelte gesellschaftliche Teilhabe. Prekäre Erwerbsarbeit liegt vor,

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„wenn die Beschäftigten aufgrund ihrer Tätigkeit deutlich unter ein Einkom-mens-, Schutz- und soziales Integrationsniveau sinken, das in der Gegenwarts-gesellschaft als Standard definiert und mehrheitlich anerkannt wird“.

(Brinkmann/Dörre/Röbenack 2006: 17)

Robert Castel unterscheidet vier gesellschaftliche Zonen, die dem Sicherheitsniveaus entspre-chen, das eine Person durch Erwerbsarbeit erreicht: die Zone der Integration, die Zone der Ver-wundbarkeit, die Zone der Fürsorge und die Zone der Exklusion. In der Zone der Integration sind Existenzsicherheit und gesellschaftliche Teilhabe gegeben, in den anderen Zonen herr-schen in unterschiedlicher Intensität prekäre Beschäftigung und ein Ausschluss von sozialer Teilhabe vor (Castel 2000: 360–361).

Eine gesellschaftliche Zunahme von prekärer Beschäftigung geht mit der an alle Gesellschafts-mitglieder gerichteten Aufforderung einher, als „unternehmerisches Selbst“ zu handeln, das sich aktiv und selbstverantwortlich um den eigenen Markterfolg und um das erfolgreiche Be-stehen in immer weiteren Konkurrenzfeldern bemüht (Bröckling 2007). Dieses „Aktivierungs-paradigma“ geht so weit, dass die Einzelnen für ein verantwortungsvolles Handeln gegenüber sich und der Gemeinschaft in die Pflicht genommen werden, indem ein sozialer Unterstützungs-anspruch an ein marktrational definiertes verantwortliches Handeln geknüpft wird (Lessenich 2008). Ein wahrgenommener allgemeiner Anstieg prekärer Lebenslagen kann vor dem Hinter-grund dieser Individualisierungsdiskurse auch bei Privilegierten zu Abstiegsängsten und zu ei-nem Verlust von Lebenszufriedenheit trotz materiellem Wohlstand führen (Brinkmann/Dörre/Röbenack 2006: 62). Insbesondere wird hier eine Angst vor dem Verlust der Erwerbsarbeit und dem sozioökonomischen Status in Teilen der so genannten Mittelschicht verzeichnet (Lengfeld/Ordemann 2016). Ein solches, weit gefasstes Verständnis von prekären Privilegien umfasst auch Entfremdung. Mit dem Entfremdungserleben von Privilegierten, be-griffen als „Leid verursachende Störung in der Beziehung zwischen Subjekt und Welt“ (Rosa 2009: 38), befasst sich Hartmut Rosa. Er geht von einer ständigen Beschleunigungsdynamik des technischen und sozialen Wandels aus, wodurch das Arbeits- und Lebenstempo permanent gesteigert wird und soziale Beziehungen und Bezüge an Bedeutung verlieren. Letztlich können somit „soziale Verhältnisse auch dann gelingendes Leben vereiteln, wenn Wohlstand und Op-tionenvielfalt steigen“ (ebd.: 32).

Die lange auf bezahlte Arbeit fokussierte Prekarisierungsforschung wird mittlerweile um den Blick auf unbezahlte Arbeit erweitert. Insbesondere die Sorgearbeit und die Lebensführung werden in den Blick genommen (vgl. Manske/Pühl 2010, Motakef 2015). Die quantitativ dar-stellbare Bedeutung der unbezahlten Arbeit ist groß. In den Zeitverwendungserhebungen des Statistischen Bundesamtes aus den Jahren 2001/2002 und 2012/2013 werden hierunter Haus-halts- und Sorgearbeit in Familien sowie ehrenamtliches und freiwilliges Engagement gefasst.

Personen im erwerbsfähigen Alter in Deutschland leisten mehr unbezahlte als bezahlte Arbeit

(Statistisches Bundesamt 2015). In der letzten Erhebung waren es im Durchschnitt wöchentlich 20,5 Stunden entlohnter Arbeit (inkl. Arbeitssuche und Wegezeiten) sowie 24,5 Stunden nicht entlohnter Arbeit (ebd.: 7). Frauen arbeiten insgesamt länger als Männer, da sie deutlich mehr unbezahlte Arbeit leisten. Männer leisteten zuletzt 25 Wochenstunden Erwerbsarbeit und 19 Wochenstunden unbezahlte Arbeit, bei Frauen waren es 16 bezahlte und 29 unbezahlte Wo-chenstunden (ebd.: 7). Einen erheblichen Anteil an der unbezahlten Arbeit nimmt die Sorgear-beit ein. Ihre Funktion im Kapitalismus ist die Reproduktion von ArSorgear-beitskraft. Die subjektive Bedeutung der Sorgearbeit, die synonym auch als Care-Arbeit bezeichnet wird, liegt darin, dass sie der unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung dient (Winker 2015a: 22). Sorgearbeit ist perso-nenbezogen, sie findet in Situationen von Abhängigkeit und Angewiesenheit statt, die häufig asymmetrisch sind, insofern als die Beteiligten unterschiedlich oder einseitig füreinander sor-gen bzw. aufeinander angewiesen sind (Knobloch 2009: 13). An Gabriele Winker anschließend lässt sich der Erwerbs- und Sorgearbeit die Muße als Nicht-Arbeit, das heißt als zweckfreie Tätigkeit, gegenüberstellen (Winker 2015a: 19).

Eine zentrale Ursache der Prekarisierung von Sorgearbeit ist in der Ablösung des fordistischen Leitbildes der Ernährer- und Hausfrauenehe durch das neoliberale Adult-Worker-Modell zu se-hen. Dem Leitbild des Adult Worker bzw. der „individualisierten Erwerbsbürger_in“ (ebd.: 60) folgend, soll jede erwerbsfähige Person ihren Lebensunterhalt vollständig durch Erwerbstätig-keit sichern und daneben die Sorge- bzw. Reproduktionsarbeit20 für sich und andere leisten. Zur Durchsetzung dieses Modells werden Anreize zur Erwerbsarbeit insbesondere für Mütter ge-setzt und Transferleistungen für unbezahlte Sorgearbeit- bzw. Reproduktionsarbeit werden re-duziert (vgl. Lewis 2004, Oschmiansky/Kühl/Obermeier 2014, Leitner 2013). Eine existenzsi-chernde finanzielle Unterstützung für familiäre Kinderbetreuung und Pflege ist nicht vorgese-hen (Winker 2015a: 27–54). Gleichzeitig steigen die Anforderungen an die Sorgearbeit. So ar-gumentieren Gabriele Winker und Tanja Carstensen, dass auch hier, analog zur Erwerbsarbeit,

„Selbst-Kontrolle, Selbst-Ökonomisierung und Selbst-Rationalisierung“ gefordert sind (Winker/Carstensen 2007: 282). Damit meinen sie die Orientierung an Leistung und Effizienz und die Anforderung an ökonomisch-strategisches Kalkül in der Familienplanung und der Ge-staltung des gesamten Lebens (ebd.).

20 Die Begriffe Sorge- und Reproduktionsarbeit verwende ich synonym. Hierbei schließe ich an die Definition von Reproduktionsarbeit von Gabriele Winker an und verstehe darunter „die unter den jeweiligen kapitalis-tischen Bedingungen zur Reproduktion der Arbeitskraft notwendigen Tätigkeiten, die nicht warenförmig, son-dern ausschließlich gebrauchswertorientiert in familialen und zivilgesellschaftlichen Bereichen geleistet wer-den“ (Winker 2015: 18). Dies umfasst die Selbstsorge und die Versorgung von Kindern und Alten, also zukünf-tigen und ehemaligen Erwerbstäzukünf-tigen (ebd.).

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Die daraus resultierende Prekarisierung von Sorgearbeit bedeutet, dass Einzelnen nicht genug Zeit und Ressourcen für die Sorge für sich und andere zur Verfügung stehen. Dies betrifft po-tenziell alle sozialen Gruppen. Kerstin Jürgens spricht daher von einer „Reproduktionskrise“

und meint damit, dass durch die steigenden und zunehmend unvereinbaren Anforderungen an die Reproduktionsarbeit sowie die mangelnde staatliche Unterstützung von unbezahlt Sorgear-beitenden mittlerweile in vielen gesellschaftlichen Gruppen zu wenig Zeit und Ressourcen für den Erhalt der Arbeitskraft zur Verfügung stehen (Jürgens 2010: 581). Ähnlich argumentiert Gabriele Winker in der Analyse einer „Krise sozialer Reproduktion“. Sie zeigt, dass Menschen zwar unterschiedlich stark existenziell bedroht sind, sich jedoch durch einen zugespitzten Wi-derspruch zwischen Profitmaximierung und der Reproduktion von Arbeitskraft die Bedingun-gen der Sorgearbeit für alle sozialen Gruppen verschlechtern (Winker 2015a: 115).

Hier kommen der Alltag und die Lebensführung in den Blick. Lebensbereiche wie etwa Beruf und Familie sind als Ergebnis historischer Prozesse sozial, räumlich und zeitlich voneinander getrennt (Kratzer/Lange 2006: 171). Gleichzeitig ist es eine notwendige, individuell zu leis-tende Aufgabe, „eigene Interessen sowie Anforderungen aus und Bedingungen in unterschied-lichen Lebensbereichen in Einklang“ zu bringen (Bolte 1995: 21, vgl. auch Jurczyk/Rerrich 1993, Voß 1995). Der forcierte Bedeutungsverlust des Ernährer- und Hausfrauenmodells führt dazu, dass eine aktive Gestaltung des Verhältnisses der Lebensbereiche zueinander zu einer normalen Herausforderung – zumindest für Erwerbstätige mit Kindern – geworden ist. Es hat sich eine hochgradig individualisierte Anforderung herausgebildet, das Verhältnis der Sphären Erwerbsarbeit und Familie zueinander zu gestalten (Jurczyk et al. 2009: 61). Winker und Carstensen sprechen hier von der Figur der „ArbeitskraftmanagerIn“ (Winker/Carstensen 2007: 281). Dabei sind auch unter materiell Privilegierten insbesondere die Menschen, die Sor-geverantwortung für andere übernehmen, zeitlich enorm belastet.

Der Zeitaufwand für bezahlte und unbezahlte Arbeit ist bei Alleinerziehenden und Paaren mit Kindern zehn Stunden höher als bei Erwachsenen in Haushalten ohne Kinder. Der Unterschied ist umso größer, je jünger die Kinder sind (Statistisches Bundesamt 2015: 8–9). Laut Zeitver-wendungsstudie „sind 32 % der Väter und 19 % der Mütter in Alleinerziehenden- und Paar-haushalten der Meinung, nicht ausreichend Zeit für ihre Kinder zu haben.“ (ebd.: 10). Eltern leiden unter Zeitmangel für die Kinder, obwohl sie die Selbstsorge und andere eigene Interessen hinter der Versorgung und Betreuung der Kinder zurückstellen. Mehr als die Hälfte der Eltern wünscht sich mehr Zeit für die Partnerschaft, für Freund_innen und für sich selbst (Jurczyk/

Heitkötter 2012: 32). Über die Hälfte der Väter und ein Drittel der Mütter möchte dafür weniger Stunden für Erwerbsarbeit aufwenden (Statistisches Bundesamt 2015: 11).

Die vorliegende Untersuchung stellt die Frage, wie sich die hier dargestellten Prekarisierungen im Leben von Privilegierten auswirken. Prekarisierung erfasst alle Lebensbereiche. Die hier

eingenommene Forschungsperspektive auf den Alltag umfasst sowohl einzelne Lebensbereiche mit ihren jeweiligen Anforderungen, als auch die unterschiedlichen Praxen, diese miteinander zu vereinbaren.

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